Reitet,
Colonel!
von
Mary-Carter Roberts
Eine Geistergeschichte von geradezu welthistorischen Dimensionen ist Mary-Carter Roberts ›Reitet, Colonel!‹ eine fantasievolle, originelle Erzählung, die im amerikanischen ›Magazine of Fantasy and Science Fiction‹ erschienen ist – eine Geistergeschichte par excellence, die obendrein den Anspruch erheben darf, ein großes historisches Ereignis korrekt zu rekapitulieren … nur eben ein wenig anders, als man es aus den Geschichtsbüchern kennt, ein wenig geisterhafter, atemloser, aber der Größe dieses wahrhaft umwälzenden historischen Augenblicks durchaus angemessen.
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Der Geist des Generals saß am Tisch im Kommandeurzelt und unterzeichnete die Depesche mit dem Kratzen eines Federkiels. Der Geist des Colonels stand ihm gegenüber und sah zu. Überall in Amerika, ausgenommen in den Seelen gewisser inbrünstiger Wesen, war es der 19. Oktober 1974. Für jene Außerordentlichen jedoch war es der 19. Oktober 1781. Sie befanden sich auf dem Schlachtfeld bei Yorktown. Soeben hatten die Briten vor ihnen kapituliert. In jedem Jahr brachten ihre unsterblichen Erinnerungen ihnen diesen Tag in der Geschichte zurück, und ihre Geister suchten erneut den Ort des Geschehens auf, um es noch einmal zu erleben.
Washington rollte das Pergament; seine mächtige Faust wirkte ungeeignet für eine solche Aufgabe, die einem Sekretär gebührte, aber vollendete sie rasch. Er blickte auf zu Tilghman. Der Colonel war kein Mann, den irgend jemand auf den ersten Blick als klein bezeichnet hätte; er war mittelgroß und besaß breite Schultern, wuchtig und fest. Doch neben George Washington schien er klein zu sein. Wie die meisten Menschen. Denn Washingtons Größe kam aus seinem Innern und fand in seinem Riesenwuchs eher zufällig einen angemessenen Ausdruck. Diese Größe, nicht seine körperliche Gestalt, ließ andere Menschen vergleichsweise geringer wirken, wie immer auch ihre Körpermaße sein mochten.
Tilghman war mit dieser Verhältnismäßigkeit vertraut. Jahrelang war er Washingtons Adjutant und Sekretär gewesen. Doch die Kenntnis um seines Vorgesetzten Überlegenheit hatte seiner eigenen Integrität niemals geschadet oder auch nur an sie rühren können. Vielmehr hatte er die Revolution mit klarem Verstand eben um Washingtons Größe willen durchgefochten, die er als der revolutionären Sache würdig empfand. Um diese Sache, was ihre militärische und politische Kraft betraf, stand es schlecht. Ihre einzige Stärke war ihre furchterregende Gerechtigkeit. Washington war deren Verkörperung. Er verkörperte sie und würde sie immer verkörpern, gleichgültig, so war der Colonel überzeugt, unter welchen Umständen. General Washington war zuverlässig. Voll und ganz.
Zu allen anderen Erscheinungen der Revolution hatte Colonel Tilghman stets eine nüchterne Haltung bezogen. Er hatte jederzeit gewußt, daß die Amerikaner verlieren konnten, aber diese Möglichkeit als das einzige voraussehbare Übel betrachtet und als Gefahr, die sie auf sich genommen hatten. Krieg war Krieg. Und nun hatten sie gesiegt.
Er stand und sah zu, das Kinn auf die Brust geneigt. Und da er jung war und im Besitz eines lebhaften und genauen Erinnerungsvermögens, erlebte er in diesen wenigen Augenblicken eine Reihe anderer Momente wieder, während der er seinen Vorgesetzten beobachtet hatte. In West Point, am Morgen, als Washington kam, um mit Arnold zu frühstücken – und Arnold war fort, hatte hinter sich in der Luft den Gestank von Verrat zurückgelassen. In Newburgh, als Washington geduldig mit gemeinen, aber bitter notwendigen Männern sprach, die zugleich hofften und fürchteten, daß ihr gemeinsames Gewicht ihn verderbe. In Trenton im Sturm aus Schnee und Hagel aus Blei. Bei Valley Forge in einer Stille aus Schnee und Hunger. Es handelte sich in der Tat um ein ganzes künftiges Buch der amerikanischen Geschichtsschreibung, das dem Colonel durch den Kopf ging, aber für ihn war das alles die Gegenwart – in solchem Maße hatte er diesen Krieg als ein zusammenhängendes Ereignis erfahren. An diesem Tag des Sieges gab es keine Vergangenheit. Hier war die gesamte Revolution. Sie war die Luft – frisch, rege, verheißungsvoll –, die Washington und er atmeten.
Washington streckte die Depesche über den Tisch hin. Tilghman trat vor, um sie entgegenzunehmen. Da änderte Washington seine Absicht und erhob sich, ragte gewichtig empor, als er stand, so daß sein angegrautes rotes Haar, das wochenlang des Puders entbehren mußte, fast ans Zeltdach rührte. Seine Feldkleidung war zerknittert und beschmutzt, und an seinem Kinn sah man helle Bartstoppeln. Hochgewachsen und schmutzig war er, und nun mußte er etwas tun und sagen, das den weiteren Verlauf der Geschichtebestimmte. Er tat es und sagte es – er übergab die Depesche seinem Adjutanten, welcher der Bote der Geschichte war, und sprach sein Wort in klarem förmlichen Tonfall aus. »Zum Kongreß, Colonel.« Colonel Tilghman nahm die Rolle entgegen. Die Botschaft von einer großen Wende ›im Lauf der Weltgeschichte‹ war in seinen Händen.
»Jawohl, Sir«, sagte er. »Zum Kongreß.«
Und die Kürze der Äußerung, die eine so gewaltige Bedeutung besaß, erheiterte sie beide. Sie lächelten. Ihre vom Wetter gezeichneten Gesichter zeigten wie für einen kurzen Moment geöffnete Fenster etwas von der Erleichterung, die an jenem Morgen auf dem Schlachtfeld die Herzen aller Soldaten der Kontinentalarmee erfüllte. »Reitet, Colonel«, sagte George Washington unverändert klar und ruhig, doch nicht länger ganz so förmlich.
»Jawohl, Sir«, erwiderte der Colonel nochmals. Er drehte sich um und schritt hinaus.
Das Schlachtfeld von Yorktown im Jahre 1974, eine Nationale Gedenkstätte, lag von Menschen des Jahres 1974 nahezu verlassen, aber lieblich und duftig in der herbstlichen Sonne. Ein paar Autos befuhren die Straße, einige kleine Gruppen von Besuchern schlenderten durchs Gras. Hier waren der lange Friede, die festgehaltene Ehre. Nichts davon war sichtbar für den Geist von Colonel Tench Tilghman, den Adjutanten und Sekretär George Washingtons. In ihm stak das Leben des Jahres 1781 und schuf die Welt rings um ihn. Er sah das Feld der Entscheidungsschlacht. Die Sonne von 1781 schien auf sein Haupt, und das Erdreich von 1781 knirschte unter seinen Stiefeln.
Überall in seiner Sichtweite waren Zelte und Lagerplätze. Soldaten in vielerlei Röcken strömten umher. Die Franzosen trugen ihre heimatlichen traditionellen Uniformen in hellen Farben; manche Amerikaner staken in verblichenem Blau und Lohgelb, andere waren in abenteuerlich lumpigen Aufputz gekleidet. Dort waren die Gräber der auf den Schanzen 9 und 10 gefallenen Männer – zwei flache Hügel frischer Erde, einer für die Franzosen, einer für die Amerikaner; doch diese Grabhügel waren nicht voneinander unterscheidbar. Sie sahen gänzlich gleich aus. Und dort waren die Kanonen, die Werkzeuge der vorangegangenen Belagerung, die den Feind niedergezwungen hatte. Von der französischen Flotte stammten sie, und zum Beweis dafür, daß sie Schiffswaffen waren, bestand ihre Zier (neben dem Wappen von Bourbon) aus kleinen, wunderschönen schmiedeeisernen Delphinen an ihren Lafetten. Ja, die Kanonen. Um die halbe Welt waren sie gekommen, damit man die ganze Welt verändere. Alle die Tausende von Männern auf dem Schlachtfeld des Jahres 1781 wußten um den Sieg. Ein paar tausend Menschen mehr im näheren Umkreis wußten ebenfalls davon. Doch das waren schon alle. Das Ereignis, das in Yorktown eingetreten war, beschränkte sich noch auf Yorktown. Colonel Tench Tilghman war es, der den Auftrag hatte, die Botschaft in die ganze Welt hinauszutragen – die Nachricht, daß sie fortan anders sein müsse.
Als er vor Washingtons Zelt stand, dachte er, daß dies eine zu große Aufgabe für einen Menschen sei. Natürlich, er brauchte nur das zu tun, was Washington befohlen hatte – reiten. Schon oft, sehr oft, war er auf Washingtons Befehl geritten. Durch Sonnenglut war er gesprengt, durch Finsternis, durch Regen, durch Staub, durch Graupel, durch Kugelhagel. Er und sein Pferd hatten einer Verlängerung von George Washingtons Wille und Stimme geglichen.
Aber diesmal ging es um etwas anderes …
Eine Touristenfamilie des Jahres 1974 zog an der Stelle vorbei, wo er, der Geist, noch stand. Sie schleppte Picknickkörbe. Die Eltern schlürften im Vorübergehen Erfrischungsgetränke aus Flaschen. Ein junger Bube nagte an seiner Zuckerstange. Ein etwas kleineres Mädchen mampfte Kartoffelchips, die es mit automatenhafter Regelmäßigkeit aus einer durchsichtigen Cellophantüte schaufelte und in den rundum von Krumen verklebten Mund schob. Ein noch kleinerer Junge lutschte an einem Schnuller. »Laßt uns hier essen«, sagte die Mutter und deutete mit ihrer Flasche. »Wir können die Sachen auf diesen großen Steinen auspacken.«
Die Stelle, wohin sie wies, war der Begräbnisplatz der Gefallenen von den Schanzen 9 und 10; die Gräber waren nicht länger nur Haufen frischer Erde. Im Jahre 1974 waren sie mit flachen breiten Steinen gekennzeichnet. Die Frau, ihr Ehepartner und ihr Nachwuchs waren für den revolutionären Colonel unsichtbar …
Statt dessen ruhte sein Blick auf seinem Pferd, das einige Meter von Washingtons Zelt entfernt angekoppelt stand und nun ein erwartungsvolles Auge rollte. Das Tier wußte, es würde bald wieder gebraucht, und scharrte mit den Hufen die Erde auf, um seinem Unwillen über die zeitweilige Untätigkeit Luft zu machen. Ein halbes Dutzend Schritte, das Heben eines Fußes, ein Sprung, Knie und Zügel dahin, wo sie hingehörten – und Mann und Tier würden wieder eins sein, und diese Einheit setzte sich in Bewegung. Machte sich auf den Weg. En route. »Zum Kongreß.« Was hieß: Zu den im Kongreß vertretenen Abgeordneten der Vereinigten Staaten. Der Ort, wo die Abgeordneten der Vereinigten Staaten sich versammelten, war Philadelphia. Zweihundertundfünfzig Meilen über Land und Wasser lag Philadelphia entfernt.
Die Schritte gehen, in den Sattel springen – und los. Das sollte er nun tun. Der Colonel stand reglos. Die Größe der Stunde bannte ihn. Er, der nun in Eile und Bewegung sein sollte, fühlte sich zum ersten Schritt außerstande.
Dann vernahm er das Knarren von Erde unter Stiefeln, die rasch ausschritten, und wußte, daß jemand um das Zelt geeilt kam, zweifellos zum Zwecke, den General aufzusuchen. Er trat vom Eingang beiseite. Aber der Ankömmling war schneller. Der Ankömmling bog mit ungestümen Schritten um die Ecke des Zelts, und er und der Colonel prallten gegeneinander. Die beiden Männer sprudelten Entschuldigungen hervor, und dann standen sie Angesicht zu Angesicht und lachten.
Der stürmische Ankömmling war – seiner Kleidung zufolge – ein General der Kontinentalarmee. Er war groß, schlank, elegant und sichtlich stolz, aber hauptsächlich war er jung. Sehr jung. Tatsächlich war er der jüngste General, den die amerikanische Armee jemals haben sollte. Er war Lafayette.
Die Freude, die in seinem Gesicht glühte, entzog sich jeder Beschreibung. Sie war Ausdruck der tiefgründigen Erkenntnis des Neuen, das in die Welt getreten war – ausgedrückt mit der Glückseligkeit eines Knaben. Dies Entzücken fand er augenblicklich auch an Tilghmans Mission, von der man ihn unterrichtet hatte. »Ihr seid’s, Colonel!« rief er. »Ihr seid es, der unser Licht hinaus in die Welt trägt. Und Ihr seid schon en route. Zum Kongreß!« Er unterbrach sich und lachte. Der Colonel, ebenfalls jung, jedoch nachdenklich, der diesen Krieg kannte – ganz genau, in allen Einzelheiten –, entsann sich, daß es dieser junge Mann mit der fröhlichen Miene gewesen war, der mit nur schwachen Kräften die Truppen des Veteranen Cornwallis gebunden hatte, bis Washington, Rochambeau und die Kanonen eintrafen. Lafayette. Er und Tilghman hatten gemeinsam in vielen Begegnungen gekämpft. Nun blickten sie einander in die Augen und lachten. Dann umarmte Lafayette urplötzlich Tilghman. »Reitet, Colonel«, sagte er. »Reitet!«
Und so kam es, daß die fürchterliche Last der Pflicht, die George Washington ihm aufgetragen hatte, ins Gleichgewicht kam. Sie ruhte nicht länger allein auf seinem Willen; sie drang ihm ins Blut.
Innerhalb weniger Augenblicke saß er im Sattel und preschte zum Fluß, wo – wie er wußte – ein Boot für ihn in Bereitschaft lag, und er flog dahin wie ein Vogel – geradewegs über Zäune, Hecken, Bäche und die nun leeren Laufgräben des Schlachtfelds.
Dies, die erste Etappe seines Ritts, verging wie ein Gedanke. Nichts Materielles schien daran teilzuhaben. Da waren er selbst und das prächtige Pferd, und sie ergänzten einander. Da waren das Sausen der Luft, die Geräusche der Hufe und emporgeworfener Erdbrocken – und unaufhaltsam vorwärts, vorwärts, vorwärts. Dann war es vorbei. Er erreichte den Bootssteg. Er hatte weniger als eine Minute benötigt.
Die zweite Etappe würde vierundzwanzig Stunden beanspruchen. Sie führte den York hinab zur Chesapeake-Bucht und nach Rock Hall, wo die Straße nach Philadelphia begann. Sie maß einhundertdreißig und noch ein paar Meilen, und für diese Strecke mußten der Colonel und sein Pferd Passagiere sein, sich an Bord eines Gefährts befördern lassen, ohne auf den Transport Einfluß nehmen zu können, eine Zeit der Untätigkeit für des Colonels Körper, während ein andersartiger Antrieb das Räderwerk seines Verstands in Bewegung hielt. Ein Boot. Segel, Holz, Wind, Wasser, Kapitän und Mannschaft. Alle Vorbereitungen seien veranlaßt worden, hatte Washington ihm gesagt. Nun gut. Sollte die zweite Etappe ihren Anfang nehmen.
Er stieg ab. Nur dies eine Boot lag am einstmals geschäftigen Ufer – die Briten hatten alle Wasserfahrzeuge zerstört, deren sie habhaft zu werden vermochten. Dies eine Boot jedoch war das richtige für die Mission des Colonels. Es handelte sich um einen zweimastigen Küstenschoner, tüchtig und schnell. Offensichtlich war er bereit zum Ablegen. Die Laufplanke lag aus, und als der Colonel eintraf, kam über das Deck ein Mann, der erwartungsvoll wirkte, auf ihn zu. Er war verdreckt vom Wetter und schäbig, aber das waren damals die meisten Amerikaner. Der Colonel erkannte in ihm Autorität. Dies mußte der Kapitän sein. Er stellte sich vor. Das heißt, er nannte seinen Namen und den Bestimmungsort. »Colonel Tilghman. Nach Rock Hall.«
»Zu Diensten, Sir«, sagte der Kapitän. Colonel Tilghman wandte sich ab, um sein Pferd an Bord zu führen.
Da geschah etwas, womit er gerechnet hatte – das Tier brachte seine Eigenwilligkeit zur Geltung. Es war ein junger Hengst mit einer natürlichen charakterlichen Mischung aus vortrefflicher eleganter Feurigkeit und scharfer, grimmiger Klugheit. Auf Schiffen war er schon oft gereist; das war für ihn nichts Neues. Es widerstrebte ihm allerdings, seine natürliche Umgebung mit zuviel Plötzlichkeit zu verlassen. Er verlangte ein Zeremoniell. Deshalb leistete er jedesmal gespielten Widerstand. Der Colonel achtete diese Eigenheit. Als der Kapitän sich umsah und rief: »Hilfe vonnöten, Sir?«, lautete seine Antwort: »Nicht erforderlich.« Eigenhändig führte er Black Damn an Bord und in den Stall unter Deck.
Sein Pferd mit einem Heuvorrat im Stall; General Washingtons Depesche an den Kongreß in seiner Satteltasche; er selbst auf dem Boot; das Boot in Fahrt. Der Colonel kehrte zurück auf Deck. Sie schwammen bereits mitten im Fluß.
Überall an den Ufern sah man die Reste verbrannter Schiffe, von seetüchtigen Frachtschiffen bis zu Nachen. Die Ortschaft Yorktown ähnelte einem von Geschossen zerpflügten Wirrwarr aus Mauerwerk. Die Briten hatten gebrannt und geplündert, Brunnen vergiftet und Zivilisten mißhandelt. Sie hatten Sklaven dazu verlockt, ihre Herren zu verlassen, ihnen Freiheit versprochen, aber ihr Wort nicht gehalten, sondern die Sklaven in Pferche gesperrt, wo viele von ihnen starben. Ereignisse, Bestandteile eines Krieges, dessen Ganzheit jetzt Colonel Tilghman beherbergte, nun zusammengefaßt in einem Wort – vorüber! Cornwallis hatte kapituliert.
Der Colonel war mit dem York vertraut. Er kannte auch die Chesapeake-Bucht. Und ihm war zumute, als segele er über einen neuen Strom in eine neue Grenzenlosigkeit. Er war, so begriff er, allein mit seinem gewaltigen Wissen. Nur er wußte vom Sieg. Er brachte die Neuigkeit. En route …
Im Jahre 1974 war der Fluß in diesem Moment Schauplatz eines spontanen Motorbootrennens. Drei Enthusiasten jener Art, die die Motorbootsaison bis zum Ende des Wasserhochstands auszukosten pflegten, röhrten flußaufwärts, und noch das langsamste der Boote entwickelte eine Geschwindigkeit von fünfzig Meilen je Stunde; die Rümpfe waren nichts als Verkleidungen für die Motoren, Motoren mit der zweihundertfachen Kraft eines Black Damn. Der Kurs einer dieser brüllenden Mücken kreuzte sich mit dem des Schoners, so daß die beiden Fahrzeuge sich wechselseitig eines durch das andere passierten. Der von Gischt umschäumte Bug des Motorboots des zwanzigsten Jahrhunderts drang in den Rumpf des Schiffs im achtzehnten Jahrhundert dicht unterhalb der Füße Colonel Tilghmans ein und glitt darunter weiter durch das Geisterpferd. »Jippiii!« hatte der Mann am Steuerrad geschrien. »Jippiii …!« schrie er, als er weiterbrauste.
Colonel Tilghman kannte sich auch mit Booten aus, gewiß. Er war an Marylands Ostküste geboren, einem mit den Gezeiten vertrauten Land, dessen Bewohner seine Flüsse einhundertfünfzig Jahre lang ganz natürlich als Straßen benutzt hatten. Der Sitz seiner Familie war am Tred Avon gewesen, in der Nähe eines blühenden Welthandelshafens – Oxford. Schon als Knabe hatte er ein eigenes Boot erhalten, und man erwartete von ihm, daß er damit gut umzugehen verstand. Daher war er des Treibens auf dem Schoner sowie der Strömungen in der Luft und im Wasser, die das Tun an Bord bedingten, mit vollem Verständnis gewahr – und doch regte seine Aufmerksamkeit sich nur unterbewußt; sie verzeichnete, daß der Schoner sechs Knoten schaffte und der Kapitän anscheinend sein Handwerk beherrschte. Der gesamte Rest von des Colonels Bewußtsein richtete seine Gedanken vorwärts. Der Fluß schimmerte, denn die Sonne jenes Tages warf alle Schatten nach hinten.
Die Siegesbotschaft. Er würde die Depesche dem amerikanischen Hauptgeschäftsführer übergeben, dem Vorsitzenden im Kongreß der Vereinigten Staaten, den die Kongreßmitglieder für jeweils ein Jahr aus ihrer Mitte wählten, zur Zeit Mr. McKean aus Delaware. Ein Anwalt. Damit würde der Kongreß seine Rechtfertigung entgegennehmen. Er hatte die Armee mit der Kriegführung beauftragt, und nun schenkte die Armee ihm den Frieden. Fortan konnte er unbehelligt seinen Aufgaben nachgehen, nicht länger bloß eine Vereinigung von Rebellen, auf deren Häupter Belohnungen ausgesetzt waren, sondern die Gesetzgebung der amerikanischen Nation.
Was diese Gesetzgeber zu tun hatten – daran dachte der Colonel nicht, obwohl sie nun das Recht auf eigene Gedanken errungen hatten. Häufig war er Teilnehmer an Diskussionen über dies Thema gewesen, manchmal hitzigen Diskussionen, die in den Zelten und an den Lagerfeuern der Armee stattfanden. Aus der Ernsthaftigkeit, mit der er und seine Offizierskameraden ihre Ansichten über den Zweck des Krieges verkündeten, hätte man schließen können, sie alle seien Professoren der Staatskunst; besonders der junge Colonel Alexander Hamilton zeichnete sich durch eine klare Philosophie aus.
Sie hatten alle ihren Scharfsinn gemessen, ihre Gelehrsamkeit, manchmal auch die Lautstärke ihres Geschreis, bisweilen fehlte auch nicht viel zu einem Meinungsaustausch mit den Fäusten – Schlamm an den Stiefeln, Stoppeln im Gesicht, Hunger in den Gedärmen. Der Kampf gegen den Feind war der Grund ihres Daseins, und dafür hielten sie stets Blei, Pulver, Schießeisen, Klingen und Pferde bereit. Und dennoch hatten sie theoretisiert und diskutiert.
Was mochten seine Kameraden an diesem Morgen tun? fragte sich flüchtig der Colonel. Nicht reden. Dessen war er sich sicher. Da nun die Zukunft sich in die Gegenwart verwandelt hatte, bedurfte sie zur Nahrung nicht länger des Redens. Was mochten seine Kameraden wohl tun? Selbstverständlich die alltägliche Armeeroutine erledigen. Inspizieren, Befehle erteilen und empfangen, ein scharfes Auge offenhalten. Ausschließlich Routine – abgesehen davon, daß nichts, wo auch immer, jetzt Routine war oder jemals wieder sein würde. Die Revolution hatte gesiegt. Die Zukunft – ja, sie war angebrochen.
Colonel Tench Tilghman, Adjutant, Sekretär und Kurier General George Washingtons, verblieb den Morgen hindurch auf Deck des Schiffs, das ihn forttrug. Vom York gelangten sie hinaus in die Bucht. Am Nachmittag begab sich der Colonel auf Einladung des Kapitäns in die Kabine und nahm ein Mahl zu sich – etwas kaltes Fleisch, Zwieback und Brandy. Seit dem Nachmittag des Vortags hatte er nichts gegessen. Niemand in Washingtons Feldquartier hatte ans Essen gedacht.
Dann stieg er hinunter, um nach Black Damn zu schauen. Der Hengst war ruhig – oder so ruhig, wie zu sein er es vermochte, und das war nicht völlig ruhig. Auch wenn Black Damn keinen Huf rührte, erweckte er doch den Eindruck, er sei in schnellem Lauf. Selbst reglos glich er dem Bild eines Pfeils im Flug. Er war aus Bewegung geschaffen. Er grüßte den Colonel mit einem Augenrollen und seinem üblichen kameradschaftlichen Grimm. »Ja, ja, Sir«, sagte der Colonel und grunzte und brummte ein paar zur Bekräftigung ihrer Beziehung geeignete Laute. Black Damn verstand ihn. Wenn der Colonel ihn respektierte, dann respektierte er seinerseits den Colonel. Der Mann erneuerte das Heu, das Pferd rieb seinen Kopf an dem wohltätigen Arm, und beide waren gut gelaunt. »Ja, du, Sir«, sagte der Colonel, legte sich auf den großen Heuhaufen und schlief. In der vergangenen Nacht waren ihm nur drei Stunden Schlaf vergönnt gewesen.
Eine Bewegung weckte ihn, von der er augenblicklich wußte, daß sie eine Unregelmäßigkeit bedeutete. Es war jene Bewegung, die nicht hätte sein sollen – die Bewegung, mit der Bewegung aufhört. Binnen weniger Momente war er an Deck, doch schon vorher erriet er die eingetretene Lage.
Sie hatten die Tangier Shoal erreicht, die ausgedehnten Untiefen rings um die Insel Tangier. Jeder Schiffer der Chesapeake-Bucht wußte über sie Bescheid – wußte, daß ihr Umfang immer so gut wie gleich blieb, aber ihre Tiefen sich ständig änderten. Während der einen Jahreszeit konnte zwischen zwei Punkten eine schiffbare Fahrrinne sein, in der nächsten waren dort Sandbänke. Die Vernunft, so dachte der Colonel, sollte jedermann fernhalten, auf jeden Fall jemanden mit einem Boot von der Art des Schoners. Aber diesen Kapitän hatte die Vernunft nicht aufgehalten. Der Schoner war aufgelaufen.
Seine erste heftige Regung gab ihm ein, den Idioten zu erschießen. Der Gedanke verflüchtigte sich, ehe er sich richtig verfestigt hatte. Der Colonel widmete seinen Verstand den Verhältnissen. Sehen konnte er nichts, denn inzwischen war es dunkel, aber er vermochte sich auszumalen, was sich zugetragen hatte. Der Wind hatte umgeschlagen und wehte nun statt aus Südwesten aus dem Osten. Beim Bemühen, sich in diesen Gegenwind zu stemmen, hatte der Kapitän zu weit ostwärts gehalst und das Schiff auf eine Sandbank gesetzt. Dieses Unglück hätte ihm nicht widerfahren dürfen – und doch konnte es jedem zustoßen. Es war ein so gewöhnlicher Schiffahrtszwischenfall, daß er gleichermaßen verzeihlich war wie unverzeihlich. Aber nichts dergleichen spielte jetzt eine Rolle. Entscheidend war nun, daß die Flut zurückging. Sie konnten das Schiff nicht freimachen, die Fahrt nicht fortsetzen, bevor die Flut wiederkehrte. Acht Stunden.
Colonel Tilghman hatte während des gesamten Verlaufs der Revolution auf ihrer Seite gekämpft. Das bedeutete, er hatte zu warten gelernt; denn die wesentlichste Kunst jenes Krieges war das Warten gewesen. Nicht in dem Sinn, daß die Revolution etwas für ausschließlich geduldige Menschen gewesen wäre. Gewiß – Geduld hatte sie gelehrt. Aber Ungeduld hatte sie hervorgebracht. In ihren Kämpfern war eine besondere Art von Ausdauer entstanden. Ein Eifer, der nicht ermattete, während das Unentschieden sich hinzog. Eine Fähigkeit zu stiller, beharrlicher, zäher Achtsamkeit. Tilghman war darin ein Meister. Doch er hatte diese Meisterschaft für den Siegesritt abgestreift. Die Gewohnheiten des Krieges waren vorbei – die Notwendigkeit, sich in Verzögerungen zu schicken, bestand nicht länger! Konnte es für einen Mann, der eine solche Nachricht beförderte wie er, Verzögerungen geben? Das konnte es. Wind, Sandbänke und Gezeiten besaßen vor der Geschichte keine Verantwortung. Die Vereinigten Staaten hatten für einen begrenzten Zeitraum von acht Jahren gewartet. Nun mußten sie weitere unendlich lange acht Stunden abwarten.
Tilghman unterhielt sich mit Höflichkeit mit dem Kapitän. Der Mann hatte etwas Unverzeihliches getan, das nun verziehen werden mußte. Da er ihn nicht erschießen konnte, mochten sie genausogut die Annehmlichkeiten teilen. Schließlich gesellte der Colonel sich in der Kabine zum Kapitän und seinem Brandy.
Die Annehmlichkeiten jedoch blieben im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten. Das Wetter machte sie zu einem Nichts. Der Wind blies stärker. Er durchwehte die pechschwarze Luft mit bitterkaltem fliegenden Wasser. Auf dem Schoner war nichts warm, und nichts, das den Elementen ausgesetzt war, blieb trocken. Colonel Tilghmans Reaktion darauf stand außerhalb der Lehren einer jeden Philosophie. Sie kam einfach aus seinem Körper.
Er wußte, was das hieß, äußerste Hitze und Kälte und Nässe in nie sonderlich gut ernährtem Zustand zu ertragen. Er wußte es so gut wie jeder Mann, der die aufeinanderfolgenden Feldzüge des Krieges mitgemacht hatte. Seit Valley Forge jedoch hatte sich ein Widersacher in seinem zähen, sehnigen, außergewöhnlich leistungsfähigen Körper eingenistet. Es war etwas, das man allgemein unter der Bezeichnung ›Rückfallfieber‹ kannte. Es äußerte sich durch Frösteln und hohe Temperatur. Vor sich selbst verleugnete er es, und in Gegenwart anderer Leute spielte er den Fall als ›kurze Indisposition‹ herunter. Die Tatsache, daß irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung war, gedachte er weder sich noch anderen einzugestehen. Es zu verhehlen, war einfach. Andere Menschen erlitten ebenfalls Indispositionen – und seine traten unregelmäßig auf. Er bekam sie nur, wenn er sich Anstrengungen unterworfen hatte.
Er hegte nicht die Auffassung, das am 19. Oktober getan zu haben. Seine drei Stunden Schlaf in der vorherigen Nacht hatte er auf ziemlich trockenem Untergrund zugebracht. Während der Tage der Schlacht war er an Washingtons Seite gewesen, hatte mit Washington Schritt gehalten, und Washington hatte nichts anderes getan, als ein Kommandierender General in der Entscheidungsschlacht seines Krieges tun mußte. Für den Colonel hatte das geheißen, daß er Depeschen schreiben und überbringen, Inspektionen vornehmen und darüber berichten, seinen Vorgesetzten bei Tag und Nacht auf Erkundungen begleiten, an Konferenzen teilnehmen mußte, wo seine Französischkenntnisse zum Dolmetschen dienten, daß er in ständiger Bereitschaft zu sein hatte. Davon war gewiß nichts eine größere Anstrengung. Sieg – war das eine Strapaze? Niemals hatte einer von ihnen sich wohler gefühlt. Sie waren ungeduldige Männer, endlich von der Geduld erlöst.
Doch der Wind über der Chesapeake-Bucht scherte sich nicht um derartige Dinge. Der Widersacher im Colonel regte sich. Erfühlte seine Indisposition sich ankündigen. Unter Deck war eine Koje. Er konnte sich hinlegen. Er blieb auf Deck. Dieser elende Anfall würde vorübergehen. Er würde ihn mißachten …
Über der Bucht des Jahres 1974 herrschte ein ganz anderes Wetter. Dort wehte ein sachter Südwind mit fast sommerlicher Wärme. Der Himmel war klar und mit einem bemerkenswert schönen Mond geziert, einem so schönen Mond, daß er eine junge Frau des Jahres 1974 während der Kreuzfahrt durch die Tangier Shoal zu einer Bemerkung veranlaßte. »Irgendwie kann ich ihn mir einfach nicht als Raketenbasis vorstellen«, sagte sie zu ihrem Begleiter und seufzte.
Die beiden waren ein jungverheiratetes Paar und übten ihre gemeinsame Häuslichkeit romantischerweise zuerst auf einem Boot ein. Am Abend – verlockt vom herrlichen Wetter – waren sie hinausgefahren. Sie passierten den Schoner im Jahre 1781 in geringer Entfernung, jedoch in sicherer Wassertiefe, nicht bloß deshalb, weil die Sandbank sich 1974 an einer anderen Stelle befand, sondern auch, weil ihnen Karten und Fahrtrinnenzeichen zur Verfügung standen. Sie waren sehr glücklich. Die junge Frau entdeckte verblüfft, daß in ganz gewöhnlichen Dingen sich plötzlich Tiefen um Tiefen offenbarten. Es schien ihr, als lebte sie in einem Zustand der Erwartung einer lieblichen Erfüllung nach der anderen. Er stellte fest, daß er sich nie zuvor so behaglich gefühlt hatte, und war auf zärtliche Weise verständnisvoll zu dem lieben kleinen Geschöpf, dessen Dasein das seine so angenehm bereicherte.
Die junge Frau wandte den Blick vom Mond. Sie starrte hinaus in die Dunkelheit. Sie war eben noch humorvoll kokett gewesen. Nun war sie plötzlich angespannt, erregte den Eindruck, als versuche sie etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab. »Jack«, meinte sie, »spürst du etwas?«
»Was?« fragte er zurück.
»Als … als ob da etwas wäre«, antwortete sie. »Jemand …« Sie streckte einen schlanken Arm aus und deutete. »Dort?« Sie blickte genau dorthin, wo Tilghman stand, schaute in der Tat in seine Augen, die vom Fieber glänzten; ihre von der Liebe erweckte Sensitivität befähigte sie, wie sie es nannte, zu ›spüren‹, was außerhalb der Reichweite ihrer Sinne lag. »Etwas beinahe Geisterhaftes?« flüsterte sie fast unhörbar.
Ihr Ehemann lachte nachsichtig. Ein verrücktes kleines reizendes Ding, wie …?
Eine Stunde nach Mitternacht kam der Schoner frei. Um diese Zeit bestand weder für den Colonel noch für den Kapitän das Erfordernis, die Tatsache in Worte zu fassen, daß weder Rock Hall noch irgendein anderer ostwärtiger Punkt an der Küste sich erreichen ließ. Der Wind machte es deutlich genug. Sie mußten westwärts. Sie lagen auf Kurs nach Annapolis, und dadurch ergab sich eine zusätzliche Verzögerung, die schlichtweg unfaßbar war – mindestens zwölf Stunden.
Der Colonel mißachtete seine Indisposition auch weiterhin. Brannte sein Inneres lichterloh vom Fieber? Nun, er hatte schon auf so manchem Marsch unter glühender Sonne geschmort. Kroch das Frösteln über seine Haut? Nun gut, er hatte schon mehr als einmal auf verschneitem Boden geschlafen. Die Nachricht. Zum Kongreß.
Er wachte sorgsam über Black Damn, der ihn, sobald diese jämmerliche zweite Etappe seines Kurierauftrags durchgestanden war, verständig und tüchtig durch die dritte Etappe tragen sollte. Und schnell. Aus diesem Grund hatte er Black Damn mitgenommen. Andernfalls hätte er die längste Strecke des Weges nach Philadelphia auf Postpferden zurücklegen müssen, und Postpferde waren nicht viel wert. Die besten Postpferde waren nicht mehr als kräftig und ausdauernd. Sie flogen nicht – und Black Damn flog dahin. Sie besaßen keine leichte Gangart – Black Damns Bewegung war weich wie Samt. Colonel Tilghman wollte seine Abhängigkeit von den unterlegenen Tieren weitmöglichst verringern, indem er Black Damn bis zum Äußersten ausritt. Er besänftigte den Hengst, ließ ihm die übliche Pflege angedeihen und drückte ihm sein Verständnis aus. Gedulde dich. Ja, obwohl du aus reinem Feuer bist und deine Seele pure Ungeduld. Was bedeutet eine Wende von Wind und Wetter? Eine Wende im Verlauf der Menschheitsgeschichte war eingetreten.
Sie trafen am Abend des nächsten Tages in Annapolis ein. Der Wind hatte nicht nachgelassen. Auch nicht des Colonels Indisposition. Wenigstens ist sie langsam im Nachlassen begriffen, dachte der Colonel, als er am dunklen Ufer entlang zu einem Gasthaus strebte und plötzlich die scheußliche Heimsuchung erfuhr, sich der Gegenwart von etwas seltsam bewußt zu sein, das er nicht sehen konnte … Tatsächlich allerdings schritt er durch die Gruft unter der Kapelle der Naval Academy der Vereinigten Staaten, wo im Jahre 1974 die sterblichen Überreste seines Freundes Captain John Paul Jones in ewigen Ehren ruhten. Der Geist des Seehelden erfüllte die Ruhestätte; Colonel Tilghman, der Geist, vital in seiner Welt des Jahres 1781, ›spürte‹ ihn, wie die junge Ehefrau bei Tangier ihn selbst ›gespürt‹ hatte … Er suchte das Gasthaus auf, wo seine erste Sorge war, nachdem er sich in Wärme und Trockenheit sah, daß man zwei Stallknechte ausschickte, um Black Damn vom Schoner zu holen.
Mit diesem glücklosen Schiff hatte er nicht länger zu schaffen. Von Annapolis nach Rock Hall verkehrte ein Fährbetrieb, mit guten, schnellen Booten. Er beabsichtigte das erste Boot zu nehmen, welchem das Wetter abzulegen gestattete. Er sah den Stallknechten zu, stellte fest, daß sie ihr Handwerk verstanden, und belohnte sie großzügig. Dann bestellte er sich heißen Grog und begab sich zu Bett. Durch einen außerordentlichen Glücksfall konnte er eine eigene Kammer beziehen.
Er schlief, obwohl in fiebriger Unstetigkeit. Nach jedem Erwachen lauschte er dem Wind. Am Frühnachmittag des nächsten Tages, so vermutete er, würde der Wind sich abschwächen.
Er behielt recht. Um zwei Uhr des folgenden Tages rief man in den Schankräumen des Gasthauses aus, daß um drei Uhr eine Fähre nach Rock Hall auslaufen werde. Die Überfahrt beanspruchte ungefähr vier Stunden. Inzwischen hatte er bemerkt, daß sich Gerüchte über Geschehnisse an der Front ausbreiteten; sie waren falsch, aber man gab sie weiter. Ein Handelsmann versicherte im Saloon allen Zuhörern mit großer Ernsthaftigkeit, es habe eine gewaltige Seeschlacht stattgefunden. Und so weiter und so fort. Der Colonel, der George Washingtons Depesche in der Satteltasche trug, lauschte lediglich. Natürlich machte dies Kursieren von Kolportagen die Übermittlung der Wahrheit in Gestalt der Depesche um so dringlicher. Wohlan, er hatte nun guten Wind. Und er hatte Black Damn. Er nahm an, daß er nun endlich voranzukommen erwarten durfte.
Die Fähre lief um die genannte Stunde aus. Am Sandy Point, acht Meilen nördlich von Annapolis, unterquerte sie die Bay Bridge, eine sieben Meilen lange stählerne Straße, auf der – im Jahre 1974 – Autos mit einer Mindestgeschwindigkeit von vierzig Meilen je Stunde die Chesapeake-Bucht überquerten. Auf der Fähre des Jahres 1781 erzählte ein Passagier, daß sein Großvater sich noch erinnerte, daß die Indianer mit ihren Kanus stets von der Landzunge aus über die Bucht gerudert waren, denn dort war die schmälste Stelle. »In einem halben Tag kamen sie hinüber«, schloß der Passagier.
Die Fähre hatte fünfundzwanzig Meilen in nordöstlicher Richtung zurückzulegen. Ihre Ankunft war am Abend um sieben Uhr.
Dann war Tench Tilghman an Land. Und dann auch sein Pferd. Dann lag die Straße nach Philadelphia vor Tench Tilghman. Die letzte Etappe seines Kurierritts hatte begonnen. »Reitet, Colonel. Reitet!«
Er ritt. Es war ein Anpeilen und Vorwärtsschießen. Es war Schwärze und Feuer. Eine ausgedehnte Weite der Ruhe und eine unmittelbare Umgebung aus Geräuschen. Es war eine bewegungslose Welt, worin es nur eine Bewegung gab. Sein Pferd und er. Es war Freiheit von jedem anderen Antrieb außer dem eigenen. Keine plump zusammengenagelten Planken, die auf einen nassen Sandhügel liefen. Keine Stoffbahnen, die statt seinem Willen dem Wind gehorchten, ihn nach Westen zerrten, wogegen er gen Osten wollte. Keine der Unzulänglichkeiten des Fahrzeugverkehrs. Nur er selbst, eins mit seinem Pferd. Nur Bewegung. Reiten.
Die Straße vor ihm war ein weicher, lockerer Pfad. Sie lag verlassen – niemand reiste bei Nacht. Es war finster – die Häuser der Pflanzer waren durch Meilen Weite getrennt und standen vorwiegend nicht an der Straße, sondern an den Flüssen. Er kannte den Weg gut. Er war die Strecke schon mehrfach geritten. In der Tat handelte es sich bei diesem Pfad um einen der Hauptverkehrswege des kolonialen Amerika. Nun war er für ihn lediglich eine bestimmte Entfernung. Reite!
Einhundert Meilen. Er ritt.
Black Damn flog mit ihm durch die beiden ersten Teilstrecken des Wegs, von Rock Hall über Chestertown nach Down Crossroads. Endlich vermochte der Hengst seinem ständig schwellenden Grimm den rechten Ausdruck zu verleihen. Endlich. Er haßte die Straße. Mit seinen Hufen stampfte er die Erde auf, warf sie nach hinten. In zwei Stunden galoppierte er sechsunddreißig Meilen weit. Ein Drittel der Strecke.
Als er in den beleuchteten Hof der Station zu Downs Crossroads einbog, rief er nach einem Ersatzpferd, noch während er den Hengst zügelte, bis die Stallknechte gelaufen kamen. »Ein Pferd für den Kongreß! Für den Kongreß! Ein Pferd!« Dann stieg er ab und musterte Black Damn. Er sah, daß Black Damn müde war, erschöpft – aber noch immer zornig. Der Ritt hatte ihm nicht geschadet. Der Colonel bezahlte die doppelte Summe für die Pflege voraus und wandte sich dann seinem Ersatzpferd zu. Ein großer, vierschrötiger Brauner, der Erscheinung nach mit Sicherheit von steifer Gangart. Der Colonel saß auf und galoppierte davon.
Zehn Meilen bis Warwick. Der Braune schnaufte sie innerhalb von fünfzig Minuten hinab. In Warwick rief der Colonel erneut nach Ersatz – »Ein Pferd für den Kongreß!« Dort brachte man ihm eine Stute. Sie war sanft, aber langsam. Nach Odessa waren es zehn Meilen – und sie benötigte eine unerträgliche Stunde. Er hatte die Hälfte des Weges überwunden. Fünfzig Meilen lagen noch vor ihm.
Die weiteren Pferdewechsel bemerkte er kaum. Die Stationen glichen Kreisen lautstarken Lichts neben einem langen entrollten Strang aus stiller Dunkelheit. Reiten. Das war es – das war alles. Vorwärts, vorwärts, befahl sein Verstand, und seine Bewegungen folgten dem Befehl mit automatischer Willigkeit.
Bei einem der kurzen Aufenthalte lief ein Schankmädchen heraus auf den Hof und reichte ihm einen Krug Bier. »Mit den Grüßen meines Wirtes, Sir«, sagte es. »Wir sind Patrioten.« Dann bat es ihn, den Blick ernstlich in sein Gesicht gerichtet, zu bleiben und sich eine Rast zu gönnen, für welchen Zweckerein sauberes, frisches Bett erhalten solle. Er lächelte und gab zur Antwort, er werde nochmals vorbeikommen, stubste das Mädchen unters Kinn und schenkte ihm eine Münze. Während er all das tat, war er sich der Gegenwart des Mädchens kaum bewußt.
Ebensowenig war er sich seiner Pferde bewußt. Er holte nur das Beste aus ihnen heraus, paßte mit einer aus lebenslanger Erfahrung angeeigneten Feinfühligkeit seinen Körper an die Fähigkeiten und Launen des jeweiligen Tiers an. Noch weniger bewußt war er sich seines Fiebers. Es war nie von ihm gewichen, und nun stieg es gar. In seinem Kopf hallten andere Geräusche wider als jene, die ihn begleiteten, dem Klang der Hufe. Da waren Lichter, seitlich und ein wenig hinter ihm, als verfolgten sie ihn. Er schenkte ihnen keine Beachtung. Er wußte, daß es sie nicht gab. Er würde die Strecke schaffen. Das allein zählte. Zum Haus des Kongreßvorsitzenden.
Nördlich von Newcastle stimmte sein Weg mit dem Verlauf einer vierspurigen Schnellstraße des Jahres 1974 überein. Er galoppierte zwischen riesigen, brummenden Lastwagen und Neonscheußlichkeiten dahin, in einem Verkehr, der sich ständig verdichtete. An einer Stelle ritt er durch die Ambulanzfahrzeuge, Polizeiautos und Schaulustigen eines 1974 alltäglichen Auffahrunfalls mit fünf Toten, und seine Mission glühte in seinem Bewußtsein wie eine Kohle – »Die Revolution ist aus. Cornwallis hat kapituliert. Reitet! Reite! Reite!«
Und so gelangte er des Nachts um zwei Uhr und fünfundvierzig Minuten ans Ziel. Die Hufe klapperten über das Pflaster von Philadelphia, und er zügelte sein Pferd. An der Ecke zum Oberen Marktplatz. Vor dem Haus des Kongreßvorsitzenden der Vereinigten Staaten.
Schwungvoll stieg er ab, stieg mit der langsamen Leichtigkeit von mit Erschöpfung vermengtem Fieber ab. »Wenn im Verlauf der menschlichen Geschichte …‹ Wenn im Verlauf der menschlichen Geschichte ein Mann, ob krank oder gesund, einhundert Meilen weit geritten ist, hat er ein unveräußerliches Recht darauf, müde zu sein. Der Colonel dachte nicht daran, diese Adaption von Mr. Jeffersons Unabhängigkeitserklärung auf seine eigene Lage anzuwenden. Er dachte überhaupt nicht an seine unveräußerlichen Rechte. Mit traumhaften Bewegungen erklomm er die Stufen zur Tür des Kongreßvorsitzenden, hob den Türklopfer und klopfte einmal. Drinnen war es still. Er klopfte nochmals, und wieder blieb es ruhig. Er wiederholte das einmalige Pochen mehrfach, und schließlich klopfte er jeweils zwei- und dreimal. Nichts geschah. Er betrachtete die Tür.
Sie war mit weiß emaillierter Ziselierung verziert. Sie war teilnahmslos schön. Er sah sie nicht wirklich. Eine Tür? Eine Sandbank, eine steife Brise, langsame Postpferde, hartmäulig und steifbeinig, ein Fieber, Hindernisse. Er hob seinen Arm und schlug mit der Faust gegen die schöne Täfelung. Und während er das tat, erhob er auch seine Stimme zu einem Schrei, der durch die ganze Stadt schallte. »Eine Botschaft!« rief er. »Eine große Nachricht! Für den Kongreß!« Und dann sprach er es aus. »Cornwallis hat KAPITULIERT!«
Cornwallis hatte kapituliert? O nein. Nicht Cornwallis. Wer war er schon? Ein Mann, ein Offizier, ein General mit einer Armee unter seinem Befehl. Er kapituliert? Nicht er, nicht irgendein Mann, nicht irgendeine Armee – sondern die Tyrannei selbst. Die Tyrannei hatte kapituliert. Die Freiheit war befreit. In diesem Sinne sprach Colonel Tilghman. Und eine feste Hand legte sich auf seine Schulter, und als er sich umdrehte, stand er vor zwei Männern. Einer trug eine Laterne mit runden Scheiben, der andere hielt eine Pike gesenkt. Die beiden waren Angehörige der Wache und erklärten Colonel Tilghman, er stehe wegen Störung des Stadtfriedens unter Arrest.
In diesem Moment hätte er alles tun können. Er hätte die beiden erschießen können. Er hätte lachen können. Er hätte sich erniedrigen lassen und zum Schlaf hinlegen können. Wie es sich ergab, brauchte er gar nichts zu tun. Im zweiten Stockwerk des Hauses öffnete sich ein Fenster, und heraus schaute der mit einer Nachtmütze bedeckte Kopf des Kongreßvorsitzenden der Vereinigten Staaten. Er erkannte General Washingtons Kurier und ließ ihn ein. Die Depesche gelangte zum Empfänger.
Und die Wache rief vor den dunklen Häuserfronten, während sie ihre Runde machte, nicht aus, daß es drei Uhr und alles friedlich sei, sondern daß um drei Uhr jenes außergewöhnlichen Morgens Cornwallis kapituliert habe. Und einige Menschen waren wach und hörten es und kamen aus ihren Türen, und andere erwachten und hörten es und kamen aus ihren Türen, und alsbald waren die Straßen voller freudig gestimmter Amerikaner. Und man läutete die Freiheitsglocke.