3. KAPITEL
Leider hatte ich nicht so viel Glück.
Als ich ins Restaurant kam, hielt Dru beide Daumen hoch, während mein Bruder einen anerkennenden Pfiff ausstieß. Nachdem ich erklärt hatte, warum ich allein gekommen war, ging ich brav zu den »wichtigen Leuten«, denen Thomas mich unbedingt vorstellen wollte. Ihre Gesichter verschwammen im Glanz unzähliger Pailletten, Perlen und Diamanten, mit denen sie auf jeder Oscar-Verleihung Furore gemacht hätten. Sobald ich mich davonstehlen konnte, versteckte ich mich hinter dem Jazztrio zwischen Wendeltreppe und Bar, nippte an einem Saftcocktail und versuchte, mich unsichtbar zu machen.
Ohne groß nachzudenken, hatte ich meine Mörderschuhe abgestreift und betrachtete nun den ganzen Rummel.
Ich war immer eher schüchtern gewesen, hatte mich aber nie komisch verhalten, bevor ich anfing, Visionen von Leuten aus der Vergangenheit zu sehen. Es ist wirklich ein merkwürdiges Gefühl, wenn man nicht weiß, ob die Person, mit der man gerade spricht, körperlich anwesend ist oder nicht. Nicht zu wissen, ob man bei der nächsten Halluzination einen psychotischen Zusammenbruch erleidet. Als die Visionen sich häuften, achtete ich darauf, ob eine der anwesenden Personen von den anderen ignoriert wurde, was ein Hinweis darauf war, dass diese Person nicht real war. Natürlich hatte ich am Ende oft Mitleid mit diesen Leuten und sprach trotzdem mit ihnen. Wobei ich mich natürlich vergewisserte, dass uns niemand beobachtete.
Nur für den Fall.
Vor langer Zeit hatte ich damit aufgehört, Leute, die ich sah, wie Ballons zerplatzen zu lassen. Wenn ich meine Hand in etwas hineinschob, das wie ein Mensch aussah, und nichts als Luft spürte, musste es sie genauso in den Wahnsinn treiben wie mich. Also ließ ich die Visionen nach Möglichkeit in Ruhe, es sei denn, ich musste durch sie hindurchgehen.
Zumindest war am heutigen Abend bis jetzt alles normal. Ich hatte mich gerade ein wenig entspannt, als ich am anderen Ende des Raums bei den Türen zur hinteren Terrasse einen jungen Typen stehen sah. Seine breiten Schultern steckten in einem Smoking, der ihm hervorragend stand, was Pech für mich war. Während ich ihn abcheckte, ging ich meine übliche Liste durch, die mir dabei half herauszufinden, ob jemand lebendig war oder nicht. Punkt eins war der Stil der Kleidung. Abendgarderobe war viel schwieriger für mich als Straßenkleidung. Sie wurde aus gutem Grund als klassisch bezeichnet, und seine Kleidung war so klassisch, wie man es sich nur vorstellen konnte.
Sein schwarzes Haar war recht lang – auch das half mir nicht weiter. Auf lässige Weise sexy, aber keine bestimmte Stilrichtung. Ich konzentrierte mich auf sein Gesicht. Glatt rasiert, doch ich ahnte, dass sich spätestens um fünf Uhr nachmittags auf seinem Kinn ein deutlicher Bartschatten zeigen würde. Beneidenswert geschwungene Brauen setzten seine Augen in Szene. Der olivfarbene Teint ließ auf mediterrane Vorfahren schließen, und die hohen, kräftigen Wangenknochen verliehen seinen Gesichtszügen Charakter. Nur sein auffallend großer Mund fiel aus dem Rahmen. Seine vollen Lippen brachten mich aus der Fassung.
Ich hoffte wirklich sehr, dass er lebendig war.
Energisch rief ich mich zur Vernunft. Was machte ich da nur? Lippen standen nicht auf meiner Checkliste. Außerdem war es ganz und gar nicht meine Art, Jungs anzustarren, selbst wenn sie noch so gut aussahen. Doch nach seinem leichten Grinsen zu urteilen hatte ich anscheinend soeben gegen meine Prinzipien verstoßen. Hastig quälte ich mich wieder in meine hochhackigen Folterinstrumente und schaute mich suchend nach Thomas und Dru um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Ich blickte wieder zu dem Typen im Smoking, der direkt auf mich zukam.
Nichts wie weg. Als ich mein Glas auf dem Klavier abstellen wollte, sah ich erschrocken, wie es hindurchfiel und auf dem gefliesten Boden in tausend glitzernde Scherben zersprang.
Augenblicklich tauchte mein Bruder neben mir auf. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Nein. Es sei denn, du siehst ebenfalls ein Jazztrio?«, sagte ich hoffnungsvoll.
»Nein, ich sehe keins.«
»Dann kann ich definitiv sagen, dass mit mir gar nichts in Ordnung ist.« Die Phantommusiker spielten unbeirrt weiter. Ich hatte nicht versucht, mit ihnen in körperlichen Kontakt zu treten. Das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie nicht verschwunden waren.
Nicht nur einer, sondern drei auf einmal? Und ein Flügel? Ich hatte noch nie zuvor eine ganze Szenerie gesehen. Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. »Ich brauche frische Luft!«
»Wenn Sie uns bitte entschuldigen würden.« Thomas lächelte die realen Leute an, die in unserer Nähe standen, bevor er als perfekter Gastgeber seiner leicht hysterischen Schwester Beistand leistete. Er führte mich durch den Saal, und währenddessen gab ich mir alle Mühe, so zu tun, als würde ich die neugierigen Blicke der Umstehenden nicht bemerken. Wir traten auf die Terrasse, auf der sich glücklicherweise niemand aufhielt, da es sich nach dem Regenguss merklich abgekühlt hatte.
Ich holte tief Luft, um mich ein wenig zu beruhigen. »Wie viele alte Häuser planst du noch zu öffentlichen Gebäuden umzubauen? Nur damit ich mich gefühlsmäßig darauf vorbereiten kann.«
Gott sei Dank lebten wir nicht in Europa. Dort mussten ganze Heerscharen von Toten aus einer Unzahl vergangener Jahrhunderte herumspazieren. In den USA hatte ich es nur mit ein paar Generationen von Leuten zu tun, die man mit heute lebenden Menschen verwechseln konnte. Als Thomas und Dru einen Ausflug zum alljährlichen Cherokee-Indianerfest in North Carolina vorschlugen, habe ich mich schlichtweg geweigert mitzukommen. Bloß keine Nachstellungen historischer Ereignisse. Niemals.
»Ich kann nicht fassen, dass es so schlimm ist«, sagte Thomas und tätschelte meinen Arm, um mich zu trösten. Ich schüttelte nur den Kopf. Jetzt war nicht der richtige Augenblick, ihm die Wahrheit über meine Medikamente zu gestehen, denn in diesem Augenblick kam der Typ im Smoking durch die zweiflügelige Glastür nach draußen geschlendert.
»Siehst du ihn?« Ich hielt mir die Hände vors Gesicht und spähte vorsichtig durch meine zitternden Finger, starr vor Schreck bei der Vorstellung einer weiteren Vision, die so schnell auf das Jazztrio folgte.
»Wen soll ich sehen?«
»Ihn.« Ich gab Thomas ein Zeichen, sich umzuschauen. Wenn der Smokingtyp kein Mensch aus Fleisch und Blut war, würde ich um eine erneute Einweisung in die Psychoklinik bitten.
»Ja, ich sehe ihn.« In Thomas’ Stimme schwang Erleichterung mit. »Das ist Michael.«
»Wer ist Michael?«
»Er ist der neue Berater, von dem ich dir erzählt habe.«