5. KAPITEL

Ich boxte ihm in den Magen. Hallo Sixpack! Trotz der schützenden Muskeln krümmte er sich keuchend und rieb sich den Bauch.

»Entschuldigung. Tut mir leid«, rief ich und schüttelte meine kribbelnde Hand aus. Die Straßenlaternen flackerten leicht, und ich fragte mich kurz, ob ein weiteres Gewitter angekündigt war. »Ich musste mich vergewissern, dass es dich wirklich gibt.«

»Und es gab keine bessere Möglichkeit, das herauszufinden?« Michael stöhnte. Er hatte Glück, dass ich nicht tiefer gezielt hatte. Eigentlich hatte ich ihm einen Tritt verpassen wollen, dachte im letzten Moment jedoch an meine Mörderschuhe.

»Eine Stressreaktion.« Bevor ich noch mehr Schaden anrichten konnte, zog ich die hochhackigen Waffen aus und genoss es, den kühlen Steinboden unter den Füßen zu spüren.

Michael richtete sich auf und musterte mich abschätzend. Ich wusste nicht, ob ihm gefiel, was er sah, und war überrascht, dass es eine Rolle für mich spielte.

»Warum hast du befürchtet, ich könnte nicht real sein? Du wolltest mir nicht mal die Hand geben, obwohl dein Bruder mich gesehen hat.«

»Der Tag heute war so anders. Meine ganze Welt ist auf den Kopf gestellt worden.«

»Vielleicht umso besser.« Sein Grinsen ließ mich darüber nachgrübeln, was er für sich behielt. »Dann erzähl doch mal, was heute so anders war.«

»Erstens hab ich vorher noch nie ein ganzes Jazztrio gesehen. Das hat mich aus der Bahn geworfen. Anscheinend haben sich die Regeln geändert.«

»Was für Regeln?«

»Ich sehe Leute aus der Vergangenheit.« Die Turmuhrglocken läuteten zur vollen Stunde, doch ich sprach leise weiter. »Sie sind wie eine Filmprojektion, ohne Substanz, und wenn ich versuche, sie zu berühren, verschwinden sie. Ich bin hundert Prozent sicher, dass ich noch nie drei auf einmal gesehen habe. Plus Klavier.« Oder eine Pferdekutsche.

»Zumindest haben sie gut geklungen. Der Bass war schön weich.« Er neigte den Kopf zu den Glastüren, aus denen nach wie vor Musik drang. »Klingt immer noch gut.«

»Du scheinst nicht beeindruckt zu sein. Noch nie hat jemand anders sehen oder hören können, was ich sehe oder höre. Also, wie kommt das?«, fragte ich, obwohl es offensichtlich war, dass er genauso einen Dachschaden hatte wie ich.

»Sagen wir mal, meine Mom hat immer gesagt, ich hätte eine Menge Phantasiefreunde.«

Ich legte den Kopf schief, um ihm besser ins Gesicht sehen zu können. »Es ist also schon so, seit du ein kleiner Junge warst?«

Michael nickte. »Und bei dir?«

»Seit vier Jahren.« Die Glocken verstummten nach dem zehnten Schlag, und die plötzliche Stille hatte etwas Gespenstisches. Zeit für einen Themenwechsel. Ausweichen und ablenken. »Tut mir echt leid, dass ich dich geschlagen habe.«

»Es sei dir vergeben.« Er zwinkerte mir zu. »Mit so einem zierlichen Ding wie dir werde ich schon fertig.«

Ich biss mir auf die Zunge. Diese Chauvisprüche würde ich ihm abgewöhnen müssen.

»Wenn du mir hilfst, wie funktioniert das? Haben wir … Sitzungen oder so etwas? Was willst du mit mir machen?« Hoppla. Ein gefährliches Blitzen in seinen Augen. Ich räusperte mich. Ich musste auf meine Ausdrucksweise achten. »Ich meine für mich.«

Das Blitzen verschwand nicht aus seinen Augen. »Als Erstes würde ich mir gern deine Geschichte anhören.«

»Das ist einfach.« Als ob es einfach wäre, sich jeden Schrecken erregenden Augenblick noch einmal vor Augen zu führen. Als ob ich Lust dazu hätte, mich einem völlig Fremden schutzlos auszuliefern. Ich rieb mir den Nacken, dessen Muskeln sich verkrampft hatten.

»Emerson.« Ich liebte die Art, wie er meinen Namen sagte. Oder vielleicht sah ich einfach gern, wie er die Lippen bewegte. »Ich weiß, das ist schwer für dich, aber ich will, dass du ehrlich zu mir bist. Du kannst mir vertrauen.«

Offenbar wusste er nichts von der Regel, niemals jemandem zu vertrauen, der sagt: »Du kannst mir vertrauen.«

»Mal sehen, wie es läuft. Wann fangen wir an?«, fragte ich.

»Wie wär’s morgen?«

Zu früh.

 

Am nächsten Morgen zog ich meine Lieblingsjeans an, ein tailliertes schwarzes T-Shirt und meine bequemen schwarzen Converse-Turnschuhe. Sie gaben mir immer ein Gefühl von Entschlossenheit und Mut. Mein Haar steckte ich locker hoch und zupfte ein paar sonnengebleichte Strähnen heraus. Ich schminkte mich ein wenig sorgfältiger als gewöhnlich und betonte meinen makellosen Teint mit einem Hauch von Puder. Und alles nur für ein Frühstück mit Michael.

Hmmm.

Gemächlich durchquerte ich das Stadtzentrum und genoss die friedvolle Stille. Die Schwüle war noch nicht zurückgekehrt, und nach dem gestrigen Regen ahnte ich beinahe schon die klare Luft der bevorstehenden Herbstmonate. Ich hatte eine Schwäche für fallende Blätter, Heuwagenfahrten, Vogelscheuchen und ganz besonders für Halloween. Wer einen so gruseligen Alltag hat wie ich, für den geht’s an Halloween um nichts weiter als um riesige Berge von Süßigkeiten und Kürbislaternen – solange ich zuhause blieb, um die Tür zu öffnen. Keine meiner Visionen hatte je bei uns geläutet, und so fühlte ich mich ziemlich sicher, wenn ich mit einer Riesentüte Fruchtgummis vor dem Fernseher herumlümmelte, um mir die x-te Wiederholung des uralten Peanuts-Kürbisfilms anzuschauen.

Michael und ich waren im Murphy’s Law verabredet, dem Buchladen-Café, das Lilys Großmutter gehörte. Diese Frau ist nicht nur eine Heilige, sie macht auch die wahnsinnigsten kubanischen Kaffeespezialitäten und Apfelempanadas, die so köstlich sind, dass sie eine Nonne zum Fluchen bringen. Die Location hatte nur einen Nachteil.

Als ich Murphy’s Law am Abend zuvor vorgeschlagen hatte, war mir vor lauter Aufregung nicht in den Sinn gekommen, dass Lily während unseres Treffens ebenfalls dort sein könnte. Es blieb mir erspart, mir eine passende Geschichte auszudenken, denn ich traf sie auf dem Gehsteig. Offensichtlich hatte sie soeben das Haus verlassen und war auf dem Weg zur Arbeit, da sie ihre Kameratasche dabeihatte.

»Hallo, Lily! Wie lief das Shooting?«

Sie sah mich an und begann, rückwärts vor mir herzugehen. »Ganz gut. Bis auf die Fledermäuse, die er vergessen hat zu erwähnen. Und die Filmcrew. Wenigstens bin ich diesmal nur von einem Produktionsassistenten angebaggert worden.«

»Wow, nur von einem Typen? Sieht so aus, als ob du bald keinen mehr vom Hocker reißt.« Lilys Chef arbeitete manchmal mit Dokumentarfilmern zusammen. Sie behauptete, dass viele von ihnen mehr Anspruchsklagen am Laufen hatten als das gesamte britische Königshaus. Und die meisten erhoben Ansprüche auf sie.

»Hoffen wir das Beste!« Nach einigem Wühlen zog sie einen gigantischen Blaubeermuffin aus ihrer Kameratasche und gönnte sich einen Happen.

»Bist du in Eile?«, fragte ich betont beiläufig mit Blick auf die Kameratasche. »Hast du noch ein Shooting?«

»Nur die Sachen von gestern aufräumen und vielleicht ein bisschen retuschieren.« Sie hörte auf, rückwärts vor mir herzugehen, und musterte mich. Zuerst riss sie erstaunt die Augen auf, dann den Mund, wobei sie mir einen großzügigen Blick auf den zerkauten Muffin gewährte. »Sieh mal einer an. So sexy schon am frühen Morgen? Wo willst du hin? Wie war eigentlich die Party?«

Ich überlegte, ob ich ihr von Michael erzählen sollte. Aber dann hätte sie darauf bestanden, die ganze Geschichte zu hören, und was meine Visionen anging, tappte sie so ziemlich im Dunkeln.

»Hab kein bestimmtes Ziel. Und gestern Abend hast du nicht viel verpasst.« Abgesehen von einem Jazztrio, einem zerbrochenen Glas und dem atemberaubendsten Jungen, der je auf Gottes Erde gewandelt ist. »Geh nur. Wir können später quatschen.«

Lily drehte die Hand, in der sie den Muffin hielt, um auf die Uhr zu schauen. Sie kam ungern zu spät, aber ich wusste, wie sehr sie darauf brannte, mich weiter auszufragen. Ich hoffte darauf, dass ihr Hang zur Pünktlichkeit die Oberhand über ihre Neugierde gewann.

»Darauf kannst du wetten«, rief sie über die Schulter, als sie in die Seitenstraße einbog, in der sich das Fotostudio befand.

Das war knapp.

Vor dem Café blieb ich kurz stehen und legte die Hand auf meinen Bauch, um die Schmetterlinge darin zu beruhigen. Ich wusste nicht, was mich nervöser machte, die bevorstehende Diskussion oder die Person, mit der ich mich gleich treffen würde. Beim Öffnen der Tür läutete die vertraute Glocke, und ich schnupperte den verlockenden Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee. Und versuchte, meine Nerven zu beruhigen.

Michael saß im hinteren Bereich und studierte eine ausländische Zeitung, ich nahm an, eine spanische. Nachdem ich an der Theke meine Bestellung aufgegeben hatte, verstaute ich meinen Rucksack unter dem Tisch und gesellte mich zu ihm. Anscheinend hatte er sich noch nicht rasiert und trug genau wie ich ein schwarzes T-Shirt zu einer verwaschenen Jeans. Beides brachte seine sportliche Figur bestens zur Geltung. Seine Muskeln schienen Muskeln zu haben.

»Liest du das wirklich, oder willst du nur angeben?«, fragte ich herausfordernd.

Er schaute von der Zeitung auf und bombardierte mich mit einer wahren Sturzflut fremder Worte.

»Tut mir leid, war nur ’ne Frage. Moment mal, waren das vielleicht jede Menge Schimpfwörter?«

Michael lachte, wobei seine weißen, ebenmäßigen Zähne aufblitzten. Sein Lachen klang angenehm, natürlich, als ob er es häufig tun würde. Ich wünschte, ich hätte so lachen können. Sein Lächeln brachte mich genauso durcheinander wie am letzten Abend.

»Welche Sprache war das?«

»Italienisch.«

»Wo hast du das gelernt?«

»Von meiner Großmutter.« Michael legte die Zeitung beiseite, beugte sich über den Tisch und schaute mir eindringlich in die Augen. »Was willst du?«

»Ich hab schon einen Espresso bestellt«, antwortete ich und lehnte mich instinktiv zurück.

»Nein, ich meine, was willst du vom Leben?«

»Ist es nicht ein bisschen früh am Tag für philosophische Diskussionen?« Ich strich mir eine lose Haarsträhne aus der Stirn und rutschte unbehaglich auf dem Stuhl herum.

»Warum verunsichert dich die Frage?«

»Normalerweise laufe ich nicht durch die Gegend und spreche mit Fremden über meine persönlichen Pläne und Wünsche.« Die Kellnerin brachte mein Getränk und die Empanada an den Tisch. Als sie sich entfernte, fuhr ich fort. »Du bist natürlich kein völlig fremder Mensch für mich, aber schließlich kenne ich dich erst seit gestern.«

»So fremdartig bin ich gar nicht.« Ein weiteres verwirrendes Aufblitzen weißer Zähne. »Dann lass uns nicht von deinem ganzen Leben sprechen, sondern von einer kürzeren Zeitspanne. Was erwartest du vom heutigen Tag?«

Ich hob die Tasse an die Lippen und blies auf den dampfenden Inhalt. Vielleicht konnte ich ihm weismachen, dass ich vom heißen Espresso so rote Wangen hatte und nicht aus … Verlegenheit.

Michael vermittelte so überzeugend den Eindruck, als hätte er alle Zeit der Welt, um mir zuzuhören, dass ich ganz durcheinander war. Die Schmetterlinge in meinem Bauch regten sich. Ich war nicht bereit, ihm gegenüber vollkommen ehrlich zu sein. Vielleicht würde ich es niemals sein. Ich war keine gute Lügnerin. Aber vom Thema ablenken, das konnte ich. Darin war ich Spezialistin.

»Warum erzählst du nicht ein bisschen was von dir? Ich glaube, ich würde mich bei der Sache hier viel wohler fühlen, wenn ich etwas mehr über dich wüsste.« Dagegen konnte er nichts sagen. Und ich wollte wirklich mehr über ihn wissen. Viel mehr.

Michael legte die Hände auf den Tisch. Seine Finger waren lang, die Nägel gerade abgeschnitten und an der rechten Hand ein wenig länger, und ich fragte mich, ob er Gitarre spielte. Am linken Daumen trug er einen Silberring.

»Ich habe eine Schwester; ihr Name ist Anna Sophia. Meine Mutter arbeitet in der Immobilienbranche. Hochpreisige historische Objekte. Sie ist sehr erfolgreich – so ähnlich wie Thomas. Sie ist mein großes Vorbild. Mein Dad ist von der Bildfläche verschwunden, als ich acht war.« Er lächelte andeutungsweise, und ich fragte mich, wie seine Geschichte weitergehen würde. »Ich bin in einem Vorort von Atlanta aufgewachsen und arbeite seit fast einem Jahr für Hourglass.«

Da meine Internetrecherche nichts ergeben hatte, wusste ich nichts über Hourglass, aber ich hatte ein Bild von Marlon Brando im Hinterkopf, im Hinterzimmer eines italienischen Restaurants, in einer Zigarrenrauchwolke, zwei schwer bewaffnete Jungs namens Paolo und Vito an seiner Seite. Ich brauchte ein klareres Bild. Oder zumindest eines, das weniger beängstigend war.

»Was genau macht ihr so bei Hourglass?«, fragte ich.

»Beratung, Mentoring, Coaching und so weiter.«

»Wie hast du das Unternehmen gefunden? Oder war es umgekehrt?«

»Sie haben mich gefunden. Ich wurde einem Mentor zugeordnet, der mir geholfen hat, meine Fähigkeiten zu erkennen. Als ich letztes Jahr hier aufs College gekommen bin, habe ich angefangen, kleinere Beratungen zu übernehmen. Gespräche mit Kindern, die einen Vertrauten brauchten, Zusammentragen von Informationen, Sachen in der Art. Dann wurde alles anders. Als mein Mentor starb« – er hielt inne und holte tief Luft – »habe ich um mehr Verantwortung gebeten. Ich wollte etwas von dem zurückgeben, was ich bekommen hatte.«

Michaels Augen und Mund drückten Schmerz aus und noch etwas anderes, vielleicht Wut. Ich konnte nur ahnen, welcher Wust von Gefühlen unter der Oberfläche kochte.

»Das mit deinem Freund tut mir leid.«

»Gewinnen und verlieren, darum geht es im Leben«, erwiderte er, während die Traurigkeit die Oberhand über den Zorn in seinem Blick gewann. »Wer wüsste das besser als du?«

Nur dass in meinem Leben die Verluste viel schwerer wogen als die Gewinne. »Was für ein Auftrag bin ich? Beratung oder Mentoring?«

»Ein Teil meiner Arbeit ist, dass ich mit Leuten rede, die Schwierigkeiten damit haben, sich selbst anzunehmen. Ich höre zu.« Er zuckte die Achseln.

»So wie du mir zuhörst.«

»Du bist anders.«

»Bin ich das?«

»Japp.« Er grinste und die Schmetterlinge in meinem Bauch schlugen Purzelbäume. »Ich würde dir auch so zuhören.«

Wieder steckte ich die Nase in die winzige Espressotasse. Nach einem weiteren Schluck fragte ich: »Dann gehst du also schon aufs College?«

»Ich fang bald mein zweites Jahr an. Was ist mit dir?«

»Thomas will mich für die Abschlussklasse an der Ivy Springs Highschool anmelden. Eigentlich brauche ich nur noch ein Semester, weil ich in den letzten zwei Jahren zur Sommerschule gegangen bin. Am liebsten würde ich nur den G.E.D.-Kurs für die Hochschulreife machen. Aber Thomas lässt mich nicht.« Ich lachte freudlos. Ich konnte mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als an den Ort meines öffentlichen Mentalzusammenbruchs zurückzukehren. »Ich wünschte, er überlegte es sich noch anders. Ich brauche eine Pause.«

»Also wenn jemand eine Pause verdient hat, dann du«, sagte Michael mit verständnisvoller Stimme. »Vielleicht kannst du eine andere Alternative zur Highschool finden, mit der Thomas einverstanden ist.«

»Vielleicht«, sagte ich zweifelnd. »Jedenfalls werd ich versuchen, so schnell wie möglich wieder alles auf die Reihe zu kriegen, damit du bald wieder zu deinen Bierpartys, Footballspielen und Cheerleaderinnen zurückkannst.«

»Ich trinke nicht, ich mag lieber Baseball, und Cheerleaderinnen sind auch nicht mein Fall.«

Was sie garantiert zutiefst bedauerten.

»Und Emerson«, fuhr Michael fort und sah mir tief in die Augen. »Nur um es mal ganz klar zu sagen. Es stimmt nicht, dass mit dir was nicht in Ordnung ist.«

Die ganze Situation und seine Nähe machten mich verlegen, und ich wich seinem Blick aus. »Netter Versuch, aber ich bin da anderer Meinung. Nichts für ungut!«

Er seufzte. »Ich weiß, dass du weitere Fragen hast. Warum stellst du sie nicht einfach?«

Nervös zerknüllte ich die Serviette auf meinem Schoß. Michael konnte dieselben Dinge sehen wie ich, aber es machte ihm keine Angst. Er wirkte ruhig und verständnisvoll. Wenn ich mit ihm sprach, konnte ich das beklemmende Gefühl in meiner Brust fast vergessen. Ich wollte ihm vertrauen. Ich wollte ihm Fragen stellen. Ich wollte wissen, warum er das Ganze anders empfand als ich, denn das tat er offensichtlich.

»Wie war es, als du zum ersten Mal eine Vision hattest?«, fragte ich leise.

»Meine Mom hatte dieses Haus im historischen Peachtree District von Atlanta entdeckt. Bürgerkriegszeit.«

Meine gestrige Erfahrung mit Scarlett kam mir in den Sinn, und ich konnte mir ein leises Stöhnen nicht verkneifen. Kurz nachdem ich angefangen hatte, Sachen zu sehen, musste ich mir eine dieser unseligen historischen Bürgerkriegsnachstellungen anschauen, die hier im Süden so beliebt sind. Ich hatte keine Ahnung, wer tot oder lebendig war. Danach mochte ich eine Woche lang mein Zimmer nicht verlassen.

»Die Dinge, die wir sehen … Was sind sie? Ich meine, ich habe keine Ahnung wieso, aber ich habe sie nie für Geister gehalten. Aber ich weiß nicht, was sie sonst sind. Weißt du es?«

Michael kam ein wenig näher. »Ich nenne sie mit ein bisschen Ironie die Zeitlosen. Fast wie Zeitstempel von Leuten, die in ihrem Leben einen großen Eindruck auf der Welt hinterlassen haben.«

»Ist das nicht dasselbe wie ein Geist?«

»Es ist ein bisschen komplizierter als das.«

»Inwiefern?«

»Es ist ziemlich schwer zu erklären«, erwiderte Michael und trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. »Es hat etwas mit theoretischer Physik und Zeitrissen zu tun, aber ich bin gern bereit, dir zu erklären …«

Ich hielt die Hand hoch. »Nein, danke. Ich glaube dir auch so. Fürs Erste.«

Ich dachte über seine Definition nach. Sofort kam mir der Mann, den ich gestern gesehen hatte, in den Sinn. Ich war sicher, dass er auf seine Weise Eindrücke hinterlassen hatte. »Hm, Zeitrisse, Risse in der Zeit. Das erklärt zumindest, wieso ich Leute aus der Vergangenheit sehe. Es ergibt einen Sinn, vorausgesetzt, dass etwas so Verrücktes jemals einen Sinn ergeben könnte. Entschuldigung.«

»Du musst dich nicht entschuldigen. Du sollst nicht alles korrigieren, was du sagst.«

»Keine Sorge.« Ich warf ihm einen freudlosen Blick zu. »Das Meiste, was aus meinem Mund kommt, ist die volle Wahrheit. Mein Laufwerk da oben«, ich tippte mir an die Stirn, »ist etwas beschädigt, deshalb ist mein Mundwerk schneller als mein Gehirn.«

»Gut.« Michael lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die langen Beine unter dem Tisch aus. Seine schwarzen Motorradstiefel wirkten riesig neben meinen winzigen Turnschuhen. »Ich bin ein großer Freund der Wahrheit. Ich hasse es, wenn Leute Sachen geheim halten.«

Mit Geheimhaltung kannte ich mich bestens aus.

»Wie viele Leute wissen die Wahrheit über dich?«

»Meine Familie. Hourglass.« Er räusperte sich und drehte den Ring an seinem Daumen herum. »Ein paar gute Freunde. Eine kleine Gruppe Auserwählter.«

Ich fragte mich, ob die Gruppe der Auserwählten eine Freundin beinhaltete. Am liebsten hätte ich nachgefragt, aber dann entschloss ich mich, nicht zu persönlich zu werden. »War es schwer? Ihnen von den Dingen zu erzählen, die wir sehen?«

»Eigentlich nicht. Einige von ihnen haben selbst besondere Fähigkeiten.«

»Dieselben wie wir?« Erschrocken stellte ich fest, dass ich mir wünschte, als Einzige sein Schicksal zu teilen.

»Nein.«

»Aber es gibt also andere Leute, die… spezielle Dinge tun können?«

»Mehr als du vielleicht ahnst«, erwiderte er, ohne den Blick von mir abzuwenden.

»Hmm.« Ich ließ diese Auskunft auf mich wirken und konzentrierte mich auf meine Empanada. Michael ließ mir die Zeit, die ich brauchte, und wandte sich wieder seiner Zeitung zu.

In dem Moment, als ich anfing, diese Sachen … diese Zeitlosen zu sehen, wurde ich zu einem Freak. Dann wurde ich zu einem Freak ohne Eltern. Wenn Kinder zu Waisen werden, kann es sein, dass sie zunächst untergehen, aber nach einer Weile kommen sie wieder an die Oberfläche zurück. Ich nicht. Ich bin nicht mal zum Luftholen aufgetaucht, bis ich einige Zeit in einer Privatklinik therapiert und unter Drogen gesetzt worden war.

Jetzt saß mir Michael gegenüber und erklärte ganz beiläufig, dass er so sei wie ich; behauptete, es gäbe da draußen noch eine ganze Reihe von Leuten mit »speziellen« Fähigkeiten. Die Vorstellung, da wären andere Menschen mit besonderen Gaben, Menschen, mit denen ich möglicherweise in Kontakt treten könnte, war überwältigend und tröstlich zugleich. Mit einem von ihnen konnte ich mir jetzt schon vorstellen, eine Beziehung einzugehen – momentan warf er mir hinter seiner Zeitung verstohlene Blicke zu. Ich hätte mir ja denken können, er würde ein Auge auf mich haben.

Aber wahrscheinlich wartete er nur darauf, dass ich durchdrehte, und wollte darauf vorbereitet sein.

»Okay«, sagte ich schließlich und unterbrach die Stille. »Was soll ich tun?«

»Es läuft alles auf meine ursprüngliche Frage hinaus.« Er faltete seine Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. »Was willst du?«

»Ich will normal sein, aber ich weiß, dass das nicht möglich ist.«

»Normalität wird überbewertet.« Sein Lächeln war zum Dahinschmelzen.

»Na ja …« Ich geriet ins Stocken – wieder einmal verwirrt durch seinen Mund. »Wenn normal keine Option ist, würde ich, glaube ich, gern so viel wie möglich von dem verstehen, was ich bin.«

»Was wir sind«, korrigierte er mich. »Wie wär’s, wenn wir heute Abend essen gehen? Dann kannst du den ganzen Tag darüber nachdenken, welche Fragen du mir stellen möchtest.«

Essen gehen. Heute Abend. O Gott. Ja. »Ich besorg uns einen Tisch im Phone Company. Um sieben?«

»Abgemacht, dann haben wir also ein Date«, sagte er und stand lächelnd auf. So schnell wie das Lächeln gekommen war, verschwand es wieder. »Nun ja, kein Date im eigentlichen Sinne. Bei Hourglass wird es nicht gern gesehen, wenn die Angestellten Arbeit und … Vergnügen vermischen.«

Ich nickte ihm lächelnd zu, bevor er das Café verließ, doch all die wunderschönen Schmetterlinge in meinem Bauch machten eine jähe Bruchlandung.

Natürlich wurde es nicht gern gesehen.

Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
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