30. KAPITEL
Komm raus, egal, wo du gerade bist!«, rief ich leise, als ich mein Zimmer betrat. »Jack? Spiel jetzt bloß nicht den Schüchternen.«
Stille.
Ich öffnete die Schranktür, die Badezimmertür, schaute unters Bett.
Nichts.
Ich setzte mich in meinen Sessel und dachte nach. Im Gegensatz zu den Ledersitzen in Drus SUV fühlte sich das Leder unter meinen Beinen angenehm kühl an.
Womöglich hatte ich Jack durch meine Berührung für alle Zeiten verscheucht. Nachdenklich wickelte ich mir eine Haarsträhne um den Finger. Wenn es so wäre, hätte ich ein Problem weniger, weil ich immer noch nicht entschieden hatte, ob ich Michael von ihm erzählen sollte oder nicht.
Was hätte ich auch sagen sollen? Ach übrigens, da gibt es diesen halbfesten Typen, der im Dunkeln leuchtet und gern in meinem Zimmer rumhängt? Sollte ich zugeben, warum ich ihn nie zuvor erwähnt hatte? Jacks Aufmerksamkeit und sein Interesse für mich waren angenehm und konnten vielleicht sogar die unangenehme Tatsache, dass Michael die wunderschöne Ava als Alternative hatte und ich niemanden, ein wenig abmildern.
Auch wenn ich nicht wusste, was Jack war. Wie konnte ich das alles erklären, ohne wie ein Idiot dazustehen?
Wenn Jack verschwunden blieb, wäre er kein Thema mehr, und ich könnte mir um andere Dinge Sorgen machen, zum Beispiel um die Möglichkeit, beim Versuch, auf einer Zeitreise ein Leben zu retten, mein eigenes zu verlieren.
Solche Dinge eben.
So viel war seit meiner Rückkehr nach Ivy Springs geschehen. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Meine ganze Welt war aus den Fugen. Vor einem Monat wusste ich nicht, was die Zeitlosen waren. Ich wusste nicht, was meine Fähigkeit bedeutete. Ich wusste nichts von Michaels Existenz. Alles war viel einfacher gewesen.
Aber auch viel uninteressanter.
Ich wartete ein paar Minuten. Als Jack immer noch nicht auftauchte, klopfte ich an Michaels Wohnungstür. Keine Antwort. Ich ging zurück ins Restaurant und fand Thomas und Dru am Tisch. Allein.
»Wo ist Michael?«, fragte ich mit einem Blick auf die Uhr über der Bar. Ich war nur fünfzehn Minuten fort gewesen. Ein bisschen mehr Geduld hätte ich ihm schon zugetraut.
»Er ist gegangen.« Dru warf Thomas einen hastigen Seitenblick zu, bevor sie weiterredete. »Diese, äh, diese Frau ist bei ihm aufgetaucht. Sie sagte etwas von einem Notfall.«
»Welche Frau?« Hoffentlich sprach sie von Cat. »Groß und attraktiv? Superkurze Haare?«
»Nein«, sagte Dru entschuldigend. »Groß und attraktiv, aber lange, kastanienbraune Haare.«
Ava. »Was für ein Notfall? Hat sie was gesagt?«
Dru nickte. »Bevor ich gegangen bin, hat sie einen Namen genannt … Kaleb.«
»Michael hat darauf bestanden, dass du hierbleibst.« Thomas räusperte sich und nahm mein Handy vom Tisch, wo ich es liegen lassen hatte, bevor ich zu Michaels Loft gegangen war. Er steckte es in seine Hemdtasche. »Du sollst ihn nicht anrufen und dich ruhig verhalten. Zu deiner eigenen Sicherheit. Er hat gesagt, wir sollen dich aufhalten, wenn du versuchst, ihm zu folgen.«
»Klar hat er das gesagt«, murmelte ich. Von Eifersucht überkommen, ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen. Gleichzeitig machte ich mir schreckliche Sorgen. Was war nur geschehen, dass Ava Hals über Kopf nach Ivy Springs gefahren war, um Michael zu holen?
Ich legte den Kopf auf meine gefalteten Hände und kämpfte gegen Tränen und Erschöpfung an. Ich hatte gerade eine große Entscheidung getroffen und Michael bei seinem Versuch, Liam zu retten, meine Hilfe versprochen und konnte es kaum erwarten, in Aktion zu treten. Bei unserem Gespräch mit Thomas und Dru hatte ich mich so stark mit ihm verbunden gefühlt. Und jetzt verbarg er wieder etwas vor mir.
Ich bekam mit, wie Dru aufgeregt gestikulierte, um Thomas ein Zeichen zu geben. Als ich aufschaute, saßen sie und ich allein am Tisch. »Michael will dich anrufen, sobald das Problem behoben ist. Es wird bestimmt alles gut.«
Ich nickte.
»Er schien nicht glücklich, sie zu sehen, wenn es dich beruhigt.«
Tat es nicht.
Ich war verletzt, weil er ohne Abschied gegangen war, und wütend, weil mein Bruder Michaels »Befehle« für mich akzeptierte. Gleichzeitig fühlte ich mich zu niedergeschlagen, um zu streiten. Fürs Erste.
Dru seufzte und tätschelte meine Hand. »Wann hast du zuletzt was gegessen?«
Die Ananas im Haus der Abtrünnigen. »Beim Frühstück.«
»Ist es in Ordnung, wenn ich dich ein bisschen bemuttere?«, fragte Dru zärtlich. »Ich weiß, du hasst es, aber ich brauche Übung, bevor das Baby kommt.«
»Das ist unfair.« Das Baby vorzuschieben, war die reinste Erpressung.
Dru brachte mich nach Hause und fütterte mich mit frischem Brot und Tomatensugo aus dem Restaurant. Ich ließ sie sogar gewähren, als sie mir ein Lager auf dem Sofa aufschlug, obwohl ich wusste, dass sie es tat, um mich im Auge behalten zu können.
Trotz meiner körperlichen Erschöpfung wollte mein Gehirn einfach nicht abschalten. Unzählige Gedanken rasten durch meinen Kopf: Jack und wer oder was er war. Lily und die Geheimnisse zwischen uns. Michael und wo er jetzt sein mochte. Was er tat. Und mit wem.
Ich drehte und drehte mich im Kreis, ohne Antworten zu finden, und kämpfte gegen den Schlaf an, in der Hoffnung, das Telefon würde läuten.
Beim Aufwachen war ich völlig durcheinander. In den letzten Tagen hatte ich in drei verschiedenen Betten geschlafen, von denen mir Michaels am besten gefiel. Wahrscheinlich lag es am Kopfkissen.
Er rief nicht an. Oder er tat es, und Dru oder Thomas waren drangegangen, während ich schlief. Vielleicht hatte einer von ihnen den Klingelton abgestellt. Ich griff nach dem schnurlosen Telefon auf dem Couchtisch und rief die Nummern der letzten Anrufer auf.
Nichts.
Ich wusste nicht, wo Michael war, aber ich konnte mir ziemlich gut vorstellen, wo ich ihn finden würde. Entschlossen schlug ich die Decke zurück und sauste in mein Zimmer. Das Telefon nahm ich zur Sicherheit gleich mit.
»Einen Moment.« Thomas kam mit einer Schüssel Fruity Pebbles aus der Küche und versperrte mir den Weg. »Wo willst du hin?«
»Unter die Dusche.«
Er bewegte sich hin und her, damit ich mich nicht an ihm vorbeischlängeln konnte. »Und danach?«
»Wieso willst du das wissen?«
»Du hast doch wohl nicht vor, Michael zu suchen, oder?« Die Frage klang, als wüsste er die Antwort bereits.
»Kommt ganz drauf an«, sagte ich und stemmte meine freie Hand in die Hüfte. »Wie lange sollst du mich denn von ihm fernhalten?«
»Hat er angerufen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Er hat’s ernst gemeint, Em. Ich weiß nicht, ob ihm klar war, was ihm bevorstand, aber er wollte dich auf alle Fälle heraushalten.«
»Ich will im Café nachsehen, wann ich arbeiten muss«, sagte ich mit monotoner Stimme und mied seinen Blick. »Ist mir das gestattet?«
»Sei doch nicht so«, flehte er. Eigentlich hasste er es, mich so autoritär herumzukommandieren. Dennoch tat er es.
»Ich bin deine Schwester. Und du stellst Michaels Wünsche über meine. Wie kannst du nur?«, sagte ich vorwurfsvoll, mit der Absicht, ihn durch Schuldgefühle milde zu stimmen.
»Ich bin auf deiner Seite. Genau wie Michael«, erwiderte er selbstgerecht. »Er denkt nur an deine Sicherheit.«
Am liebsten hätte ich ihm das schnurlose Telefon, das ich immer noch in der Hand hielt, an den Kopf geschleudert. Frustriert drängte ich mich an ihm vorbei in mein Zimmer, knallte die Tür hinter mir zu und schloss sie ab.
Ich duschte schnell und ließ mein langes Haar einfach an der Luft trocknen. Beim Schminken und der Wahl meines Outfits gab ich mir, ohne mich zu fragen, warum, weitaus mehr Mühe und entschied mich für enge Jeans und ein figurbetontes grünes Shirt mit rundem Halsausschnitt. Trotz meiner Abneigung gegen Accessoires kramte ich sogar passende Ohrringe hervor. Auf der Kommode stand noch Drus Glitzerpuder, und ich gab ein bisschen davon auf meine Schlüsselbeinknochen. Obwohl ich mir fast ein bisschen nuttenmäßig vorkam, schlüpfte ich beim Verlassen der Wohnung in ein Paar hochhackige Riemchensandalen.
Thomas kam mir nicht in die Quere, aber als ich den Knauf der Wohnungstür umdrehte, hörte ich, wie Dru sich hinter mir räusperte.
»Was ist?« Ich drehte mich um. »Ich will ins Murphy’s Law. Mein Kerkermeister hat’s erlaubt, auch wenn er sich deshalb fast in die Hose gemacht hätte.«
»Arbeiten? An deiner Stelle wüsste ich, was ich täte.« Sie musterte mein Outfit und überreichte mir mein Handy und ihre Schlüssel. »Sorg dafür, dass ich es nicht bereue. Und hör auf, meinen Mann zu beleidigen.«
Ich nahm die Schlüssel und umarmte sie hastig. »Du wirst eine tolle Mutter!«
»Wenn du mein Kind wärst, würde ich dich an der Kinderzimmerwand festnageln.«
Ich hauchte ihr ein Luftküsschen zu und schloss leise die Tür hinter mir.