Kapitel 10

Ein dichter Menschenstrom ergoss sich in die alte Natursteinkirche. Im Sommer posierten hier Touristen für Fotos. Es gab sogar noch eine Originalglocke aus der Entstehungszeit, die zu jeder vollen Stunde schlug. Die Kirche war groß genug für die Bevölkerung unserer kleinen Stadt und der drei Nachbarorte. Heute waren wahrscheinlich fast alle da.

In der Kirche fühlte ich mich nicht wohl. Das ging mir nicht in allen Kirchen so, nur in dieser. Mum meinte, sie sei klassisch, Dad nannte sie historisch, aber beide Adjektive waren nur eine Umschreibung für alt. Ich mochte keine alten Sachen. Altes zerfiel und vermoderte. Decker war vor einigen Jahren im Sommerurlaub in Griechenland gewesen und hatte mir Reisefotos gezeigt.

»Sind die nicht fantastisch?«, hatte er gefragt und auf die Ruinen aus der Antike gedeutet.

»Fantastisch«, hatte ich zugestimmt, mich dabei aber ganz benommen gefühlt. Ruinen waren Erinnerungen an etwas, das es nicht mehr gab. Sie erinnerten uns daran, dass alles, was gewesen ist, irgendwann vergangen sein würde. Auch ich. Vergangen und vergessen.

Alt ist gefährlich. Irgendwann würde auch unser Haus alt sein. Die dritte Stufe unserer Treppe hatte zuerst nur leicht geknarrt, doch im Laufe der Jahre hatte sich das Knarren zu einem ächzenden Stöhnen entwickelt. Seitdem übersprang ich diese Stufe. Eines Tages würde der Zerfall beginnen, bis das Haus nur noch eine Ruine wäre.

Ich erkannte die Ironie. Es war das Neue, das mich fast getötet hätte. Eis, das sich gerade erst gebildet hatte, nicht stabil genug, um mein Gewicht zu tragen. Ich konnte den Gedanken nicht abschütteln.

Als ich vor etlichen Monaten das letzte Mal beim Gottesdienst gewesen war, hatte ich die meiste Zeit nach oben gestarrt. Nicht zu Gott, sondern zu den Dachsparren. Ich suchte nach Zeichen von Verfall. Ich wusste, wo die Notausgänge waren, falls die Mauern um uns herum einstürzen würden.

Alte Leute mochte ich auch nicht besonders. Nichts gegen sie persönlich, aber wie alles andere würden auch sie zerfallen und vermodern. Sie erinnerten mich daran, was aus mir einmal werden würde, und auch an das Danach. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ich Dads Eltern näher kennengelernt hätte, aber so richtig war das nicht möglich gewesen. Sie wohnten in Florida und kamen im Sommer zu Besuch, während wir Weihnachten zu ihnen fuhren. Aber seit sich meine Großmutter vor drei Jahren die Hüfte gebrochen hatte, fiel der Sommerbesuch aus. In diesem Jahr hatten meine Eltern beschlossen, dass es sicherer war, wenn wir auch auf die Reise nach Florida verzichteten. Viele Dinge waren nicht mehr sicher.

Als die alten Leute vor der Kirche aus den Bussen stiegen, versteckte ich mich hinter Dad. Der erste Bus kam aus dem Nachbarort, in dem Dad arbeitete, deshalb hatte er sein Buchhaltergesicht aufgesetzt. Er grüßte einige Kunden, während ich hinter seinem breiten Rücken Schutz suchte. Arthritische Hände streckten sich aus, um mir auf die Schulter zu klopfen. Gesichter spähten um Dad herum, aber ich schaute weg. Mum nannte ihre eigenen Falten »Lachfältchen«, doch die alten Leute hatten Runzeln auf der Stirn, die sich tief in die Haut gegraben hatten. Selbst wenn sie mir zulächelten, konnte ich das Stirnrunzeln erkennen, das sich direkt unter der Oberfläche versteckte.

Ich bekam wieder dieses stechende Gefühl wie eine Gänsehaut in meinem Gehirn. Ein Schaudern von innen. Ich blickte zu Boden und rief »Frohe Weihnachten«, in der Hoffnung, dass der heitere Klang meiner Stimme mein unhöfliches Verhalten aufwiegen würde.

Dann hörte ich eine wesentlich jüngere Stimme.

»Hallo, Mr Maxwell.«

Ich schielte hinter Dads Rücken hervor.

»Hi, Delaney.«

»Schön, dich wiederzusehen, Troy«, sagte Dad.

Mum musterte Troy aufmerksam. Sie nahm die dunkle Jeans, die schwarze Lederjacke und die schwarzen Turnschuhe unter die Lupe und hakte dabei in Gedanken alle Punkte ab, die nicht einer angemessenen Festtagsgarderobe entsprachen. »Oh, Troy, ich habe schon so viel von dir gehört«, sagte Mum und nahm seine Hand. Peinlich, denn ich hatte ihn nur einmal erwähnt. Ich warf ihr einen wütenden Blick zu, aber sie beachtete mich gar nicht.

»Wo sind deine Eltern? Ich würde sie gern begrüßen«, sagte sie stattdessen.

Troy sah sie entgeistert an und ich kniff Mum von hinten fest in den Arm.

»Aua, Delaney, was ist denn los?« Sie rieb sich die schmerzende Stelle.

»Später«, formte ich mit dem Mund.

Troy bemerkte es und sagte: »Schon okay, Delaney versucht nur, Ihnen zu sagen, dass Sie meine Eltern nicht erwähnen sollten, weil sie tot sind. Aber das ist in Ordnung, wirklich.«

Mum sog hörbar die Luft ein. »Das tut mir sehr leid.«

»Ist nicht Ihre Schuld.«

Ihre feuchten Augen blickten auf die Menschenmenge hinter ihm. »Bist du mit jemandem hier?«

Troy schaute zu Boden. »Nein, Ma’am.«

Sie straffte die Schultern und klatschte in die Hände. »Nun, dann kommst du jetzt mit uns in die Kirche.« Problem geklärt.

Wir gingen die Treppe hinauf und ich beugte mich zu Troy hinüber. »Was machst du hier?«

»Ich? Ich komme jede Woche hierher. Und du

»Oh.« Wir Maxwells werden an zwei Tagen im Jahr zu praktizierenden Katholiken: am Weihnachtsabend und an Ostern. Obwohl heute kaum zählte, denn ehrlich gesagt hörten wir nur dem Kinderchor und dem Pfarrer zu, der uns ein paar Weihnachtsgeschichten erzählte.

Wir setzten uns in den Mittelgang, fünfzehn Reihen vom Kruzifix entfernt. Von weiter vorn spürte ich ein Ziehen. Ich schaute zu Troy.

Er nickte mir zu und flüsterte: »Zweite Reihe. Die Frau mit dem blauen Schal.«

Ich reckte den Hals und dann sah ich sie. Tiefe Falten zogen sich über ihr Gesicht bis hinunter zum Hals. Den blauen Schal hatte sie sich um den Kopf gewickelt, ihre knochigen Schultern ragten unter einem schwarzen Umschlagtuch hervor.

»Es ist nicht sehr stark«, sagte ich.

»Noch nicht.«

»Meinst du, wir können ihr helfen?«

»Schau sie dir an. Sie hat Krebs. Das Einzige, was wir tun können, ist, ihre Schmerzen zu lindern.« Seine Stimme klang, als würde ihm allein ihr Anblick körperliche Schmerzen bereiten. Ich lehnte mich an ihn, während wir darauf warteten, dass der Chor zu singen begann.

»Delaney«, sagte meine Mutter von der anderen Seite, »zieh deine Jacke aus. Es ist ziemlich warm hier.«

Ich erstarrte. Mein Festtagsstaat, den sie mir zu diesem Anlass ausgesucht hatte, war ärmellos. Keine Möglichkeit, den Verband an meiner Hand zu verstecken.

Troy sah mich an und schien meine Gedanken lesen zu können. »Warte, ich helfe dir.« Er zog den Ärmel meiner Jacke langsam herunter, nahm meine rechte Hand zwischen seine Hände und legte sie in seinen Schoß.

Mum schaute auf meine Hand in Troys Schoß und ich spürte die Röte von meinem Nacken bis in mein Gesicht kriechen. Aber sie sagte kein Wort. Sie räusperte sich und schaute wieder zur Kanzel, als der Gesang einsetzte.

Mit gen Himmel gewandten Gesichtern sang der Kinderchor »Stille Nacht« und »Hört die Engelschöre singen«. Mit diesen Klängen im Ohr, der Wärme in der Kirche und Troys Händen um meiner wusste ich genau, dass er Unrecht hatte: Das konnte auf keinen Fall die Hölle sein.

Nachdem ich nach der Messe meine Jacke wieder angezogen hatte und wir uns mit der Menge nach draußen geschoben hatten, legte Mum Troy auf dem Parkplatz eine Hand auf die Schulter. »Was machst du an Weihnachten, Troy?«

Er hatte sich gerade umgedreht und der Frau mit dem blauen Schal nachgeschaut, die zum Bus gegangen war. Ihre Wangen waren eingefallen und ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Der Busfahrer musste ihr die Stufen hinaufhelfen.

Dann wandte sich Troy zu uns. »Dort, wo ich arbeite, gibt es eine Mitbringparty.«

»Eine Mitbringparty?« Aus Mums Worten sprach eine gewisse Abscheu, als könnte sie sich für Weihnachten nichts Schrecklicheres vorstellen. »Komm doch morgen zum Essen zu uns. Um drei.«

»Oh, das geht nicht. Ich könnte nicht …« Er wandte den Kopf und sah zu, wie sich die Türen des Busses schlossen.

»Wir bestehen darauf«, sagte Mum.

Troy schaute uns alle an. »Danke für das Angebot, aber …«

»Bitte komm«, sagte ich.

Unsere Blicke trafen sich, das Wort Nein lag auf Troys Lippen, dann drehte er sich noch einmal zu dem Bus um, der sich langsam in Bewegung setzte. Troy kniff die Augen zusammen, während der Bus vom Parkplatz rollte und am Ende der Straße verschwand.

»Okay«, sagte er, sonst nichts. Dann wirbelte er herum und rannte zu seinem Auto.

Kurz darauf saß ich auf der Rückbank in Dads Wagen und schloss die Augen. Ich konnte damit umgehen. Mit Troy an meiner Seite konnte ich damit umgehen. Mum drehte sich auf dem Beifahrersitz zu mir um.

»Wie alt ist er, Delaney?«

»Wer?«

»Troy. Ich meine, er hat doch von einem Arbeitsplatz erzählt. Weißt du, wie alt er ist?«

»Neunzehn.«

»Und bei wem wohnt er?«

»Keine Ahnung.« Ich sah aus dem Seitenfenster. Wenn sie wüsste, dass er allein wohnt, dürfte ich ihn garantiert nicht mehr besuchen, es sei denn, es war noch jemand dabei. Ich würde nie wieder das Auto bekommen, ohne ihr zu sagen, wohin ich wollte. Ich würde nie wieder mit dem einzigen Menschen sprechen können, der wusste, was mit mir los war. Ich säße in der Falle. Die Hände ans Bett gefesselt, vollgepumpt mit Schlaftabletten. Gefangen.

»Gibt es etwas, worüber wir reden müssen?«, fragte sie mit gesenkter Stimme.

»Oh mein Gott«, sagte ich und Dad stöhnte auf.

Mum drehte sich wieder nach vorn. »Entschuldige bitte, ich habe nur das ausgesprochen, was wir alle denken.«

»Er hat Mitbewohner.« Ich sprach so leise, dass man es kaum als Lüge werten konnte. Das hoffte ich jedenfalls.

Ich ersetzte die Mullbinde durch ein breites Pflaster. »Ich habe mich beim Geschenkeeinpacken geschnitten«, erklärte ich Mum, als sie mich wegen der Verletzung ansprach.

Ganz früh am Weihnachtsmorgen packten wir unter unserem Plastikweihnachtsbaum die Geschenke aus. Ich bekam etwas zum Anziehen und ein neues Handy, als Ersatz für das, was am Boden des Falcon Lake lag. Dads Eltern hatten mir fünfzig Dollar geschickt, was mein Guthaben auf dreiundfünfzig Dollar erhöhte. Mum trug ihren neuen Pulli, der angezogen gar nicht so übel aussah. Ein weiteres kleines Wunder in meinem Leben.

Ich schleppte alles hoch in mein Zimmer, stopfte die neuen Klamotten in den Schrank und fand mich damit ab, dass mir die alten Sachen einfach nicht mehr passten. Ich räumte sie aus und warf sie auf den Boden.

Als ich gerade dabei war, den Kleiderhaufen durchzusehen, klopfte es an der Tür.

»Komm rein.«

Decker öffnete die Tür, blieb aber auf der Schwelle stehen. Ich verharrte vor meinem Schrank.

»Fröhliche Weihnachten«, sagte er. Er rollte über die Fußballen auf die Fersen und nach einem kurzen Moment des Nachdenkens betrat er mein Zimmer. Dann schloss er die Tür und blieb dort stehen. »Also wegen neulich Abend …«

»Lass es einfach«, schnitt ich ihm das Wort ab. Ich würde nur etwas Dummes sagen und er etwas noch Dümmeres antworten. Ich wollte die Dinge in Ordnung bringen. Ich wollte, dass alles wieder normal war. Bevor er noch etwas hinzufügen konnte, sagte ich deshalb: »Ich hab was für dich.« Ich kramte unter meinem Bett herum und zog das Geschenk heraus.

Er setzte sich auf die zerwühlte Bettdecke und schielte auf das Geschenkpapier. »Hast du versucht, hier was zu zeichnen?«

»Na ja, es waren Christbäume drauf, das ist der Weihnachtsteil. Und Sterne. Die habe ich in, du weißt schon, diese jüdischen Sterne verwandelt. Das ist dann sozusagen der Chanukkateil.«

»Davidsterne. Wow, Delaney. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das wäre doch nicht nötig gewesen.«

Ich setzte mich ebenfalls aufs Bett, aber weiter weg von ihm als sonst. »Mach schon auf.«

Vorsichtig riss er das von mir verunstaltete Geschenkpapier auf.

»Es ist ein T-Shirt«, platzte ich heraus, noch bevor er das Päckchen ganz geöffnet hatte. »Ich weiß ja, dass du Überraschungen hasst.«

Er lächelte und faltete das Shirt auseinander. »Witzig«, sagte er.

Ich hatte es im T-Shirt-Shop im Einkaufszentrum entdeckt, in dem ich noch nie zuvor gewesen war und den ich wahrscheinlich auch nie wieder betreten werde. Es war weiß und hatte das Bild eines üppig belegten Sandwichs auf der Brust, über dem in hellblauen Buchstaben das Wort »Held« stand. Er zog es über sein Sweatshirt.

Dann stand er auf und griff in seine hintere Hosentasche. »Ich wusste nicht, wie ich sie einpacken sollte, ohne dass du sie beim Auspacken zerrissen hättest.« Er reichte mir zwei Theaterkarten. »Les Misérables«, sagte er. »Meine Mutter hat in der Zeitung gelesen, dass es in Bangor aufgeführt wird. Sie wusste, dass das Buch auf unserer Leseliste für das nächste Halbjahr steht.«

Wir schauten beide auf das immer noch aufgeschlagene Buch auf meinem Schreibtisch. Er schenkte mir die Karten, weil er mir nicht mehr vorlesen würde. Er würde nicht mehr im Schneidersitz neben meinem Bett sitzen und die Seiten umblättern, während ich auf die Planeten starrte, die sich über meinem Kopf drehten.

»Die Aufführung ist morgen«, sagte er. »Ich habe vor ein paar Tagen mit deinen Eltern gesprochen und sie sind einverstanden. Ich kann mit dir hingehen, wenn du magst, aber du kannst auch jemand anderes mitnehmen.«

»Hast du denn Zeit?«

»Hab ich. Wenn du willst, hol ich dich um sechs ab.«

Als er ging, lächelte ich seinem Rücken zu. Wir konnten die Zeit zurückdrehen. Wir hatten es schon mal geschafft und konnten es wieder tun.

Kurz vor drei kam Troys Auto lautstark vor unserem Haus zum Stehen. Er hatte sich schick gemacht, die Haare aus dem Gesicht gekämmt und ein kastanienbraunes Langarmshirt angezogen. Dazu trug er Jeans, okay, aber immerhin sah er ordentlicher aus als sonst.

Ich sah ihn die Treppenstufen hinaufsteigen. Ich wusste, dass er vor der Tür stand, aber er klingelte nicht. Ich wartete noch einige Sekunden, doch die Klingel blieb stumm. Deshalb öffnete ich die Tür und sah, dass er sich gerade umgedreht hatte und die Treppe wieder runtergehen wollte.

»Wo willst du hin?«

»Ich dachte, ich wäre vielleicht zu früh.«

Es war vier Minuten vor drei.

»Komm rein. Das Essen ist noch nicht fertig, aber die Vorspeise steht schon auf dem Tisch. Es gibt Shrimps.«

Etwas unbeholfen standen wir am Wohnzimmertisch, tunkten die Shrimps in eine Schüssel mit Cocktailsauce und legten die Schalen in ein Keramikschüsselchen.

Mum kam mit Servietten aus der Küche. »Oh, Troy, ich habe dich gar nicht kommen hören! Was möchtest du trinken? Apfelsaft? Limo? Ach, und ich habe gerade einen Eierpunsch gemacht. Delaney findet ihn eklig, aber sie mochte ihn noch nie.«

Troy sah stirnrunzelnd zu Mum und dann wieder auf die Shrimps.

»Das Zeug schmeckt wirklich eklig«, sagte ich. »Lass dich bloß nicht drängen, diesen Punsch zu probieren.«

Mum tat so, als würde sie mir einen Klaps auf den Hinterkopf geben.

»Eierpunsch klingt gut«, sagte Troy.

Mum lächelte und ging in die Küche, um ihm ein Glas zu holen.

»Sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Troy lächelte mich an, aber es tat weh, ihn so zu sehen. Ich fragte nicht, ob es ihm gut ging. Natürlich ging es ihm nicht gut. Er verbrachte Weihnachten mit Fremden.

Wir aßen gerösteten Schinken mit Bananenbrot, Kartoffelbrei und grüne Bohnen. Troy sagte »bitte« und »danke sehr« und »Können Sie mir bitte das Salz reichen«, aber sonst fast nichts.

»Kommst du aus der Gegend, Troy?«, fragte Dad, um mit ihm ins Gespräch zu kommen.

»Nein, aus San Diego.«

»Dann muss dieses Klima ja ein richtiger Schock für dich gewesen sein.«

»Delaney meinte, du wohnst mit Freunden zusammen. Bist du deshalb hergezogen?«, fragte Mum.

Mir war sofort klar, dass sie versuchte, mehr über seine Wohnsituation herauszufinden. Troy grinste mich an. Er ahnte wohl, warum ich gelogen hatte. Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief, doch er sagte ganz ungezwungen: »Anfangs kannte ich sie nicht, das sind Leute aus der Schule.«

Mum stutzte einen Moment, schien mit seiner Antwort aber zufrieden zu sein. »Was hat dich dann in unsere Breiten verschlagen?«

»Nun ja, nach allem, was passiert war, wollte ich einfach weg. Weg von den Blicken der Leute. Weg von den Erinnerungen. Und weiter als hierher kam ich ohne Pass nicht.«

Mums Blick, der nun auf ihm ruhte, war genau der, den er so hassen musste.

Dad räusperte sich. »Und wo arbeitest du?«

»Im Heim für Betreutes Wohnen in der Stadt. Abends lerne ich für mein Krankenpflegerhelferexamen.«

»Gute Sache«, sagte Dad. »Du brauchst eine ganze Menge Energie, um es allein durch die Schule zu schaffen. Delaneys Mutter hat auch die Abendschule besucht.«

»Für so einen Job muss man gemacht sein«, sagte Mum und nickte. »Wie bist du gerade darauf gekommen?«

Troy schob die grünen Bohnen auf seinem Teller hin und her. »Ich mag es nicht, wenn Menschen leiden müssen.«

Mum ließ die Gabel sinken. »Troy, du hast unsere Nummer, nicht wahr? Wenn du irgendetwas brauchst, ruf einfach an. Egal, was es ist. Klar?«

Er sah sie aus undurchdringlichen Augen an. »Ja, Ma’am.«

»Und lass dieses Ma’am. Ich bin Joanne, so nennen mich Delaneys Freunde alle. Ron, räumst du bitte ab? Die Pasteten sind bestimmt gleich fertig und die Martins kommen sicher auch bald.«

Oh nein, die Martins. Dads Sekretärin und ihre Familie. Dazu gehörten vierzehnjährige Zwillingsmädchen, die ununterbrochen redeten und grell geschminkt waren, ein Abklatsch ihrer stets aufgedonnerten Mutter.

Dad räumte den Tisch ab und Troy starrte auf die weiße Tischdecke. Dann schob er abrupt den Stuhl zurück, ging rasch auf meine Mutter zu und sagte: »Mrs … Joanne? Es tut mir leid, aber ich muss gehen. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass meine Kollegen diese Mitbringparty veranstalten. Ich habe versprochen, beim Nachtisch dabei zu sein.«

»Okay, kein Problem. Frohe Weihnachten.« Mum legte die Arme um Troy und zog ihn an sich. Egal, was ich von meiner Mutter halte, manchmal weiß sie ganz genau, was das Richtige ist, und das war einer dieser Momente.

Troy sah mich nicht an, als er ging. Er nahm seine Jacke und verschwand. Als er die Haustür öffnete, drang kalte Luft herein, die mich bis ins Innerste frösteln ließ. Ich ging zum Vorderfenster und beobachtete, wie er in sein Auto stieg. Aber er fuhr nicht gleich los. Er blieb einfach sitzen und legte den Kopf zurück, während sich sein Atem in Dunstwölkchen verwandelte. Ich musste an all die Menschen denken, denen er half, wenn es ihnen schlecht ging. Unwillkürlich griff ich nach meiner Jacke und den Stiefeln.

»Delaney, lass ihn«, sagte Mum.

Doch ich ignorierte sie. Ich lief rasch in die Küche, nahm eine Pastete und wickelte sie in Folie. Sie war so heiß, dass ich mir die Finger daran verbrannte. Dann raste ich zur Haustür.

»Es soll ihm auch nicht schlecht gehen«, sagte ich. »Vor allem heute nicht.«

Mum machte einen Schritt auf mich zu, aber Dad legte seine Hand auf ihre Schulter und sie ließen mich gehen.

»Also?«, sagte ich, nachdem ich zu ihm ins Auto gestiegen war. »Worauf wartest du noch? Die Pastete wird kalt.«

Troy öffnete den Mund und starrte mich an. Dann grinste er und startete den Wagen.

Wir aßen die Pastete in seiner Pseudoküche. Ich korrigiere: Ich aß und er sah mir zu. Als ich es bemerkte, hielt ich inne. »Du kannst sie auch morgen essen, wenn du jetzt keinen Appetit mehr hast. Du musst sie nur wieder aufwärmen. Bei etwa 175 Grad.«

»Ich weiß, wie man kocht«, sagte er.

»Oh.« Ich nahm den Lappen, der über dem Wasserhahn an der Spüle hing, und begann, unsichtbare Flecken auf der Arbeitsplatte wegzuwischen. Ich spürte ihn direkt hinter mir und begann noch stärker zu reiben. Dabei fragte ich mich, ob auch Mum ständig die Arbeitsplatte putzte, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit ihren Händen machen sollte.

»Ich glaube, sie ist jetzt sauber«, sagte er und legte seine Hand auf meine.

Ich zog sie sofort weg und fand etwas anderes zum Wegwischen. »Fast«, sagte ich. Ich wusste, dass er mich ansah, ich wusste, dass mein Gesicht feuerrot anlief, und ich wusste, dass er in der Stille der Wohnung meinen Herzschlag hören musste. Denn da waren wir. In seiner Wohnung. Allein.

»Warum machst du das? Weil du weißt, dass ich dich küssen werde und du deshalb Angst hast? Oder weil du weißt, dass ich dich küssen werde und du das nicht willst?«

Ich lachte nervös die Arbeitsplatte an. »Du wirst mich küssen?«

»Logo. Du weißt, dass ich dich mag. Du weißt, dass ich dich will.«

Ich fuhr herum und presste meinen Rücken gegen den Tresen. »Du willst mich?«

Troy kam sofort auf den Punkt. Im Gegensatz zu Decker. Wir umkreisten uns, keiner sagte, was er wirklich meinte. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr.

»Du tust so, als wäre das eine völlig absurde Idee.«

Ich schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. »Du willst mich nur, weil wir uns ähnlich sind.« Dabei deutete ich auf meinen Kopf, um ihm zu zeigen, was genau an uns ähnlich war.

»Nur zum Teil«, sagte er. Er war nicht näher gekommen, aber auch nicht zurückgewichen. »Natürlich auch, weil du hübsch bist. Und weil du mir die Pastete gebracht hast. Und weil du den Mann in dem brennenden Haus retten wolltest. Aber vor allem, weil du das Gute in mir siehst.«

Alles stand still. Mein Gehirn, meine Fähigkeit, vernünftig zu denken und Entscheidungen zu treffen, sogar meine Hand mit dem Lappen. Mir wurde ganz warm, von den Zehen bis in die Fingerspitzen, dabei hatte er mich noch nicht einmal berührt.

»Also, ich weiß nicht genau, was es ist. Und du? Willst du oder willst du nicht?«

Troy war ganz anders als Decker. Decker gab mir immer Zeit, Zeit zum Nachdenken und zum Antworten. Troy redete einfach weiter und füllte die Stille, sodass ich gar nicht mehr mitkam. Aber es war sowieso zu spät, um etwas zu sagen, denn er küsste mich bereits.

Seine Hände ruhten auf meiner Hüfte und sein Mund öffnete sich direkt über meinen Lippen. Es fühlte sich nicht so locker und sicher an wie bei Carson. Es war, als könnte alles passieren, als wäre das hier nur der Anfang, und ich hatte keine Ahnung, was in zehn Sekunden geschehen würde. Er schob seine Hände unter meinen Pulli, sie wanderten meinen Rücken hinauf – seine warmen Hände auf meiner nackten Haut. Ich beugte mich zu ihm und er drückte mich sanft aus der Küche, ohne dass sich unsere Körper trennten.

Dann holte mich mein Hirn wieder ein und machte mir klar, dass es nur zwei Ziele geben konnte: die Couch oder das Schlafzimmer. Und plötzlich hatte ich Angst, weil mir auffiel, dass ich eigentlich gar keine Angst hatte, denn seine Lippen waren immer noch auf meinen und seine Hände streichelten immer noch meinen Rücken.

Deshalb schob ich ihn von mir weg und schnappte nach Luft. »Es ist Weihnachten, ich muss nach Hause«, sagte ich, in der Hoffnung, das würde alles erklären.

»Okay.« Aber Troy ließ seine Hände, wo sie waren. Erst als ich mich ganz von ihm löste, ließ er die Arme sinken.

Auf der Fahrt nach Hause sah ich ihn nicht einmal an. Als ich endlich aussteigen konnte, sagte er mit einem albernen Lächeln: »Mach’s gut, Delaney.«

Ich wandte mich rasch ab, damit er nicht mitbekam, dass ich genauso albern lächelte. Ich konnte einfach nicht aufhören zu lächeln. Nicht einmal die Tatsache, dass die Martins bei uns zu Hause waren, konnte mich davon abhalten. Nichts. Ich lächelte immer weiter – bis ich Taras absolut nicht wintertauglichen roten Sportwagen in Deckers Einfahrt stehen sah.