4. KAPITEL

Aus der Nähe sah der Smokingtyp sogar noch besser aus: groß, breitschultrig, glatte Haut – und diese Lippen! Ich konnte nicht glauben, dass er für ein Unternehmen namens Hourglass arbeitete. Fünfzigjährige Brillenträger mit Bierbäuchen sollten dort arbeiten. Kein Prinz, der zu schön war, um sich unter das gemeine Volk zu mischen. Er konnte nicht viel älter sein als ich. Vielleicht war er ein Praktikant. Vielleicht war sein Honorar nicht so hoch, weil er noch in der unteren Liga statt mit den großen Jungs spielte.

»Hattest du vor, mir zu sagen, dass er hier ist?«, zischte ich, während meine Gefühle zwischen Wut und Angst schwankten.

»Er sollte dich zuerst beobachten.«

»Wie ein Exemplar einer besonderen Spezies? Wo ist mein Käfig?«

Ich wollte schon eine Schimpftirade anstimmen, hielt jedoch inne, als mir klar wurde, dass der Smokingtyp sich in unmittelbarer Nähe befand und mich beäugte, als könnte ich jeden Moment in Flammen aufgehen.

»Michael Weaver, darf ich Ihnen meine Schwester, Emerson Cole, vorstellen?« Thomas schob mich ein Stück nach vorn, damit ich Michael die Hand gab.

Michael ließ seinen Blick von Thomas zu mir wandern und streckte mir zögernd die Hand entgegen. Erschaudernd verbarg ich mein Gesicht hinter der Schulter meines Bruders. Obwohl Thomas seine Anwesenheit und somit seine tatsächliche Existenz bestätigt hatte, mochte ich Michael nicht berühren. Als ich abermals einen vorsichtigen Blick in seine Richtung wagte, hatte er die Hand in die Tasche geschoben.

Die Terrassentür öffnete sich erneut, und diesmal war es Dru. Wahrscheinlich hatte Thomas sie noch nicht über den neuesten Stand meiner Halluzinationen informiert, da sie mit den Vorbereitungen für diesen Abend alle Hände voll zu tun gehabt hatte. Ich wollte nicht, dass sie sich um mich sorgte.

»Entschuldige, dass ich so tollpatschig bin.« Sie stürmte auf mich zu, und ich hatte alle Mühe, sie auf Distanz zu halten. Durch mein abwinkendes Gefuchtel konnte ich das Zittern meiner Hände kaschieren. »Alles ist gut, geh wieder rein.«

Die meisten Leute würden Drus Augenfarbe als eisblau bezeichnen, was ich nicht ganz nachvollziehen kann, da Eis nicht blau, sondern durchsichtig ist. In diesem Augenblick spiegelte sich große Besorgnis in ihrem Blick.

»Du bist nicht tollpatschig; und deshalb mache ich mir Sorgen.« Sie ignorierte meinen Protest und legte mir die Hand auf die Stirn. »Bist du krank?«, fragte sie und streichelte meine Wange. »Ist dir schwindelig? Hast du Hunger? Willst du dich hinsetzen?«

»Alles bestens. Ehrlich«, log ich durch meine perfekten Zähne. Ich wollte nur zwei Dinge: der Jazzband, die ich immer noch spielen hörte, und dem atemberaubenden Smokingtyp an meiner Seite entfliehen. Hätte er nicht wenigstens wie ein Steuerprüfer aussehen können statt wie ein Männermodel? Ich war auch so schon verwirrt genug.

»Bist du sicher? Dann würde ich deinen Bruder gern entführen, wenn du nichts dagegen hast. Brad von der Bank wollte mit dir sprechen, Thomas. Es geht um das Objekt an der Main Street.« Sie zog die perfekt gezupften Brauen hoch, und ich ahnte, dass es sich um einen äußerst lukrativen Deal handeln musste. »Ich kann ja hierbleiben.«

Thomas machte ein gequältes Gesicht, hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten. Ich half ihm aus der Patsche. »Geh nur. Du auch, Dru. Ihr müsst Geld verdienen.«

»Nein, ich bleibe bei dir, Süße. Ich will sicher sein, dass es dir gut geht.« Dru legte den Arm um meine Taille und drückte mich kurz.

»Nein. Das brauchst du nicht. Geh nur. Es ist alles in Ordnung«, beharrte ich.

»Bleiben Sie bitte bei ihr?«, fragte Thomas Michael, und seine Worte klangen so ernst, als würde er meine Mitgift aushandeln. Oder ein Immobiliengeschäft. »Ich möchte sie nicht allein lassen.«

Ich warf Thomas einen grimmigen Blick zu. Das würde ihn teuer zu stehen kommen.

»Selbstverständlich«, erwiderte Michael verbindlich.

Seine Stimme ließ mich zusammenzucken. Ihr Klang versetzte jede Zelle in meinem Körper in Alarmbereitschaft. Sie war sanft und samtig. Bestimmt war er ein guter Sänger. Nachdem ich Thomas ein weiteres Mal versichert hatte, dass ich mich besser fühlte, sah ich meine beiden einzigen Vertrauten im Restaurant verschwinden und wünschte mir verzweifelt, an irgendeinem anderen Platz auf der Welt zu sein … außer in Colonial Williamsburg vielleicht.

Ich atmete seufzend aus und schenkte Michael ein leichtes Lächeln. Als er es erwiderte, stockte mir der Atem.

Eine echte Sahneschnitte.

»Ich hatte Sie mir anders vorgestellt«, sagte ich und hasste meine brüchige Stimme.

»Das habe ich schon öfter gehört«, erwiderte er und überging netterweise meine Unsicherheit.

»Ich bin froh, dass Sie nicht viel älter sind als ich.« Bitte sei nicht viel älter. »Gibt mir das Gefühl, als würden wir in derselben Liga spielen.«

»Mir war gar nicht klar, dass wir ein Spiel spielen.« Seine dunklen Augen verengten sich ein wenig. Wahrscheinlich fragte er sich, ob er genug dafür bezahlt bekam, sich mit mir abzugeben. »Soll ich dich Em oder Emerson nennen?«

Das machte mich stutzig. Ich konnte mich nicht erinnern, dass mich jemand in seiner Gegenwart Em genannt hatte.

»Emerson ist okay. Fürs Erste. Nennst du dich Michael oder Mike? Oder Mikey?«

»Seh ich aus wie ein Mikey?«

»Ähm … nein.«

»Michael ist okay. Fürs Erste.« Er presste die Lippen zusammen, was jedoch nicht verkniffen wirkte, sondern sehr sexy, als würde es ihm schwerfallen, sich ein Lächeln zu verbeißen.

Er strich über die schmiedeeiserne Brüstung der Terrasse, dann drehte er sich wieder zu mir um und schüttelte das Regenwasser von seinen Händen. »Dein Bruder hat eine besondere Gabe. Ich bin noch niemandem begegnet, der so viel Mühe darauf verwendet, den Zauber eines Ortes wieder lebendig werden zu lassen. Hat er all diese Gebäude restauriert?«

Von der Terrasse hatte man einen wunderschönen Blick auf die preisgekrönte Restauration des alten Marktplatzes. Viele Fenster der zwei- und dreigeschossigen Gebäude waren hell erleuchtet. In den Lofts wohnten hauptsächlich junge, erfolgsverwöhnte Leute, Paare mit ausgeflogenen Kindern sowie die eine oder andere Familie. Nachbildungen der historischen Gaslaternen beleuchteten die Straßen, die von originellen Läden, Antiquitätenhändlern, Cafés und Galerien gesäumt wurden. Pflanzkästen und -kübel präsentierten eine spätsommerliche Blütenpracht. Mittlerweile zählte Ivy Springs zu den zehn schönsten amerikanischen Kleinstädten, und man konnte sich nur allzu leicht vorstellen, wie es hier vor hundert Jahren ausgesehen haben musste, was für mich äußerst problematisch war.

Diese Pferdekutsche konnte unmöglich real sein.

Die ersten Töne eines alten Swing-Liebeslieds wurden durch die regenfeuchte Luft getragen und mischten sich mit dem Duft der violettfarbenen Wicken, die am schmiedeeisernen Geländer hochrankten. Ich wandte den Blick von dem überaktiven Marktplatz ab und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf Michael.

»Ja, Thomas hatte bei jeder einzelnen Renovierung die Hände im Spiel. Seine Vorstellungskraft ist unglaublich.« Und teuer … und trotzdem letztendlich immer Gewinn bringend.

»Was ist mit deiner Vorstellungskraft?« Raffiniert. Sein Tonfall war beiläufig, aber ich spürte den tieferen Sinn seiner Worte und fragte mich, was Thomas ihm über mich erzählt hatte.

Ich umfasste die Eisenstäbe, wobei ich es vermied, mir die Finger an den Wicken nasszumachen. »Warum bist du hier, Michael Weaver?«

»Um dir zu helfen.« Die Anteilnahme in seinem Gesicht war eine willkommene Abwechslung. Er sah aus, als würde er sich ernsthaft für meine Probleme interessieren. Ich wollte ihm beinahe schon alles erzählen.

Beinahe.

Stattdessen kicherte ich spöttisch, hielt mich an den Geländerstäben fest, lehnte mich zurück und schwang ein bisschen hin und her, wie ich es als kleines Mädchen am Klettergerüst getan hatte. »›Um dir zu helfen.‹ Was für ein abgedroschener Spruch.«

»Wie oft hast du ihn schon gehört?«

»Mal überlegen. Da waren diese beiden Schwestern, die behaupteten, sie könnten in meine Vergangenheit und in meine Zukunft sehen. Anscheinend bin ich eine Nachfahrin von Mata Hari, die als mögliche finnische Thronerbin galt.«

»In Finnland gibt es keine …«

»Ich weiß

»Autsch!« Zwischen seinen Augen zeigte sich eine mitleidsvolle Falte.

»Das war mal wieder ein Schuss in den Ofen. Immerhin hat Thomas das Geld dafür zurückgekriegt. Das hab ich ihm abgeschwatzt und dazu noch seine Kreditkarte, für eine anständige Shoppingtherapie. Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn bankrott zu machen.« Ich grinste bei dieser teilweise glücklichen Erinnerung, und Michael teilte mein Lächeln. Es ließ mich fast vergessen, was ich gesagt hatte. »Ähm … Dann war da noch dieser Schamane, der die bösen Geister aus meinem Körper vertreiben wollte. Das war der Brüller; er hat behauptet, er brauchte dazu nichts weiter als eine Mischung aus Salzlake und Asche.«

Michael schüttelte ungläubig den Kopf. »Wo findet dein Bruder bloß solche Leute? Offensichtlich ist er ein gewitzter Geschäftsmann – wie kommt er da auf die Idee, solche Scharlatane anzuheuern?«

»Aus Verzweiflung vielleicht. Mein Internat war in Sedona. Da wimmelt’s nur so von ›spirituellen Geistheilern‹. Wahrscheinlich hat es sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen, dass ein besorgter Bruder mit Geld um sich wirft, um seiner durchgeknallten Schwester zu helfen. Und die Leute, die nach traditionellen Methoden arbeiten, haben mir ja nicht geholfen. Sie wollten mich alle mit Tabletten zudröhnen oder mich in die Psychiatrie einweisen.« Ich ließ das Geländer los und biss mir auf die Unterlippe, damit ich ihm nicht erzählte, dass sie ihre Pläne in die Tat umgesetzt hatten. Wie konnte ich ihm gegenüber nur so offen sein? Doch wenn er ein Betrüger war wie alle anderen, würde er vielleicht Schuldgefühle bekommen und verschwinden, bevor er weiteren Schaden anrichten konnte.

»Das tut mir leid«, sagte Michael. Es klang nicht mitleidig, sondern mitfühlend. Sein Gesichtsausdruck wirkte aufrichtig, oder er hätte ein sehr guter Schauspieler sein müssen. Er erinnerte mich an das alte Hollywood, an Cary Grant vielleicht, bis auf sein längeres Haar.

»Also was ist anders an dir?« Ich hatte die Unterhaltung langsam satt und bereitete mich innerlich schon auf die nächste Enttäuschung vor. »Welche Versprechen willst du mir machen?«

»Keine, die ich nicht halten kann.« Sein Kinn drückte Entschlossenheit aus, seine Stimme Sicherheit.

»Welche Qualifikationen hast du? Bist du auf einen Berg geklettert und hast dich mit einem Guru getroffen?« Ich wollte ihn herausfordern. Eine Reaktion von ihm erzwingen. »Hattest du eine extrakorporale Erfahrung, und jetzt sprechen Leute aus Spiegeln und Pfützen mit dir?«

»Hör zu, ich kann verstehen, warum du nicht viel Vertrauen hast.« Seine Stimme war leise und ruhig, aber darunter war ein Hauch von Zorn zu erahnen. »Doch was ist, wenn ich dir wirklich helfen kann? Warum willst du dir nicht von mir helfen lassen?«

»Was ist, wenn ich nicht glaube, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist?« Jedenfalls nichts, was er in Ordnung bringen könnte.

»Das habe ich ja auch nicht behauptet.«

»Wenn du mir Hilfe anbietest, glaubst du anscheinend, dass ich verzweifelt bin. Das bin ich aber nicht.«

»Was war dann vor zehn Minuten, als du dein Glas auf einem Klavier abstellen wolltest, das nicht existierte?«

»Das war keine Verzweiflung. Das war …« Ich schnappte nach Luft.

Er hatte das Klavier gesehen.

Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
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