Die Stim­me aus dem Jen­seits
von
Werner Gronwald

 

 

Wer­ner Gron­wald, der am 24.12.1917 im ost­preu­ßi­schen Kö­nigs­berg ge­bo­ren wur­de und seit Kriegs­en­de in Ober­bay­ern lebt, hat ei­ne Rei­he von Ro­ma­nen, Er­zäh­lun­gen und Hör­fea­tu­res ge­schrie­ben. Er ar­bei­tet heu­te vor­wie­gend als Lek­tor und Über­set­zer in Mün­chen. Sein be­son­de­res In­ter­es­se gilt der mo­der­nen Hor­ror­sto­ry.

 

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Wenn ich doch nur nie an die­ser spi­ri­tis­ti­schen Sit­zung teil­ge­nom­men hät­te! Seit­her bin ich von ei­ner mar­tern­den Un­ru­he be­fal­len. Ich glau­be ei­nem furcht­ba­ren Ge­heim­nis auf der Spur zu sein und wa­ge mich den­noch kei­nem Men­schen an­zu­ver­trau­en.

Da­bei hat es wie ein harm­lo­ser Scherz an­ge­fan­gen. Wir wa­ren zu fünft auf Fred­dys Bu­de, als Ti­na vor­schlug, nur so als Ex­pe­ri­ment ein­mal Ver­bin­dung mit dem Jen­seits auf­zu­neh­men.

Bei mat­tem Ker­zen­licht war der Kreis um den run­den Tisch schnell ge­schlos­sen. Zu­erst spür­te ich gar nichts. Der Tisch stand fest am Bo­den – kein Pol­ter­geist rühr­te sich – gar nichts.

Aber dann hat­te ich mit ei­nem Ma­le das Ge­fühl, leich­ter und leich­ter zu wer­den. Die vier an­de­ren Ge­sich­ter im matt fla­ckern­den Ker­zen­licht ver­schwam­men zu blas­sen Sche­men, und wie aus ei­nem un­end­lich ho­hen Ge­wöl­be her­ab hör­te ich plötz­lich ei­ne hal­len­de Stim­me:

»Pa­me­la –! Pa­me­la –!«

»Ich kom­me!« hör­te ich mich ge­gen mei­nen Wil­len ant­wor­ten. »Ich kom­me.«

Im nächs­ten Mo­ment er­faß­te mich ein glü­hend hei­ßer Luft­strom und wir­bel­te mich em­por, bis ich in ei­nem Ele­ment von un­ge­heu­rer Hel­lig­keit fast zu er­sti­cken und zu zer­schmel­zen droh­te.

Und um mich her – über­all – war die hal­len­de Stim­me und rief:

»War­ne sie! War­ne die Flie­gen­den vor dem neun­ten Tag! Wenn du nicht hilfst, wer­den sie al­le am neun­ten Tag ab­stür­zen und ster­ben in Feu­er und Rauch!«

»Wer bist du?« Mei­ne Stim­me klang dünn und kläg­lich in die­ser un­er­meß­li­chen wei­ßen Wol­ke, in der ich zu schwe­ben schi­en. »Wer wird stür­zen? Wel­che Flie­gen­den?«

Aber die hal­len­de Stim­me wie­der­hol­te nur be­schwö­rend: »Am neun­ten Tag!« Und noch ein­mal lei­ser und wie ein ver­schwin­den­des Echo: »Am neun­ten Tag – warne sie – von der Frau im Meer –«

»Wer bist du, Frau im Meer?« konn­te ich noch ein­mal fra­gen.

Doch dann pack­te mich wie­der der glü­hend hei­ße Luft­strom, und jetzt wir­bel­te er mich aus der schwin­del­er­re­gen­den Hö­he her­ab und wie in einen schwar­zen Höl­len­sch­lund. Ich stürz­te und stürz­te und schrie auf, als ich plötz­lich aus der Schwär­ze über mir ge­spens­tisch blei­che Frat­zen auf­tau­chen sah. Sie grins­ten mich bö­se und höh­nisch an, und ih­re Lip­pen be­weg­ten sich. Doch ich hör­te im­mer noch nichts an­de­res als die­ses Rau­schen und Brau­sen in den Oh­ren wie von dem Sturz in un­er­gründ­li­che Tie­fen.

Bis dann die Dun­kel­heit sich lich­te­te und die Ge­sich­ter deut­li­cher wur­den. Da er­kann­te ich, daß es mei­ne vier Part­ner von der spi­ri­tis­ti­schen Sit­zung wa­ren. Sie stan­den über mich ge­beugt, und ich lag auf der Couch.

»Pa­me­la-Mäus­chen, hat dich der Geist von Tan­te Frie­da um­ge­schmis­sen?« frag­te Fred­dy mit gut­mü­ti­gem Spott. »Kippt ein­fach um und be­nimmt sich dann wie ein ech­tes Me­di­um. Das war ja ei­ne pri­ma Schau. Was hat dir denn der Geist von Tan­te Frie­da er­zählt?«

Da wa­ren mei­ne Lip­pen mit ei­nem Ma­le wie ver­sie­gelt. Ir­gend et­was Un­heim­li­ches schi­en noch au­ßer uns fünf in die­sem Zim­mer mit dem un­ru­hig fla­ckern­den Ker­zen­schein zu sein: ein Geist – ein We­sen, das mir das Spre­chen ver­bot.

Aber warum?

Ich konn­te mit die­ser Bot­schaft aus dem Jen­seits nichts an­fan­gen und hät­te sie am liebs­ten ver­ges­sen. Bis mir Fred­dy we­ni­ge Ta­ge spä­ter er­zählt, daß er für sei­ne Fir­ma nach New York flie­gen soll.

Da er­in­ne­re ich mich an die War­nung der hal­len­den Stim­me, und ein ei­si­ger Schreck packt mich.

»Et­wa am neun­ten?« fra­ge ich be­stürzt.

Da sieht mich mein Freund Fred­dy er­staunt an. »Stimmt. Wo­her weißt du das?«

»Du darfst am neun­ten nicht flie­gen«, sa­ge ich be­schwö­rend.

Gleich dar­auf hät­te ich mir am liebs­ten auf die Zun­ge ge­bis­sen. Denn Fred­dy lacht in sei­ner sorg­lo­sen Art, gibt mir einen Kuß auf die Wan­ge und fragt spöt­tisch: »Hängt das et­wa mit der Ho­kus­po­kus-Schau von vor­ges­tern abend zu­sam­men? Du glaubst doch nicht et­wa im Ernst an die­sen Quatsch mit Stim­men aus dem Jen­seits?«

Was soll ich da sa­gen?

Und doch ah­ne ich – spü­re ich mit je­der Fa­ser mei­nes We­sens, daß Fred­dy in To­des­ge­fahr ist – und mit ihm vie­le an­de­re ah­nungs­lo­se Men­schen, die an die­sem 9. De­zem­ber nach New York flie­gen wol­len.

Oh­ne daß ich sie ru­fe, er­scheint mir die Frau aus dem Meer in je­ner Nacht zum 9. De­zem­ber als ge­spens­ti­sche Er­schei­nung. Sie steht plötz­lich mit sträh­nig nas­sem Haar und mit grün­lich durch­sich­tig schim­mern­dem Kör­per vor mir.

Starr vor Angst und Ent­set­zen lie­ge ich im Bett. Da­bei glau­be ich zu spü­ren, wie sich mir buch­stäb­lich die Haa­re sträu­ben.

Die Frau aus dem Meer hebt war­nend die Hand und raunt mir et­was zu.

»… die Uhr … bun­tes Pa­pier … nicht mit­neh­men …«

Mehr als die­se sinn­lo­sen Satz­fet­zen ver­ste­he ich nicht. Aber wäh­rend ich noch starr vor Grau­en da­lie­ge und diese Geis­terer­schei­nung mit­ten im dunklen Zim­mer ste­hen se­he, er­ken­ne ich plötz­lich das Ge­sicht von Fred­dys äl­te­rer Schwes­ter Myr­na, von der er mir Fo­tos ge­zeigt hat.

Kaum ha­be ich sie er­kannt, da wird das Ge­sicht, wird die gan­ze Er­schei­nung un­deut­li­cher und zer­fließt und ver­schwin­det in der Nacht.

So­fort ma­che ich Licht. Mein Puls rast. Mei­ne Hän­de zit­tern, als ich mir ei­ne Zi­ga­ret­te an­zün­de. An Schlaf ist in die­ser Nacht nicht mehr zu den­ken. Mehr­mals grei­fe ich zum Te­le­fon­hö­rer und las­se je­des­mal die Hand mut­los wie­der sin­ken.

Fred­dy wür­de mich für ver­rückt er­klä­ren, wenn ich ihn jetzt mit­ten in der Nacht fra­gen wür­de, wie sei­ne Schwes­ter Myr­na vo­ri­ges Jahr ums Le­ben ge­kom­men ist. Dar­über hat er noch nie mit mir ge­spro­chen. So weiß ich nur auf Um­we­gen, daß Myr­na vor vier­zehn Mo­na­ten töd­lich ver­un­glückt ist.

 

Als vor den Fens­tern mei­nes Apart­ments neb­lig trüb der Mor­gen däm­mert, ist mein Ent­schluß ge­faßt. In we­ni­gen Stun­den star­tet Fred­dys Ma­schi­ne nach New York. Mir bleibt nur noch die­se kur­ze Zeit­span­ne.

Ei­ne Stun­de spä­ter ha­be ich te­le­fo­nisch von ei­ner schläf­ri­gen Stim­me in der Fried­hofs­ver­wal­tung er­fah­ren, daß Myr­na Thomp­son am 12. Ok­to­ber 1970 ge­stor­ben ist. Gleich dar­auf bin ich auf dem We­ge zum Zei­tungs­ar­chiv. Aber ich muß war­ten, bis ich end­lich in ner­vö­ser Hast die Zei­tun­gen vom 13. bis 17. Ok­to­ber 1970 durch­blät­tern kann.

We­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter ha­be ich drei Zei­tungs­no­ti­zen ge­le­sen, und jetzt ist mir al­les klar! Ich ra­se zur nächs­ten Te­le­fon­zel­le und ru­fe Fred­dy an. Gott­lob! Er ist noch da!

»Fred­dy, war dein Stief­bru­der Mal­colm et­wa heu­te mor­gen noch bei dir?« fra­ge ich so­fort.

»Ja, der war da«, ant­wor­tet er un­ge­dul­dig. »Aber Pa­me­la, ich ha­be jetzt wirk­lich kei­ne Zeit mehr. Das Ta­xi war­tet schon. In ei­ner Stun­de geht mein Flug­zeug. Bis nächs­te Wo­che –«

»Fred­dy!« ru­fe ich ver­zwei­felt. »Dein Ge­päck! Du mußt so­fort nach­se­hen –«

Aber er hat schon ab­ge­hängt. Mein Gott! Was soll ich nur tun? Die Po­li­zei alar­mie­ren? Die wür­den mich doch nur aus­la­chen!

Ich bin mit­ten in der Ci­ty, und Fred­dy wohnt nur zehn Au­to­mi­nu­ten vom Flug­ha­fen ent­fernt. Drei­mal sau­se ich noch bei Rot über die Kreu­zung und über­tre­te mit mei­nem Mi­ni-Mor­ris sämt­li­che Ge­schwin­dig­keits­be­schrän­kun­gen.

Aber ich muß es schaf­fen! Ich muß! Drei­hun­dert Men­schen flie­gen mit die­ser Jum­bo-Jet nach New York!

Als ich durch die Hal­le ren­ne, wer­den die Pas­sa­gie­re für Flug Num­mer B 609 um 11 Uhr 03 nach New York ge­ra­de per Laut­spre­cher auf­ge­ru­fen. Ich has­te durch die Paß­kon­trol­le und hö­re Be­am­te hin­ter mir wü­tend ru­fen.

»Fred­dy!«

Ich er­wi­sche ihn, als er mit sei­nem Bord­kof­fer ge­ra­de zum Aus­gang schlen­dert. Er starrt mich ganz ver­blüfft an.

»Hat dir Mal­colm et­was mit­ge­ge­ben?« ru­fe ich atem­los.

Er nickt er­staunt. »Ja, für sei­ne Freun­din ei­ne Schach­tel Wein­brand­pra­li­nen. Die sind drü­ben ver­bo­ten, und ich ha­be sie hier –«

Da zer­re ich schon den Reiß­ver­schluß der Au­ßen­ta­sche sei­nes Bord­kof­fers auf und zie­he die Schach­tel im bun­ten Ge­schenk­pa­pier her­vor.

»… die Uhr … bun­tes Pa­pier … nicht mit­neh­men«, hö­re ich die Geis­ter­stim­me der Frau aus dem Meer wie­der rau­nen.

Und als ich die Schach­tel jetzt ans Ohr hal­te, hö­re ich auch ganz deut­lich ein dump­fes Ti­cken!

Po­li­zei­be­am­te um­rin­gen uns in­zwi­schen schon. Ich hal­te ih­nen die Schach­tel im bun­ten Ge­schenk­pa­pier hin und ge­be ei­ne has­ti­ge Er­klä­rung.

Zehn Mi­nu­ten spä­ter ha­ben wir die schreck­li­che Ge­wiß­heit. Die ›Pra­li­nen­schach­tel‹ ent­hält ei­ne Zeit­zün­der-Uhr und ei­ne hoch­ex­plo­si­ve Spreng­la­dung, die die Jum­bo-Jet in zwei Stun­den mit über drei­hun­dert Men­schen an Bord hoch über dem At­lan­tik zer­ris­sen hät­te.

 

Seit­her ist mir die Frau aus dem Meer nie mehr er­schie­nen. Viel­leicht weil der Mord an ihr jetzt sei­ne Süh­ne fin­det. Man hat Fred­dys Stief­bru­der Mal­colm ver­haf­tet. Er steht un­ter Mord­an­kla­ge, nach­dem fest­ge­stellt wur­de, daß er auf Fred­dys Le­ben für den Flug nach New York ei­ne Un­fall­ver­si­che­rung in Hö­he von zwan­zig­tau­send Pfund ab­ge­schlos­sen hat­te.

Ge­nau­so hoch hat­te Mal­colm sei­ner­zeit die In­sas­sen­ver­si­che­rung ab­ge­schlos­sen, be­vor er die be­dau­erns­wer­te Myr­na am 12. Ok­to­ber 1970 mit der ver­steck­ten Zeit­zün­der­bom­be an Bord sei­nes Mo­tor­boo­tes in ih­ren si­che­ren Tod schick­te.

Seit­her macht Fred­dy kei­ne spöt­ti­schen Be­mer­kun­gen mehr, wenn von Geis­tern und Stim­men aus dem Jen­seits ge­spro­chen wird. Ich ha­be auch kei­ne spi­ri­tis­ti­sche Sit­zung mehr mit­ge­macht. Ich ha­be Angst – vor mei­nen ei­ge­nen über­sinn­li­chen Fä­hig­kei­ten.