26. KAPITEL

Über die Hintertreppe gelangten wir in eine sonnige Küche mit Holzfußboden und zitronengelb gestrichenen Wänden. Michael setzte sich zu zwei Jungs an den Tisch, aber ich blieb fasziniert stehen, als ich Dr. Rooks an der Kochinsel stehen sah, wo sie Obst in Stücke schnitt. Ich hatte noch niemanden eine Ananas so geschickt zerteilen sehen. Auf einem Teller lag schon ein Haufen mundgerechter Stücke und ließ die Küche wie eine tropische Bar duften, so dass mir das Wasser im Munde zusammenlief.

»Guten Morgen.«

»Den wünsche ich dir auch«, erwiderte sie mit ihrer melodischen Stimme und nahm eine große Orange von der Anrichte. »Michael hat erzählt, ihr beiden hättet die halbe Nacht geredet.«

»Ähm … Tut mir leid, dass Sie ganz umsonst das Bett für mich hergerichtet haben.«

Sie legte das Messer ab, blinzelte ein paarmal mit ihren unfassbar langen Wimpern und sah mich an. »Ich habe nicht mal ein Laken geholt.«

Mir fiel die Kinnlade herunter, und sie lachte.

»So etwas sieht ihm gar nicht ähnlich, und ich war schon ein bisschen überrascht, wenn man bedenkt… Aber es ist schon in Ordnung.« Ich fragte mich, was sie mit »wenn man bedenkt« meinte. Sie lächelte und reichte mir ein Stück Obst. »Er ist ein ganz besonderer junger Mann.«

Das Blut stieg mir in die Wangen. Ich beugte mich vor, um mich nicht mit dem süßen Obstsaft zu bekleckern, und hielt die Hand darunter. Die Ananas schmeckte sogar noch besser, als sie roch. Während ich kaute, überlegte ich, was ich als Nächstes sagen sollte. »Es ist nichts … Ich meine, wir haben nicht … Da ist nichts zwischen uns.«

»Tut mir leid. Ich hätte keine voreiligen Schlüsse ziehen dürfen.« Sie ritzte die Orangenschale ein. »Ich dachte, ich hätte eine starke Verbindung zwischen euch beiden gespürt. Vielleicht habe ich mich aber auch geirrt.«

Auf der Anrichte entdeckte ich einen Küchenpapierhalter in Häschenform. Die Ohren ragten aus der Rolle heraus, während das untere Ende auf übergroßen Pfoten stand. Ich riss ein Stück ab, um mir den Saft von den Fingern zu wischen. »Ich wollte mich nur für die Unannehmlichkeiten entschuldigen, Dr. Rooks.«

»Cat.« Lächelnd wandte sie sich wieder der Orange zu. »Überhaupt kein Problem.«

Sie war so cool, dass ich mich fast fragte, ob ich auch Physik studieren sollte. Fast.

Am Tisch wurden die Stimmen plötzlich lauter.

»Batman gewinnt. Keine übernatürlichen Kräfte – nichts als reine Willenskraft im Kampf gegen das Unrecht.« Ein Junge mit Dreadlocks und Schlafzimmeraugen spießte gerade einen kleinen Pfannkuchen auf die Gabel. Er trug ein farbenfrohes Hawaiihemd. »Er brauchte nichts weiter als Entschlossenheit.«

»Was für ein lahmes Argument, Dune. Superman ist der Beste, daran gibt’s nichts zu rütteln. Er ist Superman. Wer sollte besser sein als Superman?« Ein Junge mit schwarzen, von neongrünen Strähnen durchsetzten Haaren schaufelte sich gerade einen Riesenteller Rührei rein und schob seine dickrandige, schwarze Brille hoch. »Es sei denn, man rechnet X-Men als eine Person statt als Team …«

»Hey, Jungs«, schnitt Michael ihm das Wort ab. »Ich unterbreche eure hochwissenschaftlichen Erörterungen nur ungern, aber ich möchte euch mit Emerson bekanntmachen. Das sind Nate Lee und Dune Ta’ala.«

»Hi.« Gott sei Dank waren meine Wangen nach meinem Gespräch mit Cat sowieso schon rot. Ich kam mir vor wie eine Misswahlkandidatin vor der Jury.

Nates Mund öffnete sich und bot einen verlockenden Ausblick auf halb zerkautes Rührei. Dunes Gesichtsausdruck entsprach dem von Nate nur ohne die Eier. Sie schauten mich nicht an, sondern an mir vorbei.

Was war nur mit den beiden?

Die Antwort darauf bekam ich, als ich hinter mir eine weibliche Stimme hörte. »Oh, wie wundervoll, dich kennen zu lernen.«

Ich drehte mich um, weil ich sehen wollte, wer am frühen Morgen derart sarkastisch daherreden mochte.

Das Mädchen vom Foto.

Ich hatte ein Problem. Es gab keinen ersichtlichen Grund, dem Mädchen in der Küchentür eine Ohrfeige zu verpassen.

Und ich hätte so gern einen gehabt.

Ihre Beine waren endlos. Schlank aber mit Kurven. Vielen Kurven. Ihr Gesicht sah aus wie das Meisterwerk eines plastischen Chirurgen, aber ich hatte den schlimmen Verdacht, dass das Meiste natürlich war.

Oder alles.

Sie trug Schwindel erregend hohe Absätze und einen Schwindel erregend kurzen Rock, und ihr kastanienbraunes Haar wurde von einer Designersonnenbrille aus der Stirn gehalten.

Michael stand auf und trat zwischen uns. »Emerson«, sagte er in neutralem Tonfall. »Das ist Ava.«

Ich lächelte, aber es wirkte bestimmt, als würde ich die Zähne fletschen. »Ich find’s auch wundervoll, dich kennen zu lernen.«

Während wir uns anstarrten, wurde mir klar, wie kleinkariert, unreif und grundlos eifersüchtig ich war, doch jedes Mädchen, das einen Jungen erobern will, merkt es sofort, wenn sie ihrer Erzrivalin gegenübersteht.

Ich hatte das schreckliche Gefühl, den Kampf zu verlieren.

Um meine Fassung wiederzuerlangen, nahm ich ein Stück von der Orange. Als ich mich wieder umdrehte, saßen Ava und Michael zusammen am Tisch, und ich sah ihre Hand auf seinem Knie liegen, woraufhin ich mich hastig abwandte.

Den Orangenschnitz hatte ich zu Saft gepresst.

Ich riss ein weiteres Blatt Küchenpapier vom Häschenhalter und wischte mir die klebrige Soße ab. Dune unterbrach die Stille und meldete sich mit seiner tiefen Stimme zu Wort. »Und zieht Emerson nun ins Haus der Abtrünnigen?«

»Sie ist nur für einen Tag hier zu Besuch«, erwiderte Michael. »Mach den Mund zu, Nate.«

»Ich dachte, ihr zwei wärt gestern Abend schon hergekommen? Ich hab in der Nacht noch Stimmen gehört«, sagte Nate, nachdem er vernehmbar geschluckt hatte.

Bei einem verstohlenen Seitenblick sah ich, wie Michael Avas Hand von seinem Knie schob. Sie zog eine Schnute, und ich fragte mich, ob ich was verpasst hatte.

»Cat, ich hab da noch was mit dir zu besprechen«, sagte er. »Unter vier Augen. Hast du heute irgendwann Zeit?«

»Ja.« Ein paar feine Fältchen traten auf Cats Stirn, während sie Michael, mich und Ava nachdenklich musterte. »Ich gehe schnell nach oben und bin gleich wieder da.«

Dune stand auf und schob seinen Stuhl zurück, der geräuschvoll über den Holzfußboden schrappte, was mich nervös machte. Noch nervöser, als ich ohnehin schon war.

»Ich muss los und unsere Sachen zusammenpacken. Das Wasser wartet.« Damit war er verschwunden, doch dann steckte er den Kopf noch einmal durch die Tür. »Nett, dich kennen zu lernen, Emerson.« Er warf Ava noch einen Blick zu und verschwand.

»Wasser?«, fragte ich. »Was meint er damit?«

»Er ist ein hervorragender Wassersportler«, erwiderte Nate. »Seine Fähigkeiten sind sagenhaft.«

»Er hat selbst ein paar sagenhafte Fähigkeiten«, sagte Michael und deutete auf Nate. »Er kann nicht nur Riesenmengen Eiweiß verdrücken, er kann auch …«

»Ach, lass uns die Details auf später verschieben. Mit dem Eiweiß will ich Muskelmasse aufbauen. Bis jetzt hat’s aber noch nicht viel gebracht.« Nate deutete auf seine knochige Brust und grinste. Er schien nur aus dünnen, schlaksigen Gliedmaßen zu bestehen, die er nun in Bewegung setzte, um Nate zu folgen, so dass ich mit Michael und Ava allein zurückblieb.

Sie fixierte mich mit kaltem Blick, warf das Haar zurück und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Micheal. An der Art, wie sie ihn anschaute, war nichts Kaltes. »Ich muss dich sprechen. In meinem Zimmer.«

Sie wohnte hier?

Mein Magen zog sich zusammen. Jetzt verstand ich Cats Kommentar. Wenn man bedachte, dass Ava hier im Haus wohnte, war es kein Wunder, dass Michaels Entscheidung, mich hierherzubringen, sie überrascht hatte. Gestern Abend hatte ich mich auf seinen Schoß gekuschelt und ihm mein Seelenleben offenbart.

Emotional entblößt hatte ich mit ihm auf dem Sofa gelegen, während Ava oben geschlafen hatte.

Und die Art, wie sie ihn ansah, ließ vermuten, dass sie weitaus mehr waren als nur gute Freunde.

Die Stunde der Zeitreisenden: Hourglass 1
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