23. KAPITEL
Und wie soll ich dir helfen?«
»Ich brauche dich und deine Fähigkeit, in die Vergangenheit zu reisen, damit ich Jonathan Landers daran hindern kann, Liam zu ermorden. Ohne dich kann ich das nicht.«
Ich lehnte mich zurück und hielt mir ein Sofakissen wie einen Schutzschild vor die Brust. Meine Beine fingen an zu zittern, und das Zittern wanderte meinen Körper hinauf, durch Bauch, Arme und bis in die Fingerspitzen. »Das verstehe ich nicht.«
»Wenn wir es schaffen, Liams Tod zu verhindern, kann Landers nicht seinen Platz als Leiter von Hourglass einnehmen.«
»Wie denn? Der Mord ist doch schon passiert. Wenn wir versuchen, das Geschehene zu verändern, würden wir dann nicht ein … Paradoxon oder was auch immer auslösen?« Ich wusste nichts über Zeitreisen, abgesehen von dem, was ich in Zurück in die Zukunft und bei unzähligen Wiederholungen von Lost aufgeschnappt hatte, aber immer schien es zu irgendwelchen Paradoxa zu kommen, die bislang fiktional gewesen waren. Ich presste mir das Kissen noch ein wenig fester an die Brust. »Wie kann man verhindern, dass jemand stirbt – ich meine … äh, wenn er bereits tot ist?«
Beim Gedanken an diese Möglichkeit, schien sich alles um mich zu drehen.
»Es gibt eine Theorie, die man das Nowikow-Prinzip nennt. Das ist eine Art wissenschaftliches Schlupfloch, das uns ermöglichen würde, Liam zu retten, ohne die Zeit zu verändern. Ohne Paradoxa. Liam wurde bei einem Feuer in seinem Labor getötet. Alles dort ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.«
»Als du das Suchergebnis auf meinem PC gesehen hast …« Ich hielt inne. Die Fakten, die ich brauchte, hätte ich niemals in einem Nachrichtenartikel finden können. »Da hatte ich gerade was über das Feuer gelesen.«
»Hast du gelesen, wie heftig das Feuer gewütet hat? Es wurden keine identifizierbaren Leichenteile gefunden.« Die Sehnen seiner Handknöchel traten deutlich hervor. »Nur ein paar verkohlte Knochen.«
Übelkeit überkam mich. Wie grauenvoll, auf diese Weise zu sterben. »So weit bin ich nicht gekommen.«
»Das Nowikow-Prinzip erlaubt uns nicht, die Vergangenheit zu verändern. Es gestattet nur eine Einflussnahme, die keine Ungereimtheiten zur Folge haben würde.«
»Ich kann dir nicht folgen. Welche Art von Ungereimtheiten meinst du?«
»Jeder glaubt, dass Liam tot ist. Um seinen Tod zu verhindern, reisen wir in die Vergangenheit. Bevor ihm etwas zustößt, sehen wir zu, dass wir ihn aus dem Labor holen.« Seine Hände entspannten sich, während er seine Erklärung fortsetzte. »Um den Anschein aufrechtzuerhalten, dass er tot ist, ersetzen wir ihn durch jemand anderen. Dann versteckt er sich und taucht eine Weile unter.«
Ich schluckte verzweifelt, aber die Übelkeit war nicht zu unterdrücken. Ich musste mich einfach verhört haben. »Willst du etwa vorschlagen, dass wir an seiner Stelle jemand anderen sterben lassen sollen?«
»Nein!« Er sah mich an. »Als Professorin für theoretische Physik gehört Dr. Rooks zum naturwissenschaftlichen Institut des Colleges und hat Schlüssel für die Pathologie, wodurch ich Zugang zu Leichen habe …«
»Stopp.« Ich atmete ein paarmal ein und aus. Als ich sicher war, meinen Mageninhalt bei mir behalten zu können, gab ich ihm ein Zeichen fortzufahren. »Warum müssen wir den Anschein aufrechterhalten, dass er tot ist?«
»Damit sich nichts verändert. Es wird weiterhin Knochen als Beweis geben. Und wenn Liam sich volle sechs Monate versteckt hält, bis zu dem Augenblick, in dem wir zurückgehen, um ihn zu retten, wird die Tatsache, dass er in Wahrheit noch am Leben ist, die Zeitachse nicht beeinflussen. Wahrscheinlich.« In seiner Stimme war ein vager Hoffnungsschimmer auszumachen.
»Also wenn es jemals ein Ereignis gab, das ohne irgendeine weltverändernde Nebenerscheinung geändert werden könnte, dann ist es dieses?«, fragte ich und verdrängte den Gedanken an irgendwelche Leichenteile.
»So ist es. Vor allem, weil nie eindeutig bestätigt wurde, dass die paar Knochen, die im Labor gefunden wurden, tatsächlich Liams waren.«
Nachdenklich trank ich einen Schluck Wasser. »Bei Liams Rettung geht es um mehr, als Landers aufzuhalten, nicht wahr?«
»Liam war wie ein Vater für mich. Der einzige Vater, den ich je hatte.«
»Ich verstehe, warum du ihn ins Leben zurückholen möchtest.« Michaels richtiger Vater hatte ihn im Stich gelassen, und dann war sein Ersatzvater ermordet worden. Da hätte ich auch Gerechtigkeit gewollt.
»Ich will es nicht nur für mich tun, sondern für seine Frau, seinen Sohn und all die Leute, denen er geholfen hat, und für all jene, denen er in Zukunft helfen könnte. Bevor ich ihm begegnet bin, hab ich nicht geahnt, wie viel Gutes ein einzelner Mensch bewirken kann.«
»Ich verstehe.«
Seine Augen mit den langen geschwungenen Wimpern blickten mich ernst an. »Ich weiß. Dein zukünftiges Ich hat es auch verstanden. Was meinst du, wer mir vom Nowikow-Prinzip erzählt hat?«
Obwohl ich wirklich verstand – wahrscheinlich besser als die meisten anderen –, warum er das Leben eines geliebten Menschen retten wollte, konnte ich seine Worte nicht begreifen. Das Beben, das mein Inneres erschütterte, machte es mir schwer zu atmen.
»Du wolltest Antworten. Du hast sie gerade bekommen«, sagte er und rückte näher, was meine Atembeschwerden noch verschlimmerte. »Bereust du, dass du gefragt hast?«
»Du sprichst davon, einen Toten zurück zu den Lebenden zu holen«, sagte ich leise.
»Ich weiß, es ist unglaublich.« Michael ergriff meine Hände. »Aber es ist wahr.«
»Und ich konnte schon kaum fassen, dass Zeitreisen tatsächlich möglich sind.«
Ich versuchte, klar zu denken, aber solange er mich berührte, war mir das unmöglich. Ich schaute zu ihm auf, und tausend unausgesprochene Worte schossen zwischen uns hin und her. Je länger er meine Hände hielt, desto intensiver wurde unsere Verbindung.
»Ich muss darüber nachdenken.« Ich zog meine Hände zurück und rutschte ans andere Ende des Sofas, wo ich langsam ausatmete und die Augen schloss. Mein Gehirn war in den letzten paar Tagen so stark beansprucht worden, dass ich mich fragte, ob es überhaupt in der Lage war, noch mehr aufzunehmen.
Die Möglichkeit, den Ablauf der Zeit zu verändern, kreiste in meinem Kopf herum. Einen Menschen, den man liebte, von den Toten zurückzuholen. Ich fragte mich, ob allein der Gedanke daran das Universum auf den Kopf stellte und ein grausameres Schicksal herausforderte als je zuvor.
Erschöpft und überwältigt schlief ich ein.