24. KAPITEL

Die gläserne Drehtür wirbelt schneller und schneller im Kreis, fegt arktische Luft und Tannenduft herbei. Ich sehe, wie sie sich aus dem Gebäude herauslöst, sich weiterdreht und zu einem schneebedeckten Schlitten wird, der von zwei schwarzen Pferden gezogen wird. Kaum ist er aufgetaucht, stürzt er auch schon in eine Schlucht, und es bleibt nichts von ihm als gellende Schreie und eine senfgelbe, schwefelige Rauchwolke. Neben mir steht eine Gestalt, ein Körper ohne Gesicht, an Stelle der Augen sind nur Löcher mit glühenden Kohlen.

 

»Nein! Nein!« In kaltem Schweiß gebadet fuhr ich hoch. Michael saß immer noch neben mir. Zitternd kroch ich auf seinen Schoß, zu verängstigt, um mich zu schämen. Die elektrische Strömung zwischen uns kehrte auf der Stelle zurück. Diesmal war sie tröstlich statt beunruhigend. Nur mit größter Mühe gelang es mir, meinen keuchenden Atem so weit zu beruhigen, dass ich wieder halbwegs im Stande war, Wörter zu formen.

»Entschuldigung«, krächzte ich heiser. »Alles okay.«

»Lügnerin.« Michael wiegte mich tröstend hin und her. Ausnahmsweise schien es ihn nicht zu kümmern, wie nah wir einander waren. Mich kümmerte es auch nicht.

Ich schmiegte die Stirn an seine Schulter. Er rieb meinen Rücken mit kreisförmigen Bewegungen, während ich mich darauf konzentrierte, regelmäßig zu atmen. Die Standuhr schlug zweimal.

In der darauffolgenden Stille ging meine Furcht in Beschämung über.

»Nicht doch.«

»Was?« Ich drückte mein Gesicht gegen seine Brust, um mich zu verstecken.

»Ich spüre, dass du dich schämst, aber das brauchst du nicht.« Er hob mein Kinn an. »Bestimmt hattest du schon öfter diesen Traum. Wovon handelt er?«

»Ich will dir nichts verheimlichen, aber … ich kann einfach nicht.«

»Em?« Mein Haar hatte sich aus dem Zopfgummi gelöst. Er strich es über meine Schulter zurück und legte die Hand in meinen Nacken. »Wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin hier und höre dir zu.«

Seine traurigen Augen spiegelten meinen Schmerz. Der emotionale Teil unserer Verbindung überwältigte mich. Ich ahnte, dass er längst wusste, was ich sagen würde.

»Meine Eltern. Der Tag, an dem sie gestorben sind.«

Er legte beruhigend den Arm um mich, und die Elektrizität zwischen uns ebbte ab zu einem leisen Summen.

Ich holte tief Luft. »Wir waren im Skiurlaub. Ein paar Monate vorher hatte ich angefangen, Zeitlose zu sehen – meine Eltern wussten nicht, was sie machen sollten. Ich glaube, sie haben gehofft, dass meine Visionen in einer anderen Umgebung verschwinden würden.«

Er hörte zu und ließ mich nicht aus den Augen, vielleicht fragte er sich, ob ich zusammenbrechen würde.

Ich fragte mich dasselbe.

»Wir mussten uns beeilen, um den Pendelbus zur schwarzen Piste zu erwischen. Einer meiner Skistöcke war verschwunden. Ich sagte zu meiner Mom, sie solle mit meinem Dad vorausfahren. Dass ich alt genug sei, um allein mit dem Bus nachzukommen.« Voller Entsetzen erinnerte ich mich an meinen damaligen Tonfall. »Sie war die reinste Glucke, seit sie Angst hatte, dass ihre einzige Tochter vielleicht den Verstand verlieren könnte.«

»Du siehst nicht aus wie ein Mädchen, das sich gern bemuttern lässt.« Er nahm meine Hand.

»Ich fand’s schrecklich. Aber sie wollte nicht ohne mich fahren. Auf dem Weg durch die Lobby haben wir immer noch gestritten. Ich passte nicht auf und stieß mit jemandem zusammen. Dabei fiel mein Rucksack herunter, und meine Sachen flogen überall herum. Meine Mom war völlig genervt, und ich hab ihr gesagt, sie soll schon vorgehen. Und das tat sie.«

Als wäre es gestern gewesen, fühlte ich den kalten Luftzug, als die Drehtür sich in Bewegung setzte. Ich sah, wie meine Mom hineintrat, wie ihr blondes Haar ihr ins Gesicht wehte. Ihr Blick spiegelte eine Mischung aus Bedauern und Enttäuschung.

»Die Polizei konnte nicht mehr sagen, als dass sie entweder wegen Glatteis ins Schleudern geraten waren oder von einem entgegenkommenden Fahrzeug abgedrängt wurden. Der Pendelbus stürzte den Hang hinunter und in einen zugefrorenen See.« Meine Lippen zitterten. »Er ist durchs Eis gebrochen. Es dauerte drei Tage, bis alle Leichen geborgen waren.«

Michael sagte nichts, sondern drückte meine Hand ein wenig fester. Ich lehnte die Wange an seine Schulter und erzählte weiter.

»Das Letzte, das ich zu meiner Mutter gesagt habe … Das Letzte, was ich ihr gesagt habe, war, dass ich sie nicht brauche. Ich habe ihr gesagt, sie soll mich nicht bemuttern. Dass ich auf mich selbst aufpassen kann. Ich habe ihr gesagt, dass ich sie nicht brauche. Das habe ich noch niemandem erzählt. Nicht einmal Thomas.«

Es war zu schrecklich gewesen, um es laut auszusprechen. Es jemandem anzuvertrauen, bedeutete, es wieder aufleben zu lassen.

»Aber du hast deine Eltern geliebt«, sagte er. »Und sie haben dich geliebt.«

»Ich weiß.«

Wir blieben reglos sitzen. Bis auf unseren Atem und das Ticken der Standuhr war es vollkommen still im Raum. Ich spürte, wie seine Brust sich hob und senkte.

»Oh, nein. Emerson!« Michael setzte sich gerade hin. Trotz seines olivfarbenen Teints wirkte er plötzlich ganz blass. »Was bin ich nur für ein Idiot … Liam … Wenn irgendjemand das Recht hat, etwas in der Vergangenheit zu ändern, dann bist du es.«

»Hör auf.« Ich schüttelte den Kopf.

»Wir könnten versuchen, einen Weg zu finden …«

»Gibt es einen?« Meine Stimme brach. »Gibt es einen Weg?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Er wusste es, ich sah es in seinen Augen. Er wusste, dass es unmöglich war.

Ich biss mir auf die Wangen und schluckte die Tränen herunter. »Wenn man den Verlauf ändert, würden andere Dinge sich auch ändern. Paradoxa dürfen nicht sein, stimmt’s? Außerdem gab es Beerdigungen.«

Leichen.

Ich bemühte mich um einen beiläufigen Tonfall und versagte kläglich. »Es sei denn, du hättest noch eine andere Theorie im Ärmel.«

»Nein.« Mit dem Daumen wischte er eine Träne von meiner Wange. Die Fürsorglichkeit seiner Geste brachte mich fast um. »Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, ich könnte das Geschehene verändern.«

»Ich habe gesagt, ich helfe dir, weil ich es wollte, nicht weil ich erwarte, dass du mir hilfst, irgendwas zu ändern.« Ich lächelte wehmütig. »Außerdem komme ich gut alleine klar. Schon seit Jahren.«

»Emerson, du hast mir gerade dein größtes Geheimnis anvertraut. Das bedeutet mir sehr viel. Spiel es nicht herunter.«

Hätte er nicht schon mein Herz in den Händen gehalten, hätte ich es mir rausgerissen und es ihm geschenkt.

Ich schloss die Augen und holte tief Luft.

Auch ich wünschte mir, die Dinge könnten anders sein.

Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
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