Kapitel 1

Als ich das erste Mal starb, habe ich keinen Gott gesehen. Kein Licht am Ende des Tunnels. Keine Engel mit Heiligenschein. Keine verstorbenen Großeltern.

Um ehrlich zu sein: Wahrscheinlich war ich nicht gerade eine Topkandidatin für den Himmel. Aber irgendwie war ich trotzdem davon ausgegangen, dass ich es dorthin schaffen würde.

Da war auch kein Fegefeuer.

Nicht einmal endlose Dunkelheit. Einfach nichts.

Eben noch krallte ich mich in das Eis über mir, meine Haut war taub, meine Lunge brannte. Dann war plötzlich alles verschwunden: das Eis, der Schmerz, der helle Schein, der durch die zugefrorene Wasseroberfläche des Sees drang.

Und dann kam das Licht.

Ein weiß gekleideter Mann – ganz sicher nicht Gott – leuchtete ein paarmal mit einer kleinen Lampe in meine Augen, dann zog er einen dicken Schlauch aus meinem Hals. Er sagte etwas und seine Stimme klang genau so, wie ich mir die Stimme Gottes immer vorgestellt hatte: sanft und doch bestimmend. Aber ich wusste, dass er nicht Gott war, denn wir waren in einem puddinggelben Raum und ich hasse Pudding. Außerdem steckten mindestens fünf Schläuche in meinem Körper. So viel Plastik konnte es im Himmel gar nicht geben.

Beweg dich, dachte ich. Aber das Einzige, was sich bewegte, war etwas verschwommen Weißes, als der Mann meinen reglosen Körper von oben bis unten untersuchte. Sag was, dachte ich. Aber nur sein Mund spuckte Geräusche aus: Zahlen und Buchstaben und fremd klingende Wörter.

Ich saß nach wie vor in der Falle. Aber jetzt starrte ich nicht mehr von unten auf die Eisdecke eines zugefrorenen Sees, sondern aus einem zu Eis erstarrten Körper. Ich fühlte mich noch immer wie unter Wasser: nutzlos, schwer und voller Angst. Ich war gefangen in meinem eigenen Körper und hatte nichts mehr unter Kontrolle.

»Die Krankengeschichte, bitte«, sagte der Mann, der nicht Gott war. Er hob meinen Arm und ließ ihn wieder fallen. Jemand im Hintergrund gähnte geräuschvoll.

Ich hörte das Echo blecherner Stimmen aus der Ferne.

»Weiblich, siebzehn Jahre.«

»Schwere Gehirnschädigung durch Sauerstoffmangel.«

»Nicht ansprechbar.«

»Seit sechs Tagen im Koma.«

Sechs Tage? Ich klammerte mich an die Wörter, zog mich an die Oberfläche und wiederholte sie so lange, bis sie nichts weiter waren als eine Anhäufung von Konsonanten und Vokalen. Sechs Tage, sechs Tage, sechs Tage.

Sechs Tage. Fast eine ganze Woche. Weg. Der Mann in Weiß hatte ein Stethoskop um den Hals hängen, das sich dicht vor meiner Nase hin- und herbewegte wie das Pendel einer Uhr.

Spulen wir sechs Tage zurück. Decker Phillips, mein bester Freund seit ewigen Zeiten und noch länger mein Nachbar, brüllte am Fuß der Treppe: »Beweg deinen Arsch hier runter, Delaney! Wir sind spät dran!«

Mist. Ich klappte meine Englischhausaufgaben zu und suchte in der Kommode nach meiner Skiunterwäsche.

»Sekunde!«, rief ich, während ich mich in meine Skiunterhose zwängte. Sie musste seit letztem Winter eingegangen sein. Ich schaffte es, sie mir über die Hüften zu zerren, und versuchte, den Bund etwas zu lockern, der mir den Bauch einschnürte. Aber sosehr ich den Gummi auch dehnte, er schnalzte sofort wieder in die Ausgangsposition zurück. Schließlich packte ich den Bund an beiden Seiten an der Naht und zog so lange, bis ich den Stoff reißen hörte. Sieg.

Dann kamen die Skihose, die Jacke und die Mütze dran. Die Handschuhe stopfte ich in die Jackentaschen. Durch die vielen Stoffschichten wirkte ich doppelt so breit wie sonst, aber es war schließlich Winter. Noch dazu Winter in Maine. Ich rannte die Treppe hinunter und übersprang die letzten drei Stufen.

»Fertig«, sagte ich.

»Bist du verrückt?«, fragte Decker und musterte mich.

»Was meinst du?« Ich stemmte die Hände in die Hüften.

»Das ist nicht dein Ernst.«

Wir wollten Manhunt spielen, eine Art Versteckfangen. Die meisten spielten es im Dunkeln und trugen Schwarz. Wir spielten es im Schnee und trugen deshalb Weiß. Leider hatte meine Mutter meinen alten weißen Anorak entsorgt und als Ersatz eine rote Skijacke gekauft.

»Na ja, besser als erfrieren«, sagte ich.

»Keine Ahnung, warum ich jedes Mal wieder so blöd bin, dich in mein Team zu wählen. Du bist lahm. Du bist laut. Und jetzt auch noch die perfekte Zielscheibe.«

»Du wählst mich, weil du mich liebst.«

Decker schüttelte den Kopf und kniff die Augen zusammen. »Du blendest.«

Ich sah an mir hinunter. Er hatte Recht. Meine Jacke strahlte in grellem Rot. »Ich zieh sie falsch rum an, wenn wir da sind. Das Futter ist nicht ganz so schlimm.«

Decker drehte sich zur Tür, und ich hätte schwören können, dass er grinste.

»Übrigens reg ich mich ja auch nicht über deine Haare auf. Meine passen sich wenigstens der Umgebung an.« Ich wuschelte mit beiden Händen durch seinen schwarzen Schopf, aber er schüttelte mich ab wie einen aufdringlichen Moskito. Als wäre ich ihm lästig.

Decker packte mich am Handgelenk und zerrte mich durch die Tür. Ich stolperte hinter ihm her. Wir durchquerten erst unseren, dann Deckers Garten nebenan. Anschließend kletterten wir über eine Schneewehe am Straßenrand. Dann rannten wir mitten auf der Straße weiter, denn die Bürgersteige waren mit einer frischen Schneeschicht bedeckt. Ich korrigiere: Decker rannte. Ich rannte nur, wenn er sich nach mir umdrehte, meistens ging ich. Trotzdem war ich ziemlich außer Puste, als wir um die Straßenecke bogen.

An der Abzweigung zum See flog Decker in sechs Riesenschritten den Hügel hinunter. Ich machte einen Umweg und ging die Böschung entlang, bis auch ich den Falcon Lake erreichte, wo Decker schon wartete. Ich beugte mich nach vorn, stützte mich mit den Händen auf den Knien ab und versuchte, zu Atem zu kommen.

»Gib mir eine Minute«, keuchte ich.

»Machst du Witze?«

Immer wenn ich ausatmete, quollen weiße Wölkchen aus meinem Mund, die sich auf dem Weg in Richtung Boden auflösten. Als ich mich wieder aufrichtete, folgte ich Deckers Blick über die Mitte des Sees zur gegenüberliegenden Seite. Ich konnte die Bewegungen vor dem weißen Hintergrund kaum erkennen. Selbst wenn ich meine Jacke falsch herum anzog, hatten wir keine Chance.

Zwischen den weiß überzogenen Büschen an der Uferlinie war unter der frischen Schneedecke eine dreckige Spur zu erahnen. Decker folgte der Spur mit den Augen, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen auf der anderen Seite zu.

»Lass uns rübergehen.« Er packte mich am Ellbogen und zog mich in Richtung See.

»Ich leg’ mich bestimmt flach.« Ich hatte zwar Profilsohlen, aber das wog meine fehlende Körperbeherrschung bei Weitem nicht auf.

»Wirst du nicht.« Decker trat auf die schneebedeckte Eisfläche. Er wartete einen Augenblick, bis ich an seiner Seite war, dann ging er weiter.

Im Januar liefen wir auf dem See Schlittschuh. Im August saßen wir barfuß am Kiesufer und hielten unsere Zehen ins Wasser. Selbst im Hochsommer war das Wasser zum Schwimmen zu kalt. Jetzt war es Anfang Dezember. Ein bisschen früh fürs Schlittschuhlaufen, aber die einheimischen Eisfischer meinten, die Seen seien in diesem Jahr schon zugefroren. Sie planten bereits einen Trip in den Norden.

Decker war sportlich und ging so schnell und sicher über den See, als hätte er festen Boden unter den Füßen. Ich dagegen stolperte und schlitterte fast bei jedem Schritt, obwohl ich die Arme waagerecht zur Seite gestreckt hatte, als würde ich auf einem Drahtseil balancieren.

Auf halber Strecke rutschte ich aus und prallte gegen Decker. Er umklammerte meine Taille.

»Pass auf«, sagte er und hielt mich an seine Seite gepresst.

»Ich will zurück«, jammerte ich. Ich war gerade weit genug gekommen, um die Gesichter von acht meiner Mitschüler auf der anderen Seite des Sees zu erkennen. Dieselben acht, die ich schon mein ganzes Leben kannte, in guten wie in schlechten Tagen.

Carson Levine, dessen blonde Locken unter seiner Mütze hervorquollen, formte mit den Händen einen Trichter und rief: »Hält es?«

Decker ließ die Arme sinken und ging weiter. »Tot bin ich jedenfalls noch nicht«, rief er zurück. Er wandte sich zu mir und stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Dein Freund wartet.«

»Er ist nicht mein …«, begann ich, aber Decker hörte gar nicht zu. Er ging einfach weiter. Ich blieb stehen – so lange, bis er festen Boden unter den Füßen hatte und ich allein in der Mitte des Sees stand.

Carson klopfte Decker auf den Rücken. Ihm würgte Decker keinen Spruch rein. Was für ein Heuchler.

Vor zwei Tagen hatte ich das Beste-Freunde-Gebot Nummer eins gebrochen: Du sollst nicht mit dem besten Freund deines besten Freundes auf der Couch des besagten besten Freundes rummachen. Ich drehte mich langsam um die eigene Achse, um zu beurteilen, wie ich schneller wieder an Land kommen würde: zurück oder vorwärts. Die Strecke zu Decker und den anderen war etwas kürzer.

»Mach schon, Delaney!«, rief Decker. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Ich komm ja schon«, murmelte ich. Ich ging schneller – und dann rutschte ich aus. Als ich fiel, streckte ich die Hände nach Decker aus, obwohl ich wusste, dass er zu weit weg war. Ich landete direkt auf meinem Arm und fühlte etwas brechen. Mein Knochen war es nicht. Es war das Eis.

Nein.

Mein linkes Ohr war gegen die Eisfläche gepresst, und ich hörte, wie sich der Riss verzweigte – erst langsam, dann immer schneller. Aus einem leisen Knistern wurde ein Knacken und Bersten. Dann war es still.

Stocksteif blieb ich liegen. Vielleicht würde das Eis halten, wenn ich mich nicht bewegte. Ich sah Deckers Beine auf mich zurennen. Und in diesem Moment gab das Eis nach.

»Decker!«, schrie ich. Ich spürte das Wasser, dickflüssig und schwer, kurz bevor ich versank – und dann war da nur noch Panik, Panik, Panik.

Ich war nicht klar genug im Kopf, um zu denken: Bitte, Gott, lass mich nicht sterben. Mir fehlte der Mut, um zu denken: Ich hoffe, Decker ist nicht aufs Eis gelaufen. Mein einziger Gedanke, der sich in einer Endlosschleife drehte, war: Nein, nein, nein, nein, nein.

Zuerst kam der Schmerz wie Nadeln, die mir in die Haut stachen. Meine Eingeweide zogen sich zusammen, alles rollte sich ein, um vor der Kälte zu fliehen. Dann kam der Lärm. Wasser, das in meine Ohren strömte, und der Schmerz meiner erfrierenden Trommelfelle. Dieser Schmerz hatte einen Klang, ein hohes, schrilles Rauschen. Schnell sank ich in die Tiefe. Meine dicke Daunenjacke zog mich nach unten, und ich versuchte verzweifelt, mich zu orientieren.

Um mich herum war nichts als aufgewühltes schwarzes Wasser, doch über mir waren Fußabdrücke, die sich immer weiter entfernten … kleine helle Flächen, dort, wo Decker und ich Spuren hinterlassen hatten. Ich kämpfte mich darauf zu. Mein Hirn befahl meinen Beinen, sich kraftvoller zu bewegen, aber sie reagierten nur mit einem schwachen Paddeln. Ich würde es vielleicht bis zur Wasseroberfläche schaffen, aber das Loch, durch das ich gefallen war, würde ich nicht wiederfinden. Ich schlug um mich, immer und immer wieder, aber das Wasser war zäh wie Sirup und das Eis dick und hart wie Stahl. In meiner Panik schluckte ich Unmengen eiskaltes Wasser. Ich hustete und schluckte und hustete und schluckte, bis sich der Druck auf meiner Brust bleischwer anfühlte und meine Arme und Beine nicht mehr in der Lage waren, sich zu bewegen.

Aber dann, einen Augenblick bevor alles dunkel wurde, hörte ich eine Stimme. Ein Flüstern. Als würde sich ein Mund gegen mein Ohr pressen.

Kämpfe, sagte die Stimme. Wüte. Wüte gegen das Splitterlicht.

Blinzeln.

Die energische Stimme sagte: »Und heute atmet sie ohne Beatmungsgerät. Prognose?«

»Wachkoma, im besten Fall.«

Das Gemurmel im Hintergrund wurde klarer.

»Dann wäre sie tot besser dran. Warum wurde sie überhaupt intubiert, wenn sie doch eindeutig hirntot ist?«

»Sie ist minderjährig«, sagte der diensthabende Arzt und beugte sich über mich, um die Schläuche zu überprüfen. »Man hält ein Kind immer so lange am Leben, bis die Eltern da sind.«

Der Arzt trat einen Schritt zurück und gab den Blick auf einen Engelschor frei. Frauen und Männer in weißen Kitteln lehnten an den Wänden, ihre Münder waren geöffnet, als würden sie himmlische Lieder singen.

»Dr. Logan, ich glaube, sie ist wach.«

Sie starrten mich an, ich starrte sie an.

Dr. Logan lachte leise. »Dr. Klein, Sie werden noch lernen, dass viele komatöse Patienten ihre Augen öffnen. Das heißt aber nicht, dass sie auch etwas wahrnehmen.«

Beweg dich. Sag was. Wieder flüsterte die Stimme in mein Ohr. Sie verlangte Wut. Und ich war wütend. Ich schlug gegen die Arme des Arztes, ich zerrte an seinem weißen Kittel. Ich bohrte meine Nägel in sein Fleisch, als er versuchte, mich abzuwehren. Ich strampelte mit den Beinen und versuchte mit aller Kraft, mich von den weißen Laken zu befreien. Ich war wütend, weil ich die Stimme in meinem Ohr erkannte. Es war meine eigene.

»Der Name! Ihr Name!«, schrie der Arzt. Er beugte sich über mein Bett und hielt mich zurück, den Unterarm mit aller Kraft auf meine Brust gedrückt. Aber ich schlug weiter um mich, die ganze Zeit.

»Delaney. Sie heißt Delaney Maxwell«, rief eine Stimme hinter ihm.

Mit der freien Hand umfasste der Arzt mein Kinn und zog meinen Kopf zu sich heran. Sein Gesicht kam mir so nah, dass ich den Pfefferminzgeruch in seinem Atem riechen und die Fältchen an seinen Mundwinkeln erkennen konnte. Er sagte kein Wort, bis sich unsere Blicke trafen, dann wich er zurück.

»Delaney. Delaney Maxwell. Ich bin Dr. Logan. Du hattest einen Unfall. Du bist im Krankenhaus. Dir geht es gut.«

Die Panik legte sich. Ich war frei. Befreit vom Eis, befreit aus meinem eiskalten Gefängnis. Ich bewegte die Lippen, um etwas zu sagen, aber sein Arm auf meiner Brust und seine Hand an meinem Kinn erstickten meine Frage. Langsam gab Dr. Logan mich frei.

»Wo«, setzte ich an. Meine Stimme war ganz rau und heiser, wie bei einem starken Raucher. Ich räusperte mich und fuhr fort: »Wo ist …« Ich konnte nicht weitersprechen. Das Eis brach. Ich sank in die Tiefe. Und er war nicht da.

»Deine Eltern?«, beendete Dr. Logan die Frage für mich. »Keine Sorge, sie sind hier.« Er drehte sich zum Engelschor um und sagte barsch: »Holt sie her.«

Aber das wollte ich gar nicht fragen. Meine Eltern hatte ich gar nicht gemeint.

Dr. Logan schob die anderen aus dem Zimmer, allerdings blieben sie in der Nähe. Sie drängten sich an der Tür und flüsterten miteinander. Der Arzt stand mit verschränkten Armen in der Ecke und beobachtete mich. Sein Blick wanderte über meinen Körper, als wollte er mich ausziehen. Mir war jedoch ziemlich klar, dass es ihm mehr um eine ärztliche Analyse meines Zustands ging. Sein stechender Blick wanderte Stück für Stück weiter, zog meine Haut ab, durchtrennte meine Muskeln und meine Knochen. Ich versuchte, mich von ihm wegzudrehen, aber alles fühlte sich so unendlich schwer an.

Meine Mutter bahnte sich einen Weg durch die Engelschar und hielt sich am Türrahmen fest. Dann griff sie sich mit beiden Händen an die Brust und stürzte auf mich zu.

»Oh, mein Liebling!« Sie nahm meine Hand und legte sie sich auf das Gesicht. Dann schmiegte sie den Kopf an meine Schulter und weinte. Ihre heißen Tränen rannen mir den Nacken hinunter, ihre braunen Locken rochen nach abgestandenem Haarspray. Ich drehte den Kopf weg und atmete durch den Mund.

»Mum«, sagte ich, aber sie schüttelte nur den Kopf und ihre Locken kratzten mich am Kinn.

Mein Vater folgte ihr ins Zimmer. Er lächelte und lachte und schüttelte dem Arzt die Hand. Dem Arzt, der nicht einmal meinen Vornamen gekannt und angenommen hatte, ich würde nie wieder aufwachen. Dad schüttelte ihm die Hand, als wäre das alles sein Verdienst.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, um die Frage zu stellen, die mich eigentlich beschäftigte: »Wo ist Decker?« Meine Stimme klang rau und fremd.

Mum antwortete nicht, hörte aber auf zu weinen. Sie richtete sich auf und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.

»Dad, wo ist Decker?«, fragte ich mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

Mein Vater kam zur anderen Seite des Bettes und legte eine Hand auf meine Wange. »Er ist hier irgendwo.«

Ich schloss die Augen, die Anspannung ließ nach. Decker ging es gut. Mir ging es gut. Wir waren beide okay.

Dr. Logan begann wieder zu sprechen: »Delaney, du warst eine ganze Weile ohne Sauerstoffzufuhr und es gab einige … Schäden. Mach dir keine Sorgen, wenn dir bestimmte Wörter nicht einfallen oder du dich nicht erinnern kannst. Du brauchst Zeit, um wieder gesund zu werden.«

Offensichtlich war ich doch nicht okay.

Und dann hörte ich ihn. Lange Schritte, die den Flur entlanghasteten, Stiefel, die um die Ecke bogen, das Quietschen auf dem Linoleum, als er ins Zimmer schlitterte. »Was ist los? Was ist passiert?«, fragte er völlig außer Atem, während er die Gesichter im Raum musterte.

»Überzeug dich selbst, Decker«, antwortete Dad und trat einen Schritt zurück.

Deckers schwarze Haare hingen über seinen grauen Augen. Darunter zogen sich purpurrote Ringe bis zu den Wangenknochen. Ich hatte ihn noch nie so blass und mutlos erlebt. Schließlich schaute er mich an.

»Du siehst richtig scheiße aus«, sagte ich und versuchte zu lächeln.

Er lächelte nicht zurück, sondern brach weinend neben meinem Bett zusammen. Heftige Schluchzer ließen seinen Körper erzittern. Mit jedem Atemzug krallten sich seine bandagierten Finger in mein Bettlaken.

Decker war nicht der weinerliche Typ. Ich hatte ihn nur ein einziges Mal weinen sehen, nachdem er zu alt dafür geworden war, in der Öffentlichkeit Schwäche zu zeigen. In unserem ersten Jahr an der Highschool. Er war beim Baseball ausgerutscht und hatte sich den Arm gebrochen. Das war grenzwertig, aber gerade noch akzeptabel gewesen. Immerhin ragte ihm ein Knochen aus dem Fleisch. Außerdem hatte seine Mannschaft durch seinen Einsatz das Spiel gewonnen, was das Weinen ausglich.

»Decker«, sagte ich. Ich hob die Hand, um ihn zu trösten. Aber dann erinnerte ich mich an das letzte Mal, als ich ihm übers Haar streichen wollte – er hatte mich abgeschüttelt.

Vor sechs Tagen, hatten sie gesagt. Mir kam es wie ein paar Minuten vor.

»Es tut mir leid.« Das war alles, was er zwischen den Schluchzern über die Lippen brachte.

»Was denn?«

»Alles. Es ist alles meine Schuld.«

»Junge …«, mischte sich Dad ein.

Doch Decker sprach unter Tränen weiter. »Ich hatte es so verdammt eilig. Es war meine Idee. Ich wollte, dass du über den See gehst. Und ich habe dich alleingelassen. Ich kann gar nicht glauben, dass ich dich allein …« Er setzte sich auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Ich hätte sofort zu dir rennen müssen. Ich hätte nicht zulassen dürfen, dass sie mich zurückhalten.« Er vergrub das Gesicht in seinen Händen.

Ich dachte schon, er würde erneut zusammenbrechen, aber er riss sich zusammen und atmete nur ein paarmal tief durch. Dann blickte er besorgt auf meine Verbände und verzog das Gesicht. »Delaney, ich hab dir ein paar Rippen gebrochen.«

»Was?« Daran hätte ich mich erinnert.

»Schatz«, sagte Mum, »er hat dich wiederbelebt. Er hat dir das Leben gerettet.«

Decker schüttelte den Kopf, sagte aber nichts mehr.

Dad legte ihm die Hände auf die Schultern. »Es gibt nichts, was dir leidtun müsste, Junge.«

Im Nebel aus Medikamenten, die durch meine Blutbahn rauschten, stellte ich mir Decker vor, wie er eine tote Version von mir wiederbelebte. In Bio im zweiten Highschooljahr hatte ich Tara Spano als Partnerin bei der Wiederbelebungsübung. Mr Gersham zeigte uns, wo wir unsere Hände hinlegen sollten, und zählte laut mit, während wir eine Herzdruckmassage simulierten, ohne dabei jedoch richtigen Druck auszuüben.

Hinterher machte Tara ein Riesentamtam. Sie rückte ihren D-Körbchen-BH zurecht und stöhnte: »Mensch Delaney, das war ja mehr Action, als ich sonst in einer ganzen Woche erlebe.«

Für mich war das mehr Action als in meinem ganzen bisherigen Leben gewesen, aber das behielt ich für mich. Daraufhin kursierten ein paar Tage lang Gerüchte, Tara und ich seien lesbisch. Bis Tara den Gegenbeweis antrat – und zwar mit Jim Harding, dem Captain des Football-Teams.

Ich führte meine Hand an meine Lippen und schloss die Augen. Deckers Mund auf meinem Mund. Sein Atem in meiner Lunge. Seine Hände auf meinem Brustkorb. Der Arzt, meine Eltern, seine Freunde – alle wussten es. Es war zu intim. Zu privat und jetzt zu öffentlich. Ich achtete darauf, dass ich Decker nicht ansah, als ich die Augen wieder öffnete.

»Es tut mir leid«, sagte Dr. Logan und rettete mich aus meiner Verlegenheit, »aber ich muss dich jetzt komplett durchchecken.«

»Geh nach Hause, Decker«, sagte Dad. »Ruh dich aus. Sie wird danach immer noch hier sein.«

Mum, Dad und Decker lächelten dieses breite, wissende Lächeln, als teilten sie ein Geheimnis, das ich niemals erfahren würde.

Die anderen Ärzte marschierten wieder auf, drängten sich um mein Bett und kritzelten auf ihre Notizblöcke. Dieses Mal lehnten sie nicht an der Wand.

»Was ist passiert?«, fragte ich in die Runde und spürte, wie sich meine Kehle zuschnürte.

»Du warst tot.« Dr. Klein lächelte, als er das sagte. »Ich war hier, als du eingeliefert wurdest. Du warst tot.«

»Und jetzt bist du es nicht mehr«, sagte eine jüngere Ärztin.

Dr. Logan pikste in meine Haut und verdrehte meine Arme und Beine, aber es tat nicht weh. Ich konnte kaum etwas spüren. Hoffentlich würden sie die Schläuche bald herausziehen.

»Ein Wunder«, sagte Dr. Klein. Das Wort klang luftig-leicht.

Ich schloss die Augen. Ich fühlte mich gar nicht luftig-leicht. Ich fühlte mich bleischwer. An die Erde gekettet. Gar nicht wie ein Wunder. Eher wie Ballast. Ein Zufallstreffer. Oder eine Anomalie. Ein Wort, das weniger Ehrfurcht gebietend klang.

Mein Hals war entzündet und geschwollen und das Sprechen fiel mir schwer. Aber es war ohnehin viel zu laut, um zu Wort zu kommen. Im Zimmer herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Krankenschwestern überprüften immer wieder die Werte der lebenswichtigen Organe. Dad war ständig unterwegs, holte Informationen ein und gab sie dann an uns weiter.

»Morgen wirst du von der Station für Traumapatienten entlassen«, sagte er, was mich glücklich machte, denn ich hasste dieses Zimmer: Klaustrophobie in einer abscheulichen Farbe.

»Morgen machen sie Tests und dann beginnt die Reha«, fuhr er fort, was mich sogar noch glücklicher machte, denn in Tests schnitt ich immer gut ab.

Mum tippte mit dem Fuß auf den Boden, während die Ärzte sprachen. Sie nickte, wenn Dad etwas sagte. Aber sie selbst schwieg. Das Chaos schien sie verschluckt zu haben. Trotzdem war sie die einzige Konstante im Raum. Ich hielt mich an ihr fest und sie ließ meine Hand nicht los. Ihre Finger lagen auf meinem Handrücken, ihr Daumen auf der Innenseite meines Handgelenks. Alle paar Minuten schloss sie die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Und dann begriff ich, was sie tat: Sie fühlte in regelmäßigen Abständen meinen Puls.

Am Ende des Tages steckten immer noch einige Schläuche in meinem Körper.

Eine Krankenschwester namens Melinda zog mir die Decke bis zum Kinn und strich mir die Haare zurück. »Wir werden dich ganz langsam runterfahren, Schätzchen.« Ihre tiefe Stimme klang beruhigend. Melinda hängte einen neuen Infusionsbeutel an und überprüfte die Schläuche. »Du wirst bald wieder etwas spüren. Es braucht einfach etwas Zeit.« Sie legte mir eine Tablette auf die Zunge und hielt mir einen Pappbecher an die Lippen.

Ich nahm einen kleinen Schluck.

»Damit du schlafen kannst, Schätzchen. Du musst gesund werden.«

Eingehüllt vom Piepsgeräusch des Monitors, dem Surren der Geräte und dem konstanten Plopp, Plopp, Plopp der Flüssigkeit, die aus dem Infusionsbeutel tropfte, dämmerte ich weg.

Eine raue Hand strich über meine Wange. Ich öffnete die Augen und erkannte in der Dunkelheit links neben mir einen noch dunkleren Schatten. Er beugte sich über mich.

»Hast du Schmerzen?«, fragte er flüsternd.

Meine Augenlider schlossen sich wieder. Ich fühlte mich schwer, wie unter Wasser gedrückt, betäubt. Ganz weit weg. Ich öffnete den Mund, um Nein zu sagen, aber das einzige Geräusch, das ich von mir gab, war ein tiefes Stöhnen.

»Keine Angst«, flüsterte er, »jetzt dauert es nicht mehr lange.«

Ich hörte, wie er in den Schubladen hinter mir herumstöberte. Dann spürte ich, wie raue Hände meinen Arm von der Schulter bis zum Handgelenk abtasteten, ihn umdrehten und das Pflaster in der Armbeuge abzogen.

Das war falsch. Ich wusste, dass es falsch war, aber ich war zu weit weg. Ich fühlte den Druck, als die Infusionskanüle aus meiner Vene glitt.

Und dann spürte ich das kalte Metall. Mit einem kurzen Piks stach eine Klinge in die Haut unterhalb meines Ellbogens. Als sie tiefer eindrang, kam ich wieder zu mir. Ich zuckte zurück und schlug mit meinem freien Arm nach dem dunklen Schatten.

Die Stimme zischte unter Schmerzen, die Hände wichen zurück, die Klinge fiel klirrend zu Boden und rutschte irgendwo unter mein Bett.

Schritte hasteten in Richtung Tür. Als sie sich öffnete und das Licht hereinfiel, sah ich seinen Rücken. Ein Mann. Ein Mann in OP-Kleidung wie ein Krankenpfleger, mit einem Kapuzenshirt darüber.

Meine Augenlider wurden schwer und ich driftete wieder weg. Eingehüllt vom Piepsgeräusch des Monitors, dem Surren der Geräte und dem konstanten Plopp, Plopp, Plopp meines Blutes, das auf den Boden tropfte, dämmerte ich weg.