Kapitel 16

Als wir nach Hause kamen, schien Mum noch weiter geschrumpft zu sein. Sie stand im Eingang ihrer blank geputzten Küche, die Hände in die Taille gestützt. Sie nickte sich zu, nahm einen Scheuerlappen und ein Desinfektionsmittel und begann zu schrubben. Eine Hand umklammerte den Lappen, die andere die Arbeitsplatte, sie wischte energisch. Und dann wechselte sie die Seite und wischte dort, wo ihre Hand einen imaginären Fleck hinterlassen hatte.

»Ich gehe zu Decker«, sagte ich.

Sie wischte weiter.

Deckers Auto stand in der Einfahrt, aber auf mein Klingeln reagierte niemand. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und sah mich um. Dann ging ich um das Haus herum und schob den Schnee unter dem größten der immergrünen Büsche zur Seite. Dann hob ich den grau-schwarz gesprenkelten Stein hoch und nahm den Ersatzschlüssel, der auf der durchgefrorenen Erde lag.

Ich schloss auf, öffnete die Tür und rief: »Decker?« Sein Name hallte von den Holzböden und den nackten Wänden wider. Sein Zimmer lag wie meins im ersten Stock, die zweite Tür auf der linken Seite. Ich klopfte, aber niemand antwortete. Die Tür quietschte, als ich sie öffnete und meinen Kopf ins Zimmer streckte: »Decker?«

Nichts. Ich öffnete die Tür weiter, bis sie gegen die blau gestrichene Wand schlug, ein weiteres Echo, das die Stille eines leeren Hauses durchbrach. Er war nicht da. Die Vorhänge waren zurückgezogen, sein Bett war gemacht. Aber nicht von Decker. Er hatte die Nacht nicht zu Hause verbracht, es sei denn, er wäre aufgestanden, bevor seine Mutter zur Arbeit gegangen war (was höchst unwahrscheinlich war).

Ich ging zu seinem Schreibtisch und warf einen Blick darauf. Da lag sein Zeugnis, alles Zweier, sein bestes Jahr bisher. Das hatte er mir gar nicht erzählt. Und da war sein neuer Stundenplan. Ob ich meinen auch schon hatte? Egal. Ich zog die oberste Schublade auf, in der er Erinnerungsstücke aufbewahrte, alte Konzertkarten und Zeitungsausschnitte seiner Wettkämpfe. Es war alles noch da. Und obendrauf lag mein Foto. Nicht einfach irgendein Foto. Mein Foto. Ein Bild von mir und Decker, das sonst auf meinem Schreibtisch stand.

Er musste es mitgenommen haben, was eigentlich süß von ihm war, wenn man von der Tatsache absah, dass er es in seiner Erinnerungsschublade aufbewahrte. Ich war bei den Dingen gelandet, die er sich gelegentlich anschaute, um sich an den Spaß zu erinnern, den er damit gehabt hatte. Ich steckte das Bild hinten in meine Jeans, überlegte es mir dann aber anders und legte es wieder in die Schublade zurück.

Ein roter Sportwagen fuhr in die Einfahrt. Die Beifahrertür öffnete sich, Musik schallte heraus und Decker stieg aus. Danach brauste Tara Spano in ihrer gotterbärmlichen Schenk-mir-Aufmerksamkeit-Karre davon. Ich überlegte, sein Zimmer zu verlassen, aber es fiel mir kein besserer Ort ein, um mich von ihm finden zu lassen. Es gab keinen. Deshalb blieb ich einfach neben dem Fenster stehen und hörte, wie er mit dem Schlüssel im Schloss herumfummelte, die Stiefel im Flur auf den Boden fallen ließ und die Treppenstufen nach oben stapfte.

Als er um die Ecke bog und sein Zimmer betrat, hielt er sich am Türrahmen fest. Er richtete den Blick nach unten, die Haare fielen ihm ins Gesicht. Er schaute erst mich an, dann das Fenster hinter mir und ließ seinen Kopf gegen die Wand sinken.

»Ich wollte nach dir sehen«, sagte ich und äugte zur Schreibtischschublade, um mich zu vergewissern, dass alles so aussah, wie ich es vorgefunden hatte.

»Ich hatte vor, anzurufen«, sagte er. »Ich wollte anrufen. Meine Mum meinte, du wärst bei ihm gewesen …« Seine Stimme brach und er schloss die Augen.

»Ich wollte helfen.« Ich biss mir fest auf die Unterlippe. Decker sah furchtbar aus. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, ihn wiegen, wie Mum es mit mir gemacht hatte, »schscht« flüstern und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Ich wollte, aber ich tat es nicht. Genauso, wie Decker mich anrufen wollte, es aber nicht getan hatte. Außerdem hatte ihn wahrscheinlich schon jemand getröstet. Ich blickte aus dem Fenster. Als ich wieder zu ihm sah, musterte er mich.

»Ich war bei Kevin«, sagte er. »Die ganze Nacht. Wir alle waren dort.«

Er wollte mir damit sagen, dass er nicht mit Tara allein gewesen war, aber das Einzige, was ich bewusst registrierte, war »wir alle«. Sie waren alle zusammengewesen und hatten getrauert. Alle außer mir. Decker war bei seinen Freunden gewesen – unseren Freunden –, aber mich hatten sie nicht eingeladen.

»Das geht mich nichts an.«

»Das geht dich sehr wohl was an«, erwiderte er und kam auf das Fenster zu, auf mich zu. »Ich muss dir etwas sagen.«

Es gab kaum etwas, was ich weniger hören wollte. Aber im Grunde konnte es nicht mehr viel schlimmer kommen.

»Also, das Ding ist, dass ich wegen Carson total durch den Wind bin.«

Ich sah ihn mit einem Ach-nee-Blick an, gemischt mit Da-bist-du-nicht-der-Einzige.

Er hatte verstanden. »Schon klar, aber schau mich doch an. Und dann überleg mal, wie ich ausgesehen habe … als das mit dir passiert ist.« Er starrte wieder aus dem Fenster, dieses Mal in Richtung See.

Er stand jetzt neben mir und hielt den Atem an, und ich erinnerte mich daran, wie Decker über meinem Krankenbett geschluchzt hatte, die Nägel abgekaut, das Gesicht eingefallen. »Ich dachte, du wärst tot.«

Ich war tot.

»Und ich bin völlig ausgerastet. Ich habe im Krankenhaus geschlafen. Ehrlich gesagt, habe ich gar nicht geschlafen. Ich konnte nichts essen. Ich habe einfach gewartet. Und alle möglichen Geschäfte mit Gott gemacht. Es sollte irgendjemanden treffen, aber nicht dich. Er sollte sich jemand anderen aussuchen.« Jetzt flüsterte er nur noch. »Jeden, aber nicht dich.«

Es machte Klick. »Denkst du, dass Carson … dass es deine Schuld ist?«

Ein übertriebenes Schulterzucken. »Ich weiß es nicht. Aber es war ein Handel. Und ich weiß, dass ich dadurch ein schrecklicher Mensch bin, aber ich würde es wieder tun.«

Ich versuchte zu verstehen, was er gerade gesagt hatte, und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. »Das solltest du wahrscheinlich besser für dich behalten.«

Er grinste, aber es war kein glückliches Grinsen. »Ich habe gesagt, dass ich schrecklich bin, ich weiß. Aber ich will ehrlich zu dir sein. Und so fühle ich mich eben.«

Er fühlte sich schuldig, doch das durfte er nicht. Ich war bei Carson gewesen, ich und sonst niemand. Ich war direkt dabei gewesen und hatte ihn trotzdem nicht retten können. Oder versuchte Decker mir zu erklären, was er für mich empfand? Allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass der rote Sportwagen in der Einfahrt keine Einbildung gewesen war.

»Was ist mit Tara?«, fragte ich.

»Ach, das.«

In meiner Magengrube begann es zu rumoren und mein Instinkt sagte: Lauf weg. Verschwinde. Halt dir die Ohren zu. Sag in Gedanken die Unabhängigkeitserklärung auf. Denn ich wollte es wirklich nicht hören.

Decker seufzte. »Meine Eltern konnten mich nicht dazu bringen, das Krankenhaus zu verlassen und nach Hause zu gehen. Ich blieb einfach dort sitzen. Sechs Tage lang. Auch ich war in dieser Woche nicht in der Schule. Sogar deine Eltern haben versucht, mich wegzuschicken. Ich glaube, sie waren ganz schön sauer auf mich. Und ich habe die ganze Zeit geweint, ungelogen. Ziemlich peinlich. Eines Tages kam Tara vorbei …« Mir klappte die Kinnlade herunter und er grinste. »So schlimm ist sie gar nicht, oder?«

Ich hob eine Augenbraue und er hörte auf zu grinsen.

»Egal, jedenfalls wollte sie dich besuchen. Und da zu dieser Zeit nur ein paar Leute gleichzeitig in deinem Zimmer sein durften, schmissen die Schwestern mich raus. Als Tara zu mir auf den Flur kam, reichte ihr ein Blick, dann sagte sie, sie würde mich jetzt da rausholen. Und ich sagte nein, ich wollte nicht. Aber die Schwestern meinten, dass sie dich waschen müssten und dann die Ärzte zur Visite kämen. Deshalb bin ich mitgegangen. Aber wir schafften es nicht mal vom Parkplatz runter. Ich saß auf dem Beifahrersitz und weinte, weil ich das Gefühl hatte, du stirbst, wenn ich dich alleinlasse. Und wie Tara so ist, du kennst sie ja, beugte sie sich zu mir und umarmte mich … und ich küsste sie. Ich dachte an dich und küsste sie. Keine Ahnung, warum. Ich habe Tara geküsst, als du aufgewacht bist. Unglaublich, oder? Das einzige Mal, dass ich dich alleingelassen habe … ich hätte da sein sollen, als du aufgewacht bist. Ich hätte da sein sollen. Ich hätte nicht weggehen dürfen.«

Er hatte mich wegen ihr im Krankenhaus alleingelassen. Er hatte mich wegen ihr auf der Party alleingelassen. Und letzte Nacht war er wegen ihr nicht zu Hause gewesen und nicht zu mir gekommen.

»Du bist immer noch mit ihr zusammen.«

»Ich bin nicht mit ihr zusammen. Wir sind nicht zusammen. Sie ist einfach … da.«

»Das ist deine Erklärung? Ist das dein Ernst?«

»Na ja, da war Carson …«

»War er nicht. Nicht wirklich.«

»Und dann dieser Typ, Troy.«

»War er …« Ich würde ihn nicht belügen, nicht jetzt.

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, was ich gerade mache. Oder warum«, fuhr er fort, was die schlechteste Ausrede in der Geschichte der Ausreden war. »Ich weiß nicht mehr, was oben und unten ist. Ich fühlte mich, als ob ich …« Er brach ab und zuckte zusammen.

»Untergehe«, sagte ich. »Du wolltest sagen, dass du dich fühlst, als würdest du untergehen.«

Er nickte.

Ich fragte mich, wie viele Menschen ich mitgerissen hatte, als ich im Eis eingebrochen war. Wie viele mit mir versunken waren. Ich dachte, ich wäre unter Wasser ganz allein gewesen, aber vielleicht stimmte das gar nicht.

»Das ist alles meine Schuld.« Er breitete die Arme aus, wie um auszudrücken, dass ich der Fehler war, den er gemacht hatte. Dass ich irgendwie vernarbt und beschädigt war und er das alles auf meinem Körper sehen konnte. »Ich liebe dich und das habe ich dir angetan.«

Ich wollte ihm antworten, dass er mich gerettet hatte, aber plötzlich war ich mir da nicht mehr so sicher.

Und als könnte ich ihn beim ersten Mal nicht verstanden haben, wiederholte er: »Ich liebe dich.«

Als ob diese drei Worte alles vorher Gesagte wegwischen könnten.

Er streckte einen Arm nach mir aus, aber ich wich zurück in Richtung Tür. Ich ging, weg von ihm.

»Delaney?«, rief er mir nach. Der Ausdruck in seinen Augen war so flehend, dass ich meinen Blick abwenden musste.

Ich hob abwehrend die Hand, bevor er weitersprechen konnte. Es war einfach zu viel. Carson war tot. Mum verschwand. Troy brachte Menschen um. Ich war nutzlos. Und Decker versuchte mir zu sagen, dass er mich liebt, als ob das jetzt noch wichtig war.

»Ich habe dich gehört, aber es ist zu spät.« Konnte er das nicht sehen? Ich war gar nicht mehr richtig am Leben. Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber ich unterbrach ihn. »Was hat das für einen Sinn, Decker? Echt, nichts hat noch irgendeinen verdammten Sinn.«

Ich ging.

Ich lief schnurstracks auf den Falcon Lake zu, als ob ich ihm etwas zu sagen hätte. Aber am Felsvorsprung neben der Straße blieb ich stehen. Was wollte ich hier eigentlich? Der See wirkte größer als sonst, das gegenüberliegende Ufer schien unendlich weit entfernt zu sein.

Ich trat einen Schritt zurück und kniff die Augen fest zusammen. Ich wollte die Rückspultaste drücken. Die Zeit zurückdrehen. Decker sagen, er solle den Umweg außen herum nehmen. Oder noch weiter zurückspulen. Decker bitten, bei mir zu blieben, zu Hause im Warmen, nur er und ich. Ich hätte ihm etwas Bedeutungsvolles gesagt und es hätte wirklich etwas bedeutet. Damals hätte es einen Sinn gehabt.

Ich trat noch einen Schritt zurück und hörte Hupen und Reifenquietschen. Ich riss die Augen auf und sah die Bremslichter eines Autos, das an mir vorbeigeschleudert war.

Auf dem Nachhauseweg spürte ich einen Schmerz in der Brust. Mein Herz klopfte bis zum Hals.

Mum war wieder nicht da. Aber ihr Auto stand in der Garage und ihr Mantel hing an der Garderobe. Sie war also irgendwo im Haus, vielleicht verbarrikadierte sie sich im Schlafzimmer und versuchte, die alte Delaney wieder zum Leben zu erwecken. Ohne Mum wirkte das Haus abgestanden und schal. Wenn ich weg war, veränderte sich gar nichts, bei Mum war das anders. Sie war das Leben im Haus.

Ich zog einen Beutel tiefgefrorene Kekse aus der Gefriertruhe, die Mum für spontane Besucher immer vorrätig hatte, nahm einige heraus, legte sie in eine feuerfeste Form und schob sie in den Backofen. Obwohl ich den Ofen nicht anfassen sollte, weil es zu gefährlich war. Aber im Vergleich zu dem, was ich in dieser Woche angerichtet hatte, war das wohl eher ein Witz.

Ich saß auf dem hölzernen Küchenstuhl und sog den Duft der schmelzenden Schokolade in mich ein. Ich hatte irgendwo gelesen, dass man Erinnerungen am besten über den Geruchssinn wachrufen konnte. Ich probierte es aus, atmete ganz tief ein und versuchte, mich in die Vergangenheit zurückzuversetzen, zurück in die Küche, als Mum Kekse backte, während ich am Tisch saß und lernte und Decker am Backofen lauerte, um die noch heißen Kekse vom Kühlgitter zu nehmen.

Einen Moment lang war ich wieder zurück. Der Timer war abgelaufen, ich stülpte Mums rote Backhandschuhe über und zog die Kekse aus dem Ofen – und dann klingelte es. Ich presste meine behandschuhten Hände flach auf die Haustür und lugte durch den Spion. Draußen stand Troy. Seine Hände drückten von der anderen Seite gegen die Tür, wie ein Spiegelbild von mir.

»Was willst du?«, rief ich durch die geschlossene Tür zwischen uns.

»Dich sehen. Ich will wissen, ob du okay bist.«

Ich riss die Tür auf, blieb aber im Flur stehen. »Alles bestens«, sagte ich.

Er hatte seine Hände zu Fäusten geballt. »Kann ich reinkommen?«

Statt zu antworten, schlüpfte ich durch den Spalt nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Dann verschränkte ich die Arme vor der Brust, um mich vor der Kälte zu schützen.

»Wo ist deine Mum?«, fragte er.

»Drinnen«, antwortete ich mit einer Stimme, die ihm zu verstehen gab, dass sie jeden Moment auftauchen könnte, obwohl das nicht stimmte.

Er blickte auf die Backhandschuhe und fragte: »Was machst du gerade?«

Ich wischte sie an den Hosenbeinen ab, genau wie Mum es machen würde, setzte ein Lächeln auf und antwortete: »Kekse backen.«

Troy runzelte die Stirn. »Was ist los mit dir?«

Ich lachte. »Was mit mir los ist? Was mit mir los ist? Du machst wohl Witze. Frag lieber, was nicht mit mir los ist.« Mir war schwindlig, als würde ich die Situation von ganz weit weg beobachten. Und alles, was ich sehen konnte, war Troy. Alles andere spielte keine Rolle.

Troy ließ den Kopf sinken, legte die Hände an die Stirn und rieb sich die Schläfen. Er sprach in Richtung Boden. »Du musst dich zusammenreißen, Delaney.« Dann sah er wieder zu mir auf und in seinen Augen lag ein neuer Ausdruck, nicht mehr Selbstvertrauen und Selbstgerechtigkeit, sondern Panik und Verwirrung. »Ich mache mir Sorgen um dich.«

Ich stemmte die Hände in die Hüften und wippte vom Fußballen auf die Fersen. »Wie süß, das ist richtig süß von dir, Troy. So wie damals, als ich im Krankenhaus lag? Oder wie bei dem alten Mann, dessen Haus du angesteckt hast?«

Troy drehte den Kopf von rechts nach links, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war.

»Oder wie bei Carson, als du zugesehen hast, wie er starb? Wenn du dir jemals um irgendjemanden Sorgen gemacht hättest, mich eingeschlossen, dann hättest du etwas getan. Du hättest versucht, mir zu helfen.«

Er tigerte auf der Veranda hin und her und murmelte: »Ich will dir helfen.« Dann gab er sich einen Ruck und ging auf mich zu. Ich wich zurück, mein Rücken presste sich gegen die Tür. Troy lehnte sich nach vorn, eine Hand rechts, eine links von mir gegen den Türrahmen gedrückt.

Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von meinem entfernt und ich konnte seinen Atem spüren. Er schien abzuwarten, dass etwas geschah. Als nichts passierte, drückte er seine Lippen auf meinen Mund, und als immer noch nichts passierte, legte er eine Hand hinter meinen Kopf und zog ihn nach vorn. Dann schloss er die Augen. Er bewegte seine Lippen, während ich einfach nur regungslos dastand, die Augen weit aufgerissen – bis er fertig war, seine Hand fallen ließ und den Kopf zurückzog.

»Du stirbst«, flüsterte er und zuckte zusammen.

»Was?« Ich umklammerte den Türknauf hinter mir. War ich etwa krank? Konnte er es spüren?

»Tief in dir drin«, sagte er.

Eigentlich hätte ich jetzt erleichtert sein müssen, aber ich war es nicht. Denn er hatte Recht. Er sah, was Decker nicht sehen konnte. Ich löste meinen Griff und schob ihn von mir weg. Er stolperte nach hinten und ging schließlich die Stufen hinunter.

»Troy!«

Er blieb stehen, ein Fuß auf dem Bürgersteig, der andere noch auf der untersten Treppenstufe.

»Dann sollte ich mich von dir fernhalten.« Ich wartete auf eine Reaktion, aber es kam keine. Und er sah auch nicht verletzt oder verlegen oder wütend aus. Eher nachdenklich.

Ich drehte mich um, rannte ins Haus und warf die Tür hinter mir zu. Ich versuchte, den Riegel vorzuschieben, aber die Backhandschuhe waren im Weg. Ich warf sie auf den Boden, verschloss die Tür und lehnte mich dann von innen dagegen, um durch den Spion zu schauen. Troy stand immer noch da, offenbar in Gedanken versunken. Bestimmt drei Minuten beobachtete ich ihn, bis ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte.

Ich ging zurück in die Küche und kontrollierte, ob der Stromschalter über dem Backofen ausgeschaltet war. Dann warf ich die Kekse in den Abfall, verknotete den Müllbeutel und entsorgte ihn in der Tonne in der Garage. Troy hatte die Erinnerung zerstört. Ab jetzt würde ich jedes Mal an ihn denken, wenn ich schmelzende Schokolade roch.

Dann scheuerte, schrubbte, desinfizierte und kehrte ich die Küche so gründlich, dass meine Handgelenke schmerzten. Ich nahm eine Tasse aus dem Regal und zog einen Küchenstuhl zum Schrank. Mum vertraute mir, was Alkohol betraf, genauso wenig wie mit Medikamenten. Deshalb wurden die Flaschen noch eine Etage höher deponiert. Ich stieg auf den Stuhl, öffnete die Wodkaflasche und füllte die Tasse. Dann nahm ich eine kleine blaue und eine lange weiße Tablette aus dem Medizinschrank und spülte beide mit dem Wodka hinunter.

Alles brannte. Aber es fühlte sich besser an als das, was noch tiefer in mir loderte.

Bevor ich die Treppe hochging, füllte ich die Tasse noch einmal nach. In meinem Zimmer kam es mir viel zu hell vor, deshalb zog ich die Vorhänge zu, kauerte mich in einer Ecke auf den Boden und nippte an dem Wodka. Dann schlief ich ein, am hellen Nachmittag, in diesem Haus, das sich in ein Mausoleum verwandelt hatte.

Als ich aufwachte, war es stockdunkel. Von nebenan drangen Stimmen an mein Ohr. Dad schrie, was er normalerweise nie tat. Mum kreischte zurück. Mein Kopf dröhnte, der Fußboden kippte nach vorn und hinten. Ich torkelte durch den Flur und riss die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern auf.

Mum stand mit zusammengebissenen Zähnen mitten im Raum, ihr Gesicht wirkte hager und eingefallen. Sie trug einen Flanellschlafanzug. Auch Dad hatte einen Schlafanzug an, seine Haare standen wild nach allen Seiten ab. In Schlafanzügen wirkt alles irgendwie lustig, egal wie ernst eine Situation ist, und ich begann zu kichern.

Schlagartig drehten sie ihre Köpfe in meine Richtung. Dann griff Dad nach Mums Hand. Ich sah auf ihre ineinander verschlungenen Finger. Sie waren nicht wütend aufeinander, sie stritten wegen mir.

»Ich mach das«, sagte Dad und ging auf mich zu. »Komm, mein Schatz, ich bringe dich zurück ins Bett.«

Das. Ich war ein unpersönliches das.

Er begleitete mich in mein Zimmer, deckte mich zu und sah die Tasse auf dem Boden. Er hob sie auf, blickte mich stirnrunzelnd an, sagte aber nichts. Wenn er Dad wäre und ich Delaney, hätte er etwas gesagt. Aber stattdessen küsste er mich auf die Stirn, zog mir die Decke bis unters Kinn und schloss die Tür hinter sich.

Ich lag flach auf dem Rücken, die Arme rechts und links neben meinem Körper ausgestreckt. Genau wie im Krankenhaus, als ich das Gefühl hatte, in meinem Körper gefangen zu sein. Ich stellte mir den Jungen aus Dr. Logans Praxis vor, der in dieser Position gefangen war. Wegen mir. So lange, bis eine Infektion oder eine schwere Krankheit oder ein zweiter Schlaganfall ihn aus seinem Elend erlösen würde. Mir wurde klar, dass der Tod vielleicht nicht das Schlimmste war, was passieren konnte. Und ich fragte mich, was ich eigentlich wollte. Wovor wollte ich ihn retten? Ich konnte nicht schlafen.

Die Planeten bewegten sich heftig – teilweise durch die Luft aus den Heizungsschlitzen, teilweise wegen des Alkohols und der Tabletten, die mein Gehirn orientierungslos machten. Ich hörte Autoreifen im Schnee knirschen, ich hörte Schritte. Ich wusste, dass es Troy war. Ich wusste es einfach, als könnte ich ihn spüren. Als hörte ich ihn meinen Namen flüstern, um mich zu sich zu locken wie die Sirene aus der griechischen Mythologie.