»Hilf mir!«, brüllte ich Troy an.
Er rannte auf mich zu und ich konnte ihm ansehen, dass er mir wirklich helfen wollte. Er wollte ihn retten, so wie ich.
»Wie kann ich dir helfen?«
»Nicht mir. Hilf ihm!« Ich deutete auf Carson, dessen Gliedmaßen rasend schnell und unkontrolliert zuckten. Er warf sich hin und her und grub sich mit bloßen Händen immer tiefer in den Schnee, bis seine Hände und der Hals unter kleinen Schneehaufen verschwunden waren. Er fror. Er brauchte Handschuhe. Und eine Mütze. Seine Klamotten mussten völlig durchnässt sein. Er trug Jeans. Nichts war schlimmer als nasse Jeans. Er war bestimmt total sauer auf mich, weil ich ihn aus dem warmen Auto gezerrt hatte.
Troy riss mich hoch und legte die Arme um mich. »Wir können nichts für ihn tun. Und das weißt du.«
Ja, das hatte die Frau am Telefon auch gesagt. Lass ihn in Ruhe, dann wird alles gut. Es sei denn, er hat mehrere Anfälle hintereinander. Das waren mehrere hintereinander. Sollte ich jetzt etwas anders machen? Aber sogar Carson hatte mir erklärt, dass man an epileptischen Anfällen nicht stirbt. Das hatte er gesagt. Anfälle töten nicht.
Dieser zweite Anfall dauerte mit Sicherheit schon länger als eine Minute. Der Reißverschluss von Troys Jacke grub sich in meine Schulter. Zwei Minuten. Troy ließ mich nicht los und versuchte mich wegzudrehen, um mir den Anblick zu ersparen. Aber ich sah alles mit an. Drei Minuten. Und dann Stille. Carson war mit Schnee und Matsch und Gott-weiß-was bedeckt.
»Es ist vorbei«, flüsterte Troy.
Ich löste mich von ihm und kniete mich neben Carson auf den Boden. Er war still. Zu still. Leblos still. Ich stöhnte auf und drehte ihn auf den Rücken. Verdammt, wo musste man noch mal die Hände hinlegen? Ich tastete mit den Fingern über seine Brust, spürte seine Rippen und versuchte, mich an die richtige Position der Hände für die Herzdruckmassage zu erinnern, die ich letztes Jahr gelernt hatte. Egal, ich legte meine Hände irgendwo in die Mitte seines Brustkorbs und drückte. Und drückte wieder. Dabei zählte ich lautlos mit.
»Delaney. Hör auf. Er ist tot.«
Ich schüttelte den Kopf, schloss die Augen und zählte laut. Troy irrte sich. Epileptische Anfälle waren nicht tödlich. »Delaney, konzentrier dich. Nimm wahr, was du fühlst. Du weißt es.«
Ich tat es nicht. Ich konnte nicht. Ich wollte nicht. Epileptische Anfälle waren nicht tödlich.
Ich beugte Carsons Kopf nach hinten und legte meine Lippen auf seinen Mund. Ich blies meinen Atem hinein und wartete darauf, dass sich sein Brustkorb hob und senkte. Ich dachte an den Sauerstoff, den ich in seine Lunge presste, und an meine Hände, die das Blut zu seinen Organen pumpten. Das würde ihn am Leben halten.
»Delaney, komm mit.«
Ich dachte überhaupt nicht an seine Lippen und daran, dass sie das letzte Mal, als sie meinen Mund berührt hatten, warm und lebendig gewesen waren. Jetzt waren sie kalt und tot.
»Delaney, es ist vorbei.«
Aber epileptische Anfälle sind nicht tödlich. Ich blies Luft in seine Lunge, ich massierte sein Herz, ich kniff die Augen zusammen, hob mein Gesicht in Richtung Himmel und betete für ein Wunder. »Bitte«, schrie ich. Aber nichts geschah.
Sirenen schrillten in der Ferne und kamen näher.
»Ich geh jetzt«, sagte Troy.
Ich beachtete ihn nicht, pumpte und blies weiter meinen Atem in Carsons Mund. Troys Auto rumpelte davon. Nachdem ich dreiundfünfzig Mal Luft in seine Lunge geblasen hatte, kam professionelle Hilfe. Die Sanitäter schoben mich zur Seite und zogen mich weg. Sie stellten Fragen, während sie Carsons leblosen Körper auf eine Trage hoben und meinen Mund durch eine Maske mit einem gelben Plastiksack ersetzten, mit dem man Luft in einen Menschen pressen konnte.
»Was ist passiert?« und »Wie heißt er?« und »Wie lange schon?« und »Nächste Angehörige?«
Ich konnte nur eine Frage beantworten: »Carson Levine.«
Und ich hatte nur einen Gedanken: dass der Plastiksack an seinem Mund so grausam und gefühllos aussah. Kalte, sterile Luft wurde in seine Lunge gepumpt. Das alles hatte überhaupt keine Beziehung zum Leben.
Jemand fragte mich, ob es mir gut ginge und ich allein nach Hause fahren könne. Ich musste eine zustimmende Geste gemacht haben, denn obwohl es mir nicht gut ging, fuhren die Sanitäter davon und ließen mich am Straßenrand zurück. Neben dem Auto meiner Mutter. Der Motor lief immer noch, die beiden Vordertüren standen weit offen, der Beifahrersitz war verdreckt. Ich ließ mich auf die Knie sinken und starrte auf den Abdruck im Schnee, wo Carsons Körper gelegen hatte. Wo er eine Höhle für sich gegraben hatte. Ich hörte die Sirenen in der Ferne verschwinden und stellte mir vor, dass sie ihn retteten.
Epileptische Anfälle sind nicht tödlich.
Allerdings waren das nicht genau Carsons Worte gewesen. Er hatte gesagt, dass man an Epilepsie normalerweise nicht stirbt. Ebenso wie Menschen normalerweise nicht elf Minuten unter Wasser überleben. So wie ich normalerweise immer nur Einser bekam. Ich krümmte mich vor Schmerz, ohne sagen zu können, wo es wehtat. Es war nur ein sich über den ganzen Körper ausbreitender, alles umschließender, lähmender Schmerz. Ich fragte mich, was Carson gefühlt hatte. Das letzte bisschen Leben in seinem Körper hatte er von mir. Das letzte Lebendige, das seinen Mund berührt hatte, waren meine Lippen gewesen.
Ich krallte mich in den Schnee, in die Mulde, in der er gelegen hatte und wo der Schnee unter seinem Gewicht zusammengedrückt worden war. Dann ließ ich mich mit ausgebreiteten Armen daneben auf den Rücken sinken, als wollte ich einen Schneeengel machen, nur ohne meine Arme zu bewegen – ein Engel ohne Flügel. Ich lag einfach da, heiße Tränen rannen mir über die Wangen und verwandelten sich auf ihrem Weg zu Eis. Der Schnee schmolz in meinen Kleidern, in meinen Haaren und in meinen Ohrmuscheln. Überall Schmerz, auch dort, wo sonst das Jucken war. Schmerz, der die Erinnerung überdeckte. Schmerz und Nässe und Kälte.
Als ich meine Fingerspitzen nicht mehr spüren konnte, stoppte ein Auto neben mir. Ich hielt die Augen geschlossen, damit ich ihn nicht ansehen musste. Dafür spürte ich die Kälte auf meinem Gesicht, als sein Schatten sich vor die Sonne schob. Ich öffnete die Augen und sah Troys Umrisse, sah die dunkle Gestalt, wo zuvor das Licht gewesen war.
Er reichte mir seine Hand und ich griff danach. Er zog mich an sich und ich wehrte mich nicht. Er flüsterte mir etwas ins Ohr und ich hörte ihm zu.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es tut mir leid wegen deines Freundes.« Mit seinem rauen Daumen wischte er mir die Tränen von den Wangen und ich schmiegte mein Gesicht in seine Hand. Er klopfte mir den Schnee vom Rücken, von den Armen, aus den Haaren, dann hielt er mich wieder fest, bis das Zittern nachließ.
»Komm, wir gehen«, flüsterte er und ich folgte ihm.
Ich folgte ihm, bis er einen Fuß in Carsons Körperabdruck setzte. Wo Carson lag, als er noch gelebt hatte. Wo er gestorben war. Wo Troy ihm beim Sterben zugesehen hatte.
An der Grenze zu Carsons Körperabdruck blieb ich wie festgefroren stehen. »Ich komme nicht mit.«
Er drehte sich um und seufzte schwer. »Den kannst du nicht nehmen.« Er deutete auf Mums vollgekotztes Auto. Und dann sah er zu mir. So, wie ich zitterte, konnte ich nicht fahren. Er nahm meine Tasche vom Fahrersitz, stellte den Motor ab und schloss die Türen. Als ich zu seinem Auto ging, hielt ich einen weiten Abstand von den beiden Körperabdrücken im Schnee. Flügellos und starr.
Eine Huldigung an den Tod.
Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und stellte meine Tasche zwischen uns. Dann presste ich mich gegen die Tür, möglichst weit weg von Troy. Das Auto war alt und es war bestimmt gefährlich, sich an die Tür zu lehnen. Aber das war mir egal. Womöglich würde ich hinausfallen, mein Kopf würde auf dem Asphalt aufschlagen und ein Rettungswagen würde mich ins Krankenhaus bringen, wo ich ein paar Tage ausruhen und schlafen könnte, als würde ich gar nicht existieren. Und wenn ich aufwachte, würde es niemanden interessieren, dass ich Carson nicht gerettet hatte. Und dann würden sie ein MRT machen und feststellen, dass mein Gehirn irreparabel geschädigt ist, und mich mit Schmerzmitteln vollpumpen. Und ich wäre wie benebelt, die Nervenzellen in meinem Gehirn könnten keine Verbindungen herstellen und damit auch keine Erinnerungen wachrufen. Decker würde an meinem Bett sitzen, meine Hand halten und mich manchmal auf die Stirn küssen, wenn er glaubte, ich würde schlafen. Und es wäre mir völlig egal, ob ich Jahrgangsbeste wäre oder ein medizinisches Wunder oder eine reine Verschwendung von Leben.
Ich starrte aus dem Fenster, verwischte Baumskelette zogen an mir vorbei. Alles sah verändert aus. Als hätten wir die Dimension gewechselt. Als hätte ich die ganze Zeit in einer zweidimensionalen Welt mit Länge und Breite gelebt, und jetzt käme plötzlich die räumliche Tiefe hinzu. Alles sah erst zu nah und dann zu weit entfernt aus, zu groß und zu klein. Alles war wie immer und trotzdem verwirrend anders.
Hier hatte ich mein ganzes Leben verbracht, dieselben Bäume, dieselben Menschen, der weiße Mantel über allem. Mir war nie aufgefallen, dass unter dem Schnee alles tot war. Wir fuhren durch ein Schlagloch und alles rutschte nach rechts. Die Bäume drehten sich. Carsons Gesicht. Sein Mund. Sein Mund war kalt und schmeckte nach …
»Oh Gott, fahr an die Seite.«
Ich taumelte aus dem Wagen und fiel in den unberührten Schnee auf die Knie. Ich sog tief die kalte Luft ein, Atemzug für Atemzug, aber mein revoltierender Magen wollte sich nicht beruhigen. Beim Versuch wieder aufzustehen, musste ich mich am Auto abstützen. Troy kam von der anderen Seite näher, aber ich hob abwehrend den Arm.
»Mir ist schlecht«, sagte ich. Und genau so war es. Aus den Tiefen meines Magens drängte alles ans Tageslicht und ich kotzte es in den Graben neben einer Landstraße im Nirgendwo von Maine.
Vielleicht lag Troy doch richtig. Das war die Hölle.
Ich beugte mich auf zitternden Knien weiter nach vorn und spürte Troys Hand, die mir zögernd über den Rücken strich. Ich drehte den Kopf zur Seite und blickte ihn durch meine langen Haare an, die mir wie ein Vorhang vor dem Gesicht hingen. Er starrte in den Wald. Ohne mich anzusehen, nahm er meine Arme und zog mich hoch, dann umklammerte er meine Handgelenke und presste seine Daumen fest auf den Puls. Das Schwindelgefühl ebbte ab.
»Meiner Schwester wurde im Auto immer schlecht«, sagte er. Ich zog meine Arme zurück, obwohl es mir besser ging. »Ihr konnte ich nicht mehr helfen, aber dir schon.«
Ich stieß ein bellendes Lachen aus. Ich wollte seine Hilfe nicht. Nicht diese Art von Hilfe. Abrupt wandte er sich ab und setzte sich wieder ins Auto. Während der restlichen Fahrt hielt ich die Augen geschlossen. Ich weinte nicht. Oh Gott, wie ich mich danach sehnte zu weinen. Aber ich würde es nicht tun. Nicht vor Troy. Nicht noch einmal.
Deshalb unterdrückte ich die Tränen. Ich unterdrückte sie so lange, bis Troy vor unserem Hause anhielt, meine Mutter aus der Tür gestürzt kam und in ihren Pantoffeln auf die Straße rannte. Sie wusste es schon.
Ich begann zu schluchzen, noch bevor sie bei mir war. Mum breitete die Arme aus und ich ließ mich hineinfallen. Nichts war mehr wichtig. Nicht die Pillen, nicht das, was sie gesagt hatte, nicht der Verrat.
Troy sprach mit ihr, als wir die Stufen hinaufgingen, aber ich schluchzte so sehr, dass ich sie nicht verstehen konnte. Dann fuhr er weg und Mum zog mich neben sich auf die Couch.
»Er ist tot, oder? Wirklich tot, für immer?« Ich blickte in Mums tränenüberströmtes Gesicht.
Sie starrte aus dem Fenster und wiegte mich in ihren Armen. »Schscht«, flüsterte sie. »Alles ist gut. Schscht.«
»Carson geht es gut?«
Sie hielt inne und sah mich an. »Nein, mein Schatz«, sagte sie. Und dann wiegte sie mich wieder und machte »schscht«.
»Mum? Irgendetwas stimmt nicht mit mir.«
Sie hielt mich fester. Ich kroch in sie hinein, suchte nach dem Schutz ihrer weichen Arme, aber ich konnte nur ihre harten Knochen spüren. Das kantige Schlüsselbein. Die hervorstehenden Schulterknochen. Die schwachen Arme. Sie verschwand immer mehr. Der Tod war überall. Doch Mum tötete ich langsam. Ein Tod auf Raten, in mühevoller Kleinarbeit. Als sie mir später meine Schlaftablette und das Antidepressivum gab, lag ich immer noch zusammengekauert auf der Couch und nahm die Pillen freiwillig.
Als ich aufwachte, gab es diesen einen wunderbaren Moment. Ich war in eine Decke gehüllt und von Kissen und Wärme umgeben. Das Morgenlicht sickerte durch die Vorhänge, aus der Küche wehte der Duft von frisch gebackenen Waffeln herüber. Ein wunderbarer Moment, bevor die Schwere auf mich herabstürzte. Das Waffeleisen zischte und knisterte anklagend. Die Erinnerungen kamen zurück und brachten meinen Magen in Aufruhr.
Ich rannte ins Bad. Ich trug noch die gleichen Klamotten wie gestern, klamm und steif vom getrockneten Schneematsch. Und ich konnte ihn immer noch riechen. Schmecken. Ich würgte, mein Gesicht gegen das kalte Porzellan der Toilettenschüssel gepresst, aber es kam nichts. Es war nichts mehr übrig. In meinem Inneren war alles leer.
Während ich schlief, hatte sich die Welt weitergedreht. Mums Auto stand wieder vor dem Haus und der Innenraum war sauber. Ich saß auf dem Platz, auf dem Carson gesessen hatte. Ich zog den Sicherheitsgurt über meine Brust, der auch Carson festgehalten hatte. Ich sah aus dem Fenster und kniff die Augen zusammen, genau wie er es getan hatte, und ich versuchte zu sehen, was er gesehen hatte. Ich beugte mich vor, um zu fühlen, was er gefühlt hatte. Aber er war weg. Dad hatte ihn weggeschrubbt. Ich konnte nicht einmal mehr das Leder riechen. Nur Azeton und Kiefernduft. Scharf und durchdringend.
Auf Dr. Logans Parkplatz spürte ich wieder das Ziehen. Als ich in die Praxis ging, senkte ich nicht den Kopf, sondern sah die anderen Patienten an. Es würde ohnehin nichts ändern. Ich konnte nichts für sie tun. Die Frau am Empfang saß am Computer und tippte und schaute mich immer wieder verstohlen an. Was wusste sie über mich? Dass ich ein medizinisches Wunder war? Dass ich einen Schaden hatte? Dass ich verrückt war? Kein echter Mensch?
Dr. Logan streckte den Kopf aus der Tür des Behandlungszimmers und winkte uns zu sich.
»Mrs Maxwell«, sagte er und wir blieben stehen, »könnte ich vielleicht mit Delaney allein sprechen?«
Mum warf mir einen raschen Blick zu.
»Ich könnte eine Schwester dazubitten, wenn es ihr dann leichterfallen würde.«
Ich nickte Mum und dem Arzt zu.
»Falls du mich brauchst, ich bin hier vor der Tür.« Mum blieb draußen stehen und sah zu, wie sich die Tür schloss.
Ich folgte Dr. Logan durch den Korridor. Er trat zur Seite und ließ eine Krankenschwester vorbei, sie lächelte ihm zu. Dabei prallte sie frontal mit mir zusammen und stieß mich gegen die Wand. Sie streckte eine Hand aus, drehte sich um und ging einfach weiter, als hätte sie mich überhaupt nicht wahrgenommen. Als würde ich gar nicht existieren. Ich biss mir von innen die Wangen blutig.
Den restlichen Weg taumelte ich hinter Dr. Logan her und sank in seinem Büro in den Besucherstuhl. Er hatte mich nicht mal ins Untersuchungszimmer gebeten, als ob er wüsste, dass er mir sowieso nicht helfen konnte.
»Mit mir stimmt etwas nicht. Es ist ernst«, begann ich, bevor er die Chance hatte, etwas zu sagen. »Ich bin nicht normal. Ich bin tot. Ich bin verdammt noch mal tot. Ich bin kein Mensch.«
Dr. Logan rollte mit seinem Stuhl um den Schreibtisch herum, bis er mir direkt gegenübersaß. Seine Hände umfassten meine Schultern. »Okay, hilf mir mal ein bisschen auf die Sprünge. Was passiert gerade in deinem Leben, Delaney? Deine Mutter meinte, du hättest jemanden verloren?«
Ich grinste. Jemanden verloren. Als ob ich Carson irgendwo verlegt, auf dem Weg in die Schule zurückgelassen oder zwischen all den Menschen im Einkaufszentrum nicht mehr wiedergefunden hätte.
»Er ist tot«, korrigierte ich. »Er hatte einen epileptischen Anfall und ich habe versucht, ihn zu retten. Er ist trotzdem gestorben. Ich habe es wirklich versucht …«, flüsterte ich. »Ich sollte nicht mehr am Leben sein. Er sollte leben und nicht ich. Das ist nicht fair.«
Dr. Logan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und atmete geräuschvoll aus. »Nein, natürlich ist es das nicht.«
Ich begann zu lachen. »Selbst mein Arzt sagt, es ist nicht fair. Sogar Sie denken, ich sollte nicht am Leben sein.«
»Oh, nein, das habe ich nicht gesagt. Aber das Leben folgt nicht immer den Regeln der Fairness. Deine Gefühle sind völlig normal. Man nennt das die Schuld der Überlebenden. Wie bei einem Flugzeugabsturz, bei dem es nur einen Überlebenden gibt. Jeder denkt, dass das ein Wunder ist, aber dieser Mensch kann nicht mehr normal weiterleben. Er quält sich mit der Frage ›Warum ich? Bin ich etwas Besonderes?‹«
Ich sog tief die Luft ein und nickte heftig.
Dr. Logan legte erneut seine Hände auf meine Schultern. »Leider habe ich keine Antwort für dich. Du sollst aber wissen, dass du mit deinen Gefühlen nicht allein bist.«
Doch, war ich. Carson war tot. Mum verschwand ganz langsam. Troy war wahnsinnig. Decker hatte nicht einmal angerufen. Niemand hatte angerufen.
»Hast du die Tabletten genommen, die ich dir verschrieben habe?«
»Nicht wirklich. Das versuche ich Ihnen ja gerade zu erklären. Ich bin nicht gestresst. Ich bin nicht einmal mehr ich selbst.« Ich war das Mädchen, das gestorben und dann auf wundersame Weise ins Leben zurückgekommen war. Aber ich war auch das Mädchen, das nicht mehr an Wunder glaubte. Eine ausweglose Situation.
»Ich bin kein Mensch«, sagte ich. »Ich weiß nicht einmal, warum ich hier bin.«
Dr. Logan nahm meine Hand und tastete sie ab. »Du fühlst dich sehr menschlich an.«
»Der Körper vielleicht«, murmelte ich.
»Du klingst auch ziemlich menschlich.«
Ich hob den Kopf. »Was macht mich denn zum Menschen?«
Er zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache, dass er wahrscheinlich den Sinn des Lebens kannte. »Wir sind die einzige Spezies, die sich ihrer eigenen Moral bewusst ist. Wir sind die Einzigen, die wissen wollen, warum wir leben und warum wir sterben.« Er kaute auf der Innenseite seiner Wangen herum, als ob er etwas abwägen würde. »Und du bist engagiert. Du versuchst zu helfen.«
Nur dass mein Engagement sinnlos war. Ich bemühte mich und die Menschen starben trotzdem. Troy konnte mit seiner Art des Bemühens immerhin etwas bewegen. Er bewirkte etwas, auch wenn ich ihn für verrückt hielt.
Und dann tat Dr. Logan etwas völlig Unerwartetes. Als würde er einem Ertrinkenden ganz instinktiv einen Rettungsring zuwerfen. »Der Junge …«, Dr. Logan räusperte sich, »dieser junge Mann vom letzten Mal. Du hast ihn gerettet. Ich sollte dir das nicht sagen, aber du hast ihn gerettet.«
»Wie bitte?« Ich dachte an den ununterbrochen summenden Jungen in der Ecke des Wartezimmers. »Sie haben mich ernst genommen?«
»Nein, ich nicht. Aber seine Pflegerin. Sie hat Angst bekommen und verlangt, ihn ins Krankenhaus zu bringen und Tests zu machen, was wir auch getan haben.«
In meiner Brust flatterte es. »Und?«
»Er hatte einen Schlaganfall. Aber wir waren rechtzeitig vor Ort und konnten ihm helfen.« Er nahm meine Hände, die in meinem Schoß lagen, und drückte sie. »Glaubst du an eine höhere Macht? Dass es keine Zufälle gibt? Dass du am Leben bist, damit du ihn retten konntest?«
Ja. Nein. Tat ich nicht, aber ich würde es gern. Es war wichtig für mich. Ich klammerte mich an seine Worte. Ich hatte ihn gerettet. Ich hatte ihn gerettet.
Ich erwiderte den Druck. »Ich muss ihn sehen.«
Dr. Logan hielt inne und zog dann seine Hände zurück. »Ich fürchte, das geht nicht.« Er stand auf und blickte ins Leere. »Wir sollten mit deiner Mutter sprechen.«
Ich blieb sitzen und beugte mich nach vorn. »Ist er noch im Krankenhaus?« Ich musste ihn sehen. Ich musste mit ihm sprechen. Ich musste Troy beweisen, dass ich es geschafft hatte. Es gab immer eine Möglichkeit.
»Nein, er wurde verlegt. Ich hätte dir gar nichts sagen dürfen, Delaney. Es steht mir nicht zu, darüber zu sprechen.«
Ich ballte die Hand zur Faust und schlug auf den Schreibtisch. Ein Bilderrahmen kippte nach hinten und zwei sommersprossige Mädchen lächelten mich an.
»Wohin verlegt?«
Dr. Logan schob einige Papiere zusammen, er hatte sich in seiner Rettungsleine verwickelt, aber ich ließ nicht locker. Das war alles, was ich hatte.
»Er ist in einem Pflegeheim, Delaney. Er hatte immerhin diesen Schlaganfall. Obwohl wir wussten, dass er ihn bekommen würde, konnten wir es nicht verhindern. Aber dir verdankt er sein Leben.«
Ich sank zurück. »Ist er bei Bewusstsein?«
»Hör mal, ich habe die ärztliche Schweigepflicht schon gebrochen.«
Seine Art, Nein zu sagen.
»Wird er sich wieder erholen?«
»Auf diese Frage kann ich dir keine Antwort geben. Ich hätte nicht gedacht, dass du dich erholen wirst, und jetzt schau dich an.« Er lächelte, ich nicht. »Hoffnung gibt es immer, Delaney.«
Das alles war so sinnlos. Ich hatte diesen Jungen nicht gerettet. Er lebte, ja, aber ich hatte ihn nicht gerettet. Er vegetierte vor sich hin, wie ich es eigentlich tun sollte. Eingefroren. Ich hatte ihn in der Hölle eingesperrt. Der Rettungsring, den mir Dr. Logan zugeworfen hatte, rettete nicht mein Leben. Es war ein Anker. Und ich sank rasch in die Tiefe.
Im Wartezimmer sprach Dr. Logan mit Mum und reichte ihr eine Visitenkarte. »Die Hilfe, die sie braucht, kann ich ihr nicht geben.«
Tabletten. Ans Bett gefesselte Hände. In der Falle. Wie beim letzten Mal, als ich unter Wasser war, konnte ich nur eines denken: nein, nein, nein, nein, nein.