42. KAPITEL
Die kalte Nachtluft ließ unseren Atem gefrieren, als wir Hand in Hand zu dem Parkplatz gingen, auf dem Michael seinen Wagen abgestellt hatte.
»Ich war verreist, als Liam gestorben ist. Gott sei Dank bin ich nicht mit dem Auto gefahren«, erklärte Michael. Er hielt unsere Hände an seine Lippen und versuchte, sie mit seinem Atem zu wärmen. »So kommen wir leichter zum Hourglass-Haus.«
»Wo warst du denn?« »In Florida. Frühlingsferien. Das Timing war bestimmt kein Zufall.«
Die Lichter weit entfernter Siedlungen blinkten am Horizont. Der Campus lag im Dunkeln. Das College wirkte verlassen und unheimlich ohne die Studenten. Ich ging ein bisschen dichter neben Michael.
»Kein Wunder, dass alle in den Frühlingsferien an den Strand wollen, statt in den Bergen zu bleiben. Wir hätten an einen Eiskratzer denken sollen.« Er strich über die vereiste Windschutzscheibe, bevor er mir die Tür aufhielt. Ich legte den Sicherheitsgurt an, während er einstieg und den Motor startete, und zuckte zusammen, als Musik aus den Boxen dröhnte.
Er drehte die Lautstärke herunter und schaute sich argwöhnisch um. Der Parkplatz lag noch genauso leer und verlassen da, wie wir ihn zwei Minuten zuvor vorgefunden hatten. Und genauso gespenstisch.
Fünf Minuten später parkte Michael hinter dem naturwissenschaftlichen Institut.
»Ich geh jetzt John Doe holen. Bleib im Wagen.« Er öffnete die Tür, bevor ich protestieren konnte.
Ich folgte ihm zum Hintereingang. Über diesen Teil der Reise hatten wir vorher nicht gesprochen. »Hör zu«, flüsterte ich. »Du kannst die Leiche unmöglich ganz allein aus dem Gebäude und ins Auto schleppen.«
»Das schaff ich schon.« Stirnrunzelnd sortierte er die Schlüssel. »Du hattest doch solche Angst, als du von der Leiche gehört hast. Ich werde dich bestimmt nicht bitten, mir beim Tragen zu helfen.«
»Du musst mich nicht bitten. Wir sind doch ein Team, richtig?«
»Em …«
»Richtig?«, wiederholte ich und wusste, dass wir keine Zeit hatten, uns deswegen zu streiten. Michael wusste das ebenfalls, also machten wir uns gemeinsam auf den Weg zum Gebäude.
Fünfzehn Minuten, nachdem wir die Leiche geholt hatten – Michael wickelte sie ein, bevor ich sie sehen konnte, und verwies mich beim Tragen ans Fußende –, stoppte er den Wagen vor dem Tor des Hourglass-Hauses. Es war verschlossen.
»Das Tor ist nie verschlossen. Das bedeutet, dass wir uns von einem entfernteren Punkt nähern müssen als geplant.« Er fuhr rechts ran und schaltete die Scheinwerfer aus. Ich wollte die Beifahrertür öffnen, aber er hielt mich zurück. »Ich will, dass du hierbleibst.«
Mir fiel die Kinnlade runter. »Was?«
»Ich denke, es wäre besser, wenn du im Wagen bleibst.«
Obwohl es stockfinster war, sah ich in seine Richtung. »Bist du verrückt geworden?«
»Ich hab darüber nachgedacht. Du hast getan, was nötig war, um mich hierher zurückzubringen. Warte im Auto auf mich. Lass den Motor ruhig laufen …«
»Halt die Klappe. Ich mein’s ernst, Michael.« Ich weigerte mich, einen Rückzieher zu machen. »Halt den Mund. Wieso willst du mich ständig raushalten? Wenn du auch nur eine Sekunde lang denkst, ich würde dich allein zum Labor gehen lassen, dann bist du genauso verrückt wie ich. Entschuldige, so verrückt, wie ich es zu sein glaubte. Also vergiss es.«
»Aber …«
»Nein, du kannst mich nicht zwingen, hier sitzen zu bleiben. Soll ich dich anlügen und sagen, dass ich auf dich warte? Obwohl du weißt, dass ich dir sowieso folgen werde? Ganz auf mich gestellt? Allein und schutzlos?«
Seufzend gab er sich geschlagen. »Warum lässt du dich nicht von mir beschützen?«
»Ich brauche keinen Helden, Michael. Ich dachte, du hättest kapiert, dass ich auf mich selbst aufpassen kann.«
»Diesmal ist es anders. Es geht um Leben und Tod. Ich hab dich in die Sache reingezogen, und jetzt will ich alles dransetzen, dich heil zurückzubringen.«
»Ich habe die Entscheidung, dir zu helfen, ganz allein getroffen. Du hast meine Rückendeckung. Und ich hab deine.«
Michael legte den Arm um mich und zog mich fest an sich. »Ich habe eine Scheißangst. Wenn ich allein wäre, wäre ich furchtlos. Aber nicht mit dir an meiner Seite.«
»Gut, denn keine Angst zu haben, ist dumm.«
»An deiner Stelle würde ich das zurücknehmen, denn du bist einer der furchtlosesten Menschen, die mir je begegnet sind.«
Ich stöhnte. »Raus aus dem verdammten Auto.«
Leise schlossen wir die Türen, und er warf mir die Schlüssel zu. Ich steckte sie in die Jackentasche und zog den Reißverschluss zu. Die eisbedeckten Bäume sahen aus wie ein Märchenwald und nicht wie der Schauplatz eines grausigen Verbrechens. Ich zitterte.
»Ist dir kalt?«, flüsterte Michael und legte den Arm um meine Schultern.
»Nein.«
Er drückte mich. »Wir gehen hinten herum. Ich will sehen, welche Autos auf dem Parkplatz stehen.«
»Warum?«
»Ich will nur wissen, ob Landers auf dem Gelände ist. Ich werde deswegen nichts unternehmen.«
Das konnte er seiner Oma erzählen. Ich sah ihn an und wusste, dass mein Blick voller Zweifel war.
»Ich versuche, nichts zu unternehmen.«
Wenigstens war er ehrlich.
»Was ist mit John Doe?« Ich deutete auf den Kofferraum.
»Das Feuer brach gegen Mitternacht aus. Wir haben genug Zeit, um zurückzukommen und ihn zu holen. Wir sollten keinen toten Typen über den Rasen schleifen, bevor wir wissen, was los ist.«
»Igitt«, schnaubte ich.
»Entschuldige.« Er stampfte mit den Füßen auf und schob die Hände in die Taschen. »Wir müssen los.«
Das gefrorene Gras knirschte geräuschvoll unter unseren Füßen. Eilig überquerten wir die Rasenfläche und erreichten eine Baumgruppe, bei der unsere Schritte durch herabgefallene Tannennadeln gedämpft wurden. Michael warf einen Blick auf die parkenden Autos.
»Siehst du was?«
»Er ist da.«
Wir liefen weiter und nahmen denselben Weg, den ich bei meinem ersten Besuch gegangen war. Nachdem wir zwischen den Bäumen kurz Ausschau gehalten hatten, schlichen wir über den Rasen und pressten uns an die Hauswand.
Michael legte mir die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Letzte Chance umzukehren. Willst du wirklich weitergehen?«
Ich hielt ihm den Mittelfinger unter die Nase, und er schluckte ein Lachen herunter.
Wir krochen an der Hauswand entlang und huschten über die überdachte Terrasse, wo Michael und Kaleb über mich gesprochen hatten. Aus dem Pool stieg Dampf auf, der wie Nebel in der Luft hing.
Als wir die hintere Ecke des Hauses erreicht hatten, betrat ich unbekanntes Terrain. Es war dunkler als an dem Abend, als ich Michael und Kaleb belauscht hatte, denn das einzige Licht kam vom Pool.
Ich verließ mich auf Michael und folgte ihm von einem Nebengebäude zum anderen. Von der Angst, jemand könnte uns sehen und unseren Plan vereiteln, Liam zu retten und in die Gegenwart zurückzukehren, bekam ich weiche Knie und einen trockenen Mund. Als wir das letzte Nebengebäude erreichten, war ich außer Atem, aber nicht vom Laufen.
Das Gebäude zeigte als einziges Anzeichen von Leben. Auf den ersten Blick erinnerte es an einen Pferdestall und schien dunkelrot gestrichen zu sein. Auf dem Dach befand sich ein Wetterhahn, der sich in der leichten Brise quietschend drehte.
Ich konnte mich nicht erinnern, das Haus bei meinem ersten Besuch gesehen zu haben. Das war auch unmöglich, denn es war nicht mehr da gewesen.
Wir standen vor dem Laboratorium.