Kapitel 11

Mum hatte für Montagmorgen einen Arzttermin ausgemacht, ohne mir Bescheid zu sagen. Wir fuhren nicht ins Krankenhaus, sondern zu Dr. Logans Praxis, die etwas außerhalb der Stadt lag. Mum parkte den Wagen und stieg aus, während ich im Auto sitzen blieb.

»Los, wir kommen zu spät«, sagte sie stirnrunzelnd.

»Ich brauche keinen Arzt. Mir geht es gut«, sagte ich, was allerdings gelogen war. Ich spürte das Ziehen zu Dr. Logans Praxis, kraftvoll und nachdrücklich. Ein Mensch würde sterben. Ich wollte es nicht sehen, nicht allein, nicht ohne Troy, der mir etwas ins Ohr flüsterte, meine Hand hielt und sich so verhielt, als wäre das etwas ganz Normales.

Mum hängte sich ihre Tasche über die Schulter und deutete auf das Gebäude. »Sofort«, stieß sie zwischen zusammengepressten Lippen hervor.

Als wir die Praxis betraten, hielt ich den Blick starr nach unten auf den kastanienbraunen Teppich gerichtet. Ich stand vor einem großen Aquarium im Empfangsbereich und spürte das Ziehen. Dieses Mal ging es nicht von einer bestimmten Person aus, sondern breitete sich wie ein riesiger Halbkreis hinter mir aus. Es kam von überall, je nach Richtung mal stärker, mal schwächer, genau wie damals im Krankenhaus. Am stärksten zog es mich in die hinterste Ecke.

Im Wartezimmer, in dem Mum und ich Platz nahmen, saßen alte und junge Menschen dicht zusammengedrängt auf gepolsterten Sitzbänken an den Wänden. Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen. Ein Junge mit angsterfüllten Augen atmete geräuschvoll durch den Mund und verfolgte mit unstetem Blick durch den Raum huschende Geister. Eine alte Frau hatte die Hände im Schoß liegen und versuchte, das Zittern ihrer Glieder unter Kontrolle zu bringen. Das Gesicht einer anderen Frau, etwa im Alter meiner Mutter, war halbseitig gelähmt. Als die Arzthelferin sie aufrief, verzog sich die eine Hälfte ihres Mundes zu einem Lächeln, während die andere nach unten hing. Ihr Lächeln sah aus wie ein umgekipptes S.

Ihre Defekte ließen sie unmenschlich erscheinen. Selbst die Fische wussten das. Sie versteckten sich zwischen den Wasserpflanzen und beäugten die Kieselsteine, als ob sie dort den Sinn des Lebens finden würden. Uns würdigten sie keines Blickes.

Wider besseres Wissen hatte ich mich im zweiten Jahr an der Highschool von Decker überreden lassen, Philosophie als Wahlfach zu belegen. Er dachte, es würde Spaß machen, wenn wir einen Kurs zusammen hätten. Aber so war es nicht, es machte überhaupt keinen Spaß. Auf die meisten Fragen gab es keine endgültigen Antworten. Es gab keine Zeitstrahlen, keine Gleichungen, keine Konjugationen. Nur Gedanken und Mutmaßungen und Diskussionen. Decker dachte und mutmaßte und diskutierte. Ich schrieb alles genau mit, in der Hoffnung, eine grundlegende Struktur zu erkennen. Ich zeichnete Pfeile und verband Punkte miteinander. Ich bekam die Bestnote, weil ich mich an alles erinnerte, was in den Stunden besprochen wurde, aber ich selbst sagte kaum etwas.

Es wurde ausführlich darüber diskutiert, was es heißt, ein Mensch zu sein, conditio humana nannten sie es. Dazu gehörte die Fähigkeit, gut und böse zu sein, die Tatsache, dass wir denkende Wesen sind und dass wir einen freien Willen haben. Nein, nein, nein. Ich schüttelte den Kopf, meldete mich und las ihnen meine Liste vor. Der Mensch: dreiundzwanzig Chromosomenpaare, Zweibeiner, vier Herzkammern.

Justin Baxter fletschte sofort die Zähne und sagte, dass sein Onkel das Downsyndrom hatte (und damit ein Chromosom mehr), er aber ganz sicher trotzdem ein Mensch war. Tara Spano, die mich schon damals nicht leiden konnte, meinte: »Und was ist mit Leuten, die ein Bein verloren haben?«

Decker grinste mich nur schief an. Ich presste die Lippen aufeinander und nahm nie wieder an einer philosophischen Diskussion teil.

In Gedanken kehrte ich in meine Philosophiestunde zurück und ergänzte noch etwas auf meiner Liste: Das Gehirn macht uns zum Menschen, das unbeschädigte, im CT-Graustufenbild sichtbare, korrekt verdrahtete Gehirn.

Ich betrachtete den Patienten in der Ecke, von dem das stärkste Ziehen ausging. Er war etwa in meinem Alter. Eine Frau in einem geblümten Oberteil saß neben ihm und starrte ins Leere. Er wiegte vor und zurück und summte pausenlos den gleichen Ton vor sich hin, nur unterbrochen vom Luftholen. Sein Gesicht war grau, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ich hätte auch ohne mein falsch verdrahtetes Gehirn erkannt, dass er krank war.

Doch er war mehr als krank. Das Jucken begann im Zentrum meines Gehirns, nur ganz leicht wie ein Summen, eine zarte Vibration. Aber es hatte begonnen. Er würde sterben. Wie der Patient im Krankenhaus, wie Mrs Merkowitz, wie der alte Mann in den Flammen, wie die Frau in der Kirche. Er würde schon bald nicht mehr am Leben sein. Sehr bald. Als wir schließlich aufgerufen wurden, hatte ich keine Lust, über mich zu sprechen.

»Deine Mutter sagt, du hättest wieder eine Halluzination gehabt.« Dr. Logan setzte sich auf einen Hocker und rollte in Richtung Untersuchungsliege.

»Nein, ich glaube nicht.« Ich starrte auf die Tür und wippte mit dem rechten Bein.

»Erklären Sie doch bitte die Situation«, sagte Dr. Logan zu Mum.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schien dann aber zu realisieren, dass sie mich des Mordes verdächtigen würde, wenn sie ihm sagte, was sie wirklich dachte. Ihre Tochter eine Mörderin. Oder eine Totschlägerin. Eine Gefahr. Ein permanenter Risikofaktor.

»Also, es war in der ersten Nacht zu Hause. Wenn ich noch mal darüber nachdenke, ist sie vielleicht schlafgewandelt. Jetzt nimmt sie ihre Tabletten und seitdem ist es auch nicht mehr vorgekommen.«

»Diese Leute im Wartezimmer sind ziemlich krank, oder?«, sagte ich.

Dr. Logan folgte meinem Blick zu der geschlossenen Mattglastür und sah dann auf die Akte auf seinem Schoß. »Ich kann mit dir nicht über meine anderen Patienten sprechen.«

»Dieser … dieser Junge«, fuhr ich fort und zeigte in Richtung Flur, »der mit der Krankenschwester. Er scheint wirklich sehr krank zu sein.«

»Kommen wir lieber auf dich zu sprechen, Delaney.«

»Was ist los mit ihm?«

»Delaney«, mahnte Mum, »das geht dich nichts an.« Sie warf Dr. Logan einen entschuldigenden Blick zu, aber an ihren hochgezogenen Augenbrauen konnte ich erkennen, dass sie sauer auf mich war.

Ich ging zur Tür und schlug mit der offenen Hand dagegen. »Hören Sie mir überhaupt zu? Er ist krank.« Schwer atmend blieb ich an der Tür stehen. Mir war bewusst, wie völlig verrückt das aussah, aber es war mir egal. Mir war alles egal.

Dr. Logan schloss die Augen und brach die ärztliche Schweigepflicht. »Es sieht schlimmer aus, als es ist. Ehrlich.«

Ich nahm meine Hand von der Glastür, die dort einen Abdruck hinterlassen hatte. Langsam löste er sich von außen nach innen auf. »Nein, ich glaube, Sie sollten ihn noch einmal gründlich untersuchen. Sie müssen ihm helfen!«

Das Jucken wurde allmählich stärker. Es hatte sich noch nicht auf meinen Körper ausgebreitet, meine Hände zitterten noch nicht, aber es würde nicht mehr lange dauern. Ich spürte, wie mir Schweißtropfen über die Stirn rannen.

Dr. Logan blickte zu Mum. »Ich glaube nicht, dass es eine gute Idee war, Delaney in die Praxis zu bringen. Sie sagen, zu Hause geht es ihr besser?«

»Ja«, antwortete Mum und sah dabei aus, als wäre sie stolz auf sich.

»Im Krankenhaus aus dem Koma zu erwachen, war für sie ein traumatisches Erlebnis.« Er strich die Ärmel seines weißen Kittels glatt, als wäre ihm gerade wieder eingefallen, dass ich mich beim Aufwachen daran festgeklammert hatte. »Ich denke, nach den Tagen in der Klinik jetzt hier zu sein, ist zu großer Stress für sie.«

Mein Atem ging schwer, ich war frustriert. Sie hörten mir einfach nicht zu. »Dr. Logan, er stirbt. Um Himmels willen, tun Sie etwas!«

Mum legte mir die Hände auf die Schultern, um mich zum Schweigen zu bringen, aber ich schüttelte sie ab.

Dr. Logan nahm seinen Rezeptblock zur Hand. »Gegen den Stress«, sagte er zu Mum. »Sie gehen jetzt besser.«

Mum packte mich am Arm und zog mich hinter sich her. Öffentliche Demütigung war in der Familienrangliste der Todsünden unter den Top Five. Schlimmer als Unpünktlichkeit. Sie nahm das Rezept, zerrte mich ins Wartezimmer und dann zum Ausgang. Ich wandte mich zu dem Jungen um, der immer noch mit der Krankenschwester auf der Bank saß.

»Hey!«, rief ich in seine Richtung.

Die Krankenschwester blickte hoch, wie auch alle anderen. Alle, mit und ohne Defekt.

»Er wird sterben! Tun Sie was!«

Die Lippen der Schwester zitterten und sie packte den Jungen am Handgelenk. Sein Summen wurde lauter und höher, alles andere im Raum verschwand. Plötzlich bemerkte ich die Arzthelferin dicht vor mir. Sie bewegte den Mund, aber ich hörte nichts anderes als das Summen und sah nichts anderes als die leeren Augen des Jungen. Alles, was ich fühlte, war das Jucken in meinem Kopf, das mit jedem Summton stärker wurde und sich mit steigender Frequenz ausbreitete, als wäre er daran schuld.

Ich presste mir die Hände auf die Ohren und schrie: »Hör auf!« Aber ich konnte ihn immer noch hören. Ich begann selbst zu summen, presste meine Hände weiter auf die Ohren, bis ich seine Stimme nicht mehr hören konnte. Aber das Jucken blieb. Dann kamen zwei Krankenschwestern und ein Mann in einem Anzug, die mich durch den Ausgang zum Auto bugsierten und Mum dabei halfen, mich anzuschnallen. Sie betätigte die Türverriegelung, bevor sie die Tür zuschlug. Mit quietschenden Reifen fuhr sie aus der Parklücke, während die Schwestern und der Mann auf dem Bürgersteig standen und uns nachblickten.

Als ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern sah, war ich entsetzt und hörte auf zu summen. Aber nichts war schlimmer, als in Mums Gesicht zu schauen. Ihre Hände auf dem Lenkrad zitterten und sie zog schluchzend die Luft ein, obwohl sie nicht weinte.

Sie setzte mich zu Hause ab, mit der strikten Anweisung, das Haus (oder besser gesagt mein Zimmer) nicht zu verlassen, während sie ein weiteres Medikament besorgen wollte, das ich den Abfluss hinunterspülen würde. Aber ich nahm sie ernst. Schließlich hatte sie sogar die Beifahrertür verriegelt und ich hatte Angst davor, was sie womöglich noch tun könnte.

Doch als ich kurz darauf laute Motorgeräusche hörte und es anschließend klingelte, musste ich einfach aufmachen, denn ich wusste, es war Troy. Er würde mich verstehen. Deshalb ging ich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, zog ihn ins Haus, umklammerte seine Hände und flüsterte: »Du musst wieder gehen.«

»Warum? Was ist passiert?«

Ich lehnte mich an ihn und er legte mir die Arme um die Taille. Als ich seinen Geruch einatmete, fiel alles andere von mir ab. »Ich habe versucht, jemanden zu retten.«

Er versteifte sich und schob mich weg. »Du hast … was?« Er biss die Zähne zusammen. »Was hast du gemacht?«

»Ich habe meinem Arzt gesagt, dass jemand sterben wird.«

Troy packte mich am Oberarm. »Warum hast du das getan?« Dann schüttelte er mich. »Wie kannst du nur so blöd sein?«

Ich zuckte zusammen und erinnerte mich daran, wie wenig ich von Troy wusste – und er von mir. »Ich bin nicht blöd«, sagte ich und sah auf seine Finger, die mich umklammerten.

Langsam lockerte er den Griff. »Verdammt, es tut mir leid. So habe ich es nicht gemeint. Aber das hat keinen Sinn, Delaney. Du kannst nichts tun. Sonst glauben die Leute, du bist verrückt. Oder sie verdächtigen dich, irgendwas damit zu tun zu haben.«

Ich nickte und rieb mir den Arm, während ich daran dachte, wie meine Eltern mich verdächtigt hatten, etwas mit dem Tod von Mrs Merkowitz zu tun zu haben.

»Ich habe versucht, es dir zu erklären. Ich dachte, es würde dir helfen. Du kannst sie nicht retten. Das ist die Hölle.«

Seine Augen waren weit aufgerissen, die Zähne fest aufeinandergepresst. Er sah gar nicht mehr freundlich aus, sondern gefährlich.

Ich schaute zum Fenster. »Was machst du hier?«

»Du hast gesagt, du kommst heute vorbei, wegen deiner Hand. Ich dachte, du gehst mir vielleicht aus dem Weg. Ich habe gerade Pause und hier bin ich.«

Er hatte Recht. Ich ging ihm aus dem Weg. Wegen gestern Abend. War es wirklich erst gestern Abend gewesen?

»Ich hatte einen Arzttermin, von dem mir Mum nichts gesagt hatte. Es tut mir leid.«

Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wolle er die Anspannung wegwischen. »Okay, kein Problem. Tut mir auch leid. Auf jeden Fall sollten wir uns heute Abend treffen, dann können wir offen reden.«

»Ich bin schon verabredet.«

»Mit wem?« Er verzog den Mund, aber er lächelte nicht.

»Mit Decker. Der Typ aus der Pizzeria.«

»Dein Nachbar? Habt ihr ein Date?«

Da bemerkte ich, dass sein rechter Vorderzahn etwas abgesplittert war, und fragte mich, ob das bei einem Streit oder bei dem Unfall passiert war. Ich fragte mich auch, warum mir das nicht aufgefallen war, als ich ihn geküsst hatte. »Nein, kein Date. Es ist ein Theaterstück, für die Schule.«

»Du bist eine schlechte Lügnerin, Delaney.« Er trat einen Schritt näher und beugte sich zu mir. »Er kennt dich nicht.«

»Ich denke, du solltest jetzt gehen.«

»Gestern Abend hatte ich nicht den Eindruck, als wolltest du, dass ich gehe, wenn ich mich richtig erinnere.«

Er hatte schon wieder Recht und das ärgerte mich. Vor allem, weil mir der abgesplitterte Zahn nicht aufgefallen war, der mir jetzt gewissermaßen ins Gesicht schrie. Und wenn ich das nicht bemerkt hatte, was war mir sonst noch verborgen geblieben? Ich konnte bei Troy nicht klar denken. Es war wie ein Schwindelgefühl. Wie ins Nichts fallen.

Ich hörte, wie die Garage aufging. Der Krampf in meinem Magen löste sich. »Meine Mutter. Ich darf keinen Männerbesuch haben, wenn sie nicht zu Hause ist.«

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und hielt beide Hände hoch, als wollte er sagen: Ich bin unschuldig. Ohne mich aus den Augen zu lassen, ging er zur Haustür. Zum Abschied lächelte er nur und sagte: »Genieß den Abend.«

Gerade als Troy das Haus verließ, kam Mum herein.

»Ich wusste nicht, dass er vorbeikommen würde, ich schwöre«, sagte ich, mein Atem ging stoßweise.

Mum grinste. Ein richtiges Grinsen. »Schon okay, Schatz.« Sie hängte ihre Jacke über einen Stuhl und riss die Papiertüte aus der Apotheke auf.

»Bist du nicht sauer, dass er da war?«

»Nein, Delaney, obwohl es mir lieber wäre, wenn er das nächste Mal vorher anrufen würde.«

Ich umklammerte die Rückenlehne des Esszimmerstuhls und fragte mich, ob ich mir die ganze Szene in der Arztpraxis nur eingebildet hatte. Wie konnte sie nur so schnell zwischen zwei Gefühlen umschalten? Erst tat sie so, als sei ich verrückt, und jetzt das?

Und dann begriff ich. Das war normal. Jungsbesuch. Einen Typen rauswerfen, bevor die Eltern heimkommen. Genau so benahm sich ein normaler Teenager. Sie war erleichtert.

Sie drückte eine Tablette aus der Packung und legte sie in ihre Handfläche. »Man soll sie beim Essen nehmen. Willst du einen Keks oder einen Rest Pastete?«

»Ich kann sie jetzt nicht nehmen. Ich gehe heute Abend mit Decker ins Theater. Ich habe keine Lust, abzudrehen.«

»Das wirst du nicht. Es wird dir besser gehen. Außerdem glaube ich nicht, dass du heute Abend ausgehen solltest.«

»Er hat es mir zu Weihnachten geschenkt. Und du hast ihm versprochen, dass ich gehen darf. Außerdem ist es für die Schule. Und ich kann die verdammte Pille auch noch nehmen, wenn ich wieder zu Hause bin.«

Mum setzte ihre entschlossene Miene auf und reckte das Kinn nach vorn. »Du darfst gehen, wenn du die Tablette nimmst.«

Ich versuchte, ihren Gesichtsausdruck zu imitieren, reckte das Kinn vor und presste die Kiefer aufeinander. Doch ihrer Reaktion nach zu urteilen, gelang es mir nicht. Ich ließ den Kopf wieder sinken. »Keks«, sagte ich.

Als sie in die Küche ging, wurde mir zum ersten Mal bewusst, wie groß ihre Willenskraft und ihr Durchsetzungsvermögen waren. Sie war von zu Hause weggegangen und hatte ihr Leben selbst in die Hand genommen. Meine Mutter hatte sich selbst aus ihrer persönlichen Hölle befreit. Sie war geflohen. Das konnte Troy auch schaffen.

Ich aß den Schokoladenkeks, nahm die Tablette in den Mund und schob sie mit der Zunge zur Seite. Dann bat ich Mum, mich fürs Theater fertigmachen zu dürfen. Ich spülte die Tablette im Klo hinunter und versuchte, mir zu überlegen, wie ich das Troy erklären konnte. Dass die Hölle ein Ende haben konnte. Dass es einen Ausweg gab. Ich dachte darüber nach, was Mum gemacht hatte. Sie war gegangen. Okay, das hatte Troy schon hinter sich. Was hatte sie sonst gemacht? Wie lange hatte sie gebraucht? Ich konnte seine Vergangenheit nicht ändern, ich konnte auch seine Gegenwart nicht ändern, aber ich konnte ihm etwas geben. Vielleicht ein bisschen Hoffnung.

Ich ging auf Zehenspitzen die Treppe hinunter und fand Mum am Küchentisch. Sie las den Beipackzettel der neuen Medikamente. Sie hätte sich nicht so viele Gedanken darüber machen müssen, die Tablette schwamm ohnehin gerade im Abwasserkanal.

»Mum«, sagte ich, aber sie starrte weiter auf den Zettel, als hätte sie mich nicht gehört.

»Mum«, sagte ich noch einmal.

Sie hob die Hand. »Nicht jetzt, Delaney.«

»Ich wollte dich etwas fragen, über … deine Eltern. Und …«

Sie fuhr herum und schrie: »Nicht jetzt, sagte ich!«

Und da sah ich, dass sie geweint hatte. »Irgendwas nicht in Ordnung?«

Sie lachte, ein trauriges, gehässiges Lachen. »Ja, ganz offenbar mit dir.«

Ich taumelte zurück und prallte gegen die Tür. Zum ersten Mal verstand ich das physikalische Phänomen, dass Schallwellen Energie übertragen können. Mums Worte pressten sich direkt in meine Eingeweide.

Ich rannte aus der Küche, die Stufen hoch in mein Zimmer und schlug die Tür zu. Ich lehnte mich von innen dagegen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dabei kam mir in den Sinn, dass die Hölle womöglich kein Ort, sondern etwas anderes war. Etwas Ansteckendes. Etwas, das die Stufen hinauf- und unter meiner Tür hindurchkriechen konnte. Etwas mit Hörnern, das Feuer spuckte und ein bisschen nach Schwefel roch. Etwas, das überall Wurzeln schlagen konnte, das alles grau färbte und ein freundliches in ein höhnisches Lächeln verwandelte.

Während ich mich umzog, schlug ich mir auf den Rücken und strich über meinen Bauch, denn ich konnte es fühlen. Ich schwöre, ich konnte fühlen, wie es nach mir griff und sich an mir festklammern wollte.