20. KAPITEL
Mit einem zweiten Blick auf die Visitenkarte vergewisserte ich mich, dass ich die korrekte Adresse eingegeben hatte und mich am richtigen Ort befand. Ein im griechischen Stil erbautes Plantagenhaus erhob sich vor meinen Augen – groß, weitläufig, aus roten Ziegeln, mit hohen, weißen Säulen zu beiden Seiten des Eingangsportals. Keine bewaffneten Wachmänner, keine Hunde, nichts von dem, was ich erwartet hatte. Die Einfahrt führte am Haus vorbei und endete auf einem kleinen baumbestandenen Parkplatz, wo ich den Wagen abstellte.
Falls mich irgendjemand fragen sollte, was ich hier wollte, würde ich einfach sagen, ich hätte mich verfahren, in der Hoffnung, dass niemand einen Blick in den Wagen werfen würde. Sich zu verfahren, wenn man ein hochmodernes Navi hatte, war ziemlich unwahrscheinlich. Ich beschloss, mir den Laden mal anzusehen – da ich doch so eine tolle Superspionin war und so weiter.
Ohne lange zu fackeln, schlüpfte ich aus dem Wagen und versteckte mich zwischen den Bäumen. Der Sonnenuntergang ließ den Horizont aufflammen – kitschig orange wie ein Wassereis. Im schwindenden Tageslicht waren Stallungen und andere Nebengebäude auszumachen, hinter denen sich ein dunkles Waldgebiet erstreckte.
Ich schlich näher.
Schweißperlen rannen mir den Rücken hinab, als ich auf Zehenspitzen an der Seitenmauer des Hauses entlanghuschte und mich bei jedem Fenster duckte. In der drückend schwülen Luft kostete es mich große Anstrengung, mich möglichst leise fortzubewegen, und ich war froh, dass ich mein Haar hochgesteckt hatte. An der Hausecke wischte ich mir den Schweiß von der Stirn. Die Blätter mochten sich vielleicht färben, aber es fühlte sich nicht an, als stünde der Herbst vor der Tür.
Die Rückseite des Anwesens erinnerte mich an die pompösen Achtzigerjahre-Serien, die ständig wiederholt wurden. Ein hell erleuchteter, schmaler, lang gezogener Pool wurde von Pflanzkübeln mit schlanken Koniferen gesäumt. Vier Säulen umgaben eine mit italienischen Kacheln geflieste, überdachte Terrasse. Hinter dem Haus befand sich eine weitere Terrasse, auf der winzige Tischchen mit passenden Stühlen sowie bequeme Gartensofas standen. Elektrische Fackelleuchten und weitere Koniferen in Tontöpfen vervollständigten das Bild. Es wirkte ganz und gar nicht wie eine Top-Secret-Zeitreise-Kommandozentrale.
Als ich plötzlich Stimmen hörte, zog ich mich hinter einer Mauer zurück. Am anderen Ende der überdachten Terrasse konnte ich zwei Gestalten ausmachen. Sie lehnten sich über die Brüstung, und ihre definitiv männlichen Stimmen waren deutlich zu hören.
Eine erkannte ich wieder.
Es war Michaels Stimme.
Ich schlich ein paar Schritte weiter, setzte mich auf den Boden und lehnte mich mit dem Rücken an die Stützmauer. So hatte ich es wenigstens halbwegs bequem. So bequem wie man es mit Bruchsteinen im Rücken eben haben konnte.
»Und wie ist sie so?«, fragte die unbekannte Stimme.
»Unglaublich.« Michael seufzte. »Mehr als ich’s je für möglich gehalten hätte.«
Es blieb ein paar Sekunden lang still. »Was weiß sie?«
»So ziemlich alles. Nur nicht, warum ich sie brauche.«
»Wie hat sie’s aufgenommen?«
»Was glaubst du denn? Wie würdest du es denn aufnehmen?«
Ich erstarrte. Ich ahnte, von wem sie da redeten.
»Du musst es ihr erzählen.« Die unbekannte Stimme klang eindringlich.
»Das Timing ist nicht gut, Kaleb. Sie fängt gerade erst an, mir zu vertrauen.«
»Du musst sie einweihen, bevor etwas passiert.« Kalebs Stimme war tiefer und rauer als Michaels. Ich wünschte, ich hätte sein Gesicht sehen können, und fragte mich, ob es zu seiner Stimme passte. »Sie muss wissen, was los ist. Du kannst sie nicht blind da hineinlaufen lassen.«
»Ich erledige das.« Michael klang, als würde er beim Sprechen mit den Zähnen knirschen.
»Mach das«, knurrte Kaleb. Zumindest wollte er, dass ich die Wahrheit erfuhr, damit ich mich selbst schützen konnte und nicht länger im Dunkeln tappte. Ich mochte ihn. Wer auch immer er sein mochte. »Denk dran, wir sind ein Team. Ich kümmere mich um die Akten; du kümmerst dich um sie. Es steht eine Menge auf dem Spiel für eine Menge Leute.«
»Ich habe ein Versprechen gegeben, und das werde ich halten. Ich tu alles, was nötig ist, um ihn zurückzuholen, egal, welche Opfer ich bringen muss.«
»Glaubst du, sie macht mit?«
Michael hielt kurz inne, bevor er antwortete. »Ich kann es nicht garantieren. Aber ich glaube, wir können davon ausgehen. Sie ist ziemlich beeindruckend.«
Überraschtes Lachen hallte an den Mauern wider. »Mike! Hast du dich etwa in sie verguckt?«
»Das darf nicht sein. Du kennst die Regeln.«
»Das würde mich nicht bremsen«, gab Kaleb zurück.
»Ich weiß. Aber nur zu deiner Information: Ich habe mich nicht in sie verguckt.« Michaels Stimme klang fest. Kaleb musste zweifelnd geschaut haben, denn Michael wiederholte: »Da läuft nichts. Ich habe meine Gründe.«
Mein Magen krampfte sich zusammen.
»Ich spüre es doch, Bruder. Ich weiß es. Wenn dieses Mädchen so ›beeindruckend‹ ist, wie du sagst, bist du einfach nur dumm. Aber ich habe ganz vergessen, dass es für dich nichts Wichtigeres gibt als Ehre und Ritterlichkeit«, sagte Kaleb mit Singsangstimme.
»Solltest du bei Gelegenheit auch mal ausprobieren.«
»Aber sag mir bitte nicht, dass du dich wegen Ava zurückhältst.«
»Kaleb«, sagte Michael und klang frustriert. »Ich habe dir doch schon erklärt, wie es mit Ava steht …«
In einem der Fenster des oberen Stockwerks war das Licht angegangen und warf ein gelbliches Rechteck auf den Steinfußboden der Terrasse. »Ich sollte lieber wieder reingehen«, sagte Kaleb hastig. »Sag’s ihr – behandele sie nicht wie ein Kind.«
»Geh schon!«, zischte Michael, dann wurde eine Tür geschlossen.
Das Licht im oberen Fenster erlosch.
Ich blieb einen Moment sitzen und versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Ich hätte nicht beschwören können, dass sie über mich gesprochen hatten; schließlich war mein Name nicht gefallen. Doch ob aus Paranoia oder Intuition – ich war mir ziemlich sicher, dass die beiden mit »sie« mich gemeint hatten.
Aber wer war »er«?
Ich verließ mein Versteck bei der Terrasse und schlich denselben Weg zurück, den ich gekommen war. Ich beeilte mich nicht, damit Michael genug Zeit hatte, sich zurückzuziehen – schließlich wollte ich ihm nicht in die Arme laufen. Vorsichtig spähte ich an der Vorderseite des Hauses in eins der niedrigen Fenster.
An einer Wand hingen gerahmte Fotografien. Trotz guter Beleuchtung lag ein seltsamer Schimmer auf den Gesichtern, so dass sie schlecht zu erkennen waren. Ich musterte eins nach dem anderen, und als ich das Ende der Reihe erreicht hatte, blieb ich stehen. Irgendetwas an dem Gesicht kam mir vertraut vor. Bevor ich herausfand, an wen es mich erinnerte, wurde ein weiteres Licht eingeschaltet und beleuchtete meine Silhouette auf dem Rasen. Ich presste mich gegen die Wand, bis das Licht wieder gelöscht wurde, dann steuerte ich schleunigst den Parkplatz an und riss die Autotür auf.
Ich stieß einen Schrei aus.
Der Fahrersitz war bereits besetzt.