13. KAPITEL

Thomas wollte Der Pate sehen. Wieder einmal. Aber diesmal weigerte ich mich zu kapitulieren.

»Aber mein Lieblingsfilm ist Die Nacht vor der Hochzeit.« Auf seinen Protest hin änderte ich meine Taktik. »Deine Frau erwartet ein Kind; du musst auf ihre Bedürfnisse eingehen.«

»Sie hat Recht, Thomas. Und Gewalt ist nicht gut fürs Baby.«

»Der kleine Wurm hat noch nicht mal Fingernägel – woher soll er wissen, dass wir uns einen Mafia-Film ansehen?«

»Sie wird genauso sensibel wie ihre Mutter.« Dru schaute ihn mit großen Augen an. »Das Risiko willst du doch sicher nicht eingehen?«

Die Vorspannmusik der alten Filmkomödie begann, und als ich gerade mit der Popcornschüssel in der Hand aus der Küche kam, läutete es an der Tür. Ich rief: »Ich mach auf!« Wahrscheinlich war’s die Pizza.

Vor der Tür stand jedoch nicht der Pizzabote, sondern Michael. Er hatte die Hände tief in die Hosentaschen geschoben und sah mich todunglücklich an.

»Hey.« Ich hatte seit zwei Tagen keinen Pieps von ihm gehört. Verlegen zog ich den Bademantel, den ich über gestreiften Pyjamahosen und Trägerhemdchen trug, enger zusammen, während die Popcornschüssel für Abstand zwischen uns sorgte. »Willst du irgendwas?«

Er musterte meine Häschenpantoffeln. »Nur mit dir reden. Bitte, Emerson?«

»Ich brauch fünf Minuten.« Ich bemühte mich um einen neutralen Tonfall. »Warte unten auf mich.«

Michael stand verloren im Eingangsbereich, als ich zehn Minuten später zurückkam. Meinen Bademantel hatte ich gegen eine Sweatshirtjacke getauscht, Zähne geputzt und in letzter Sekunde noch an ein paar Spritzer Parfüm gedacht.

Aus Trotz war ich bei den Häschenschlappen geblieben.

Ich führte Michael auf die Veranda, die allen Bewohnern des Hauses zur Verfügung stand. Von hier hatte man denselben Blick wie von der Restaurantterrasse. Auch das schmiedeeiserne Geländer war das gleiche. Wir setzten uns an ein rundes Glastischchen, und ich wartete auf das, was er zu sagen hatte.

»Ich hab einen Fehler gemacht.«

Nicht gerade das, was ich erwartet hatte.

»Wie edel von dir, dich zu entschuldigen«, sagte ich und war selbst erschrocken über den sarkastischen Unterton in meiner Stimme, obwohl es meiner Erfahrung nach immer das Beste war, in die Defensive zu gehen.

Trübsinnig lehnte Michael sich zurück. »Hör zu, wenn du nicht mit mir arbeiten möchtest, kann ich versuchen, jemand anderen zu finden, der dir hilft …«

»Nein, nein. Ich will dich.« Die Worte waren aus dem Mund, bevor ich mich bremsen konnte. Michael grinste so breit, dass ein Grübchen in seiner linken Wange zum Vorschein kam, das mir zuvor noch nicht aufgefallen war. »Damit du mit mir arbeitest.«

»Gut. Und ich verspreche dir, dass ich jegliche Gefühle, die ich vielleicht habe, für mich behalten werde.«

Gefühle? Welche Art von Gefühlen?

»Es gibt noch einen anderen Grund, warum ich mit dir sprechen wollte.« Er zögerte und holte tief Luft. »Du hast gesagt, du willst die Wahrheit wissen, und ich möchte dir gern alles sagen, was ich kann. Zeitlose aus der Vergangenheit zu sehen, ist nur ein Teil deiner Gabe.«

Die Bezeichnung Gabe wäre mir im Leben nicht eingefallen.

»Ist da etwa noch mehr?«

»Das wird dir jetzt ziemlich abwegig erscheinen. Hör mir einfach zu. Du hast Leute aus der Vergangenheit gesehen, sagst du. Hast du jemals welche … aus der Zukunft gesehen?«

»Ich sehe nur Leute, die tot sind. Tote Personen aus der Vergangenheit. Leute aus der Zukunft sind nicht tot. Wie können Zeitlose aus der Zukunft in der Gegenwart auftauchen? Die dann ihre Vergangenheit wäre, nehme ich an.«

Michaels Stirn legte sich in Falten, bestimmt weil er vergebens versuchte, meiner Logik zu folgen. Verständlich. Ich konnte ihr selbst nicht folgen.

»Es geht nicht so sehr um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.« Die Falten vertieften sich, während er versuchte, es zu erklären. »Die Übergänge sind fließender, als man es sich normalerweise vorstellt, fast parallel.«

»Dann ist es unvermeidbar?«, fragte ich niedergeschlagen. »Dass ich mich demnächst auch noch mit Leuten aus der Zukunft herumschlagen muss?«

Er nickte, und mir war, als hätte ich eine schallende Ohrfeige bekommen.

»Hast du Leute aus der Zukunft gesehen?«, fragte ich.

»Anfangs habe ich nur Zeitlose aus der Zukunft wahrgenommen, aber jetzt seh ich auch welche aus der Vergangenheit.«

Na toll. Eine weitere Personengruppe, vor denen ich auf Partys auf der Hut sein musste.

»Das ist das Verrückteste, das ich je gehört habe.« Langsam bekam meine Stimme einen leicht hysterischen Unterton. »Woher wusstest du, dass sie aus der Zukunft stammen? Waren sie mit einem Luftkissenfahrzeug unterwegs? Mit einem treuen Roboterkameraden an ihrer Seite?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf, und seine Miene wurde zusehends besorgter. »Beim Essen hast du mich gefragt, wann ich zum ersten Mal einen Zeitlosen aus der Vergangenheit gesehen hätte. Ich hab es dir erzählt. Aber der allererste Zeitlose, der mir begegnet ist, war aus der Zukunft. Wir sind zum Turner Field Stadion gefahren, um die Braves und die Red Sox spielen zu sehen. Der Typ in der Reihe vor uns trug ein World Series T-Shirt. Aber mit dem Jahr und der Siegermannschaft stimmte etwas nicht.«

Michael hatte beim Erzählen ins Nichts gestarrt. Jetzt richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich.

»2004 oder 2007?«, fragte ich.

»2004.« Er grinste. »Als ich seinen Ärmel berühren wollte und gegen seinen Arm stieß, verschwand er. Ich bin ausgeflippt, und meine Mom brachte mich ins Krankenhaus. So ist Hourglass auf mich aufmerksam geworden. Sie bezahlen Leute, die Ausschau nach Menschen wie uns halten.«

»Personen aus der Zukunft. Wie seltsam. Meine Zeitlosen tragen Pilgerhauben und gepuderte Perücken. Aber Leute aus der Zukunft. Wie seltsam«, wiederholte ich. »Hast du schon mal jemanden getroffen, den du kennst?«

»Nicht direkt.« Er wandte den Blick ab. Sein Ausweichen versetzte meine ohnehin schon überlasteten Sinne in Alarmbereitschaft.

»Michael?«

Er sagte nichts, schaute mich jedoch wieder an.

»Michael, wen hast du gesehen? Sag es mir.«

»Ich glaube, das hier ist ein Fehler«, erwiderte er und machte Anstalten aufzustehen. »Vergiss es einfach. Das willst du gar nicht wissen.«

»Doch, ich glaube schon.« Ich streckte den Arm aus, um ihn aufzuhalten, und legte die Hand auf seine Schulter, zuckte jedoch zurück, als der Blitz durch meinen Arm fuhr. Leise wiederholte ich meine Frage. »Wen hast du aus der Zukunft gesehen?«

»Dich.«

Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
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