Rei­tet, Co­lo­nel!
von
Mary-Carter Roberts

 

 

Ei­ne Geis­ter­ge­schich­te von ge­ra­de­zu wel­this­to­ri­schen Di­men­sio­nen ist Ma­ry-Car­ter Ro­berts ›Rei­tet, Co­lo­nel!‹ ei­ne fan­ta­sie­vol­le, ori­gi­nel­le Er­zäh­lung, die im ame­ri­ka­ni­schen ›Ma­ga­zi­ne of Fan­ta­sy and Science Fic­ti­on‹ er­schie­nen ist – ei­ne Geis­ter­ge­schich­te par ex­cel­lence, die oben­drein den An­spruch er­he­ben darf, ein großes his­to­ri­sches Er­eig­nis kor­rekt zu re­ka­pi­tu­lie­ren … nur eben ein we­nig an­ders, als man es aus den Ge­schichts­bü­chern kennt, ein we­nig geis­ter­haf­ter, atem­lo­ser, aber der Grö­ße die­ses wahr­haft um­wäl­zen­den his­to­ri­schen Au­gen­blicks durch­aus an­ge­mes­sen.

 

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Der Geist des Ge­ne­rals saß am Tisch im Kom­man­deur­zelt und un­ter­zeich­ne­te die De­pe­sche mit dem Krat­zen ei­nes Fe­der­kiels. Der Geist des Co­lo­nels stand ihm ge­gen­über und sah zu. Über­all in Ame­ri­ka, aus­ge­nom­men in den See­len ge­wis­ser in­brüns­ti­ger We­sen, war es der 19. Ok­to­ber 1974. Für je­ne Au­ßer­or­dent­li­chen je­doch war es der 19. Ok­to­ber 1781. Sie be­fan­den sich auf dem Schlacht­feld bei Yorktown. So­eben hat­ten die Bri­ten vor ih­nen ka­pi­tu­liert. In je­dem Jahr brach­ten ih­re un­s­terb­li­chen Er­in­ne­run­gen ih­nen die­sen Tag in der Ge­schich­te zu­rück, und ih­re Geis­ter such­ten er­neut den Ort des Ge­sche­hens auf, um es noch ein­mal zu er­le­ben.

Wa­shing­ton roll­te das Per­ga­ment; sei­ne mäch­ti­ge Faust wirk­te un­ge­eig­net für ei­ne sol­che Auf­ga­be, die ei­nem Se­kre­tär ge­bühr­te, aber vollen­de­te sie rasch. Er blick­te auf zu Tilgh­man. Der Co­lo­nel war kein Mann, den ir­gend je­mand auf den ers­ten Blick als klein be­zeich­net hät­te; er war mit­tel­groß und be­saß brei­te Schul­tern, wuch­tig und fest. Doch ne­ben Ge­or­ge Wa­shing­ton schi­en er klein zu sein. Wie die meis­ten Men­schen. Denn Wa­shing­tons Grö­ße kam aus sei­nem In­nern und fand in sei­nem Rie­sen­wuchs eher zu­fäl­lig einen an­ge­mes­se­nen Aus­druck. Die­se Grö­ße, nicht sei­ne kör­per­li­che Ge­stalt, ließ an­de­re Men­schen ver­gleichs­wei­se ge­rin­ger wir­ken, wie im­mer auch ih­re Kör­per­ma­ße sein moch­ten.

Tilgh­man war mit die­ser Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ver­traut. Jah­re­lang war er Wa­shing­tons Ad­ju­tant und Se­kre­tär ge­we­sen. Doch die Kennt­nis um sei­nes Vor­ge­setz­ten Über­le­gen­heit hat­te sei­ner ei­ge­nen In­te­gri­tät nie­mals ge­scha­det oder auch nur an sie rüh­ren kön­nen. Viel­mehr hat­te er die Re­vo­lu­ti­on mit kla­rem Ver­stand eben um Wa­shing­tons Grö­ße wil­len durch­ge­foch­ten, die er als der re­vo­lu­tio­nären Sa­che wür­dig emp­fand. Um die­se Sa­che, was ih­re mi­li­tä­ri­sche und po­li­ti­sche Kraft be­traf, stand es schlecht. Ih­re ein­zi­ge Stär­ke war ih­re furchter­re­gen­de Ge­rech­tig­keit. Wa­shing­ton war de­ren Ver­kör­pe­rung. Er ver­kör­per­te sie und wür­de sie im­mer ver­kör­pern, gleich­gül­tig, so war der Co­lo­nel über­zeugt, un­ter wel­chen Um­stän­den. Ge­ne­ral Wa­shing­ton war zu­ver­läs­sig. Voll und ganz.

Zu al­len an­de­ren Er­schei­nun­gen der Re­vo­lu­ti­on hat­te Co­lo­nel Tilgh­man stets ei­ne nüch­ter­ne Hal­tung be­zo­gen. Er hat­te je­der­zeit ge­wußt, daß die Ame­ri­ka­ner ver­lie­ren konn­ten, aber die­se Mög­lich­keit als das ein­zi­ge vor­aus­seh­ba­re Übel be­trach­tet und als Ge­fahr, die sie auf sich ge­nom­men hat­ten. Krieg war Krieg. Und nun hat­ten sie ge­siegt.

Er stand und sah zu, das Kinn auf die Brust ge­neigt. Und da er jung war und im Be­sitz ei­nes leb­haf­ten und ge­nau­en Er­in­ne­rungs­ver­mö­gens, er­leb­te er in die­sen weni­gen Au­gen­bli­cken ei­ne Rei­he an­de­rer Mo­men­te wieder, wäh­rend der er sei­nen Vor­ge­setz­ten be­ob­ach­tet hat­te. In West Point, am Mor­gen, als Wa­shing­ton kam, um mit Ar­nold zu früh­stücken – und Ar­nold war fort, hat­te hin­ter sich in der Luft den Ge­stank von Ver­rat zu­rück­ge­las­sen. In Ne­w­bur­gh, als Wa­shing­ton ge­dul­dig mit ge­mei­nen, aber bit­ter not­wen­di­gen Män­nern sprach, die zu­gleich hoff­ten und fürch­te­ten, daß ihr ge­mein­sa­mes Ge­wicht ihn ver­der­be. In Tren­ton im Sturm aus Schnee und Ha­gel aus Blei. Bei Val­ley For­ge in ei­ner Stil­le aus Schnee und Hun­ger. Es han­del­te sich in der Tat um ein gan­zes künf­ti­ges Buch der ame­ri­ka­ni­schen Ge­schichts­schrei­bung, das dem Co­lo­nel durch den Kopf ging, aber für ihn war das al­les die Ge­gen­wart – in sol­chem Ma­ße hat­te er die­sen Krieg als ein zu­sam­men­hän­gen­des Er­eig­nis er­fah­ren. An die­sem Tag des Sie­ges gab es kei­ne Ver­gan­gen­heit. Hier war die ge­sam­te Re­vo­lu­ti­on. Sie war die Luft – frisch, re­ge, ver­hei­ßungs­voll –, die Wa­shing­ton und er at­me­ten.

Wa­shing­ton streck­te die De­pe­sche über den Tisch hin. Tilgh­man trat vor, um sie ent­ge­gen­zu­neh­men. Da än­der­te Wa­shing­ton sei­ne Ab­sicht und er­hob sich, rag­te ge­wich­tig em­por, als er stand, so daß sein an­ge­grau­tes ro­tes Haar, das wo­chen­lang des Pu­ders ent­beh­ren muß­te, fast ans Zelt­dach rühr­te. Sei­ne Feld­klei­dung war zer­knit­tert und be­schmutzt, und an sei­nem Kinn sah man hel­le Bart­stop­peln. Hoch­ge­wach­sen und schmut­zig war er, und nun muß­te er et­was tun und sa­gen, das den wei­te­ren Ver­lauf der Ge­schich­te­be­stimm­te. Er tat es und sag­te es – er übergab die De­pe­sche sei­nem Ad­ju­tan­ten, wel­cher der Bo­te der Ge­schich­te war, und sprach sein Wort in kla­rem förm­li­chen Ton­fall aus. »Zum Kon­greß, Co­lo­nel.« Co­lo­nel Tilgh­man nahm die Rol­le ent­ge­gen. Die Bot­schaft von ei­ner großen Wen­de ›im Lauf der Welt­ge­schich­te‹ war in sei­nen Hän­den.

»Ja­wohl, Sir«, sag­te er. »Zum Kon­greß.«

Und die Kür­ze der Äu­ße­rung, die ei­ne so ge­wal­ti­ge Be­deu­tung be­saß, er­hei­ter­te sie bei­de. Sie lä­chel­ten. Ih­re vom Wet­ter ge­zeich­ne­ten Ge­sich­ter zeig­ten wie für einen kur­z­en Mo­ment ge­öff­ne­te Fens­ter et­was von der Er­leich­te­rung, die an je­nem Mor­gen auf dem Schlacht­feld die Her­zen al­ler Sol­da­ten der Kon­ti­nen­t­alar­mee er­füll­te. »Rei­tet, Co­lo­nel«, sag­te Ge­or­ge Wa­shing­ton un­ver­än­dert klar und ru­hig, doch nicht län­ger ganz so förm­lich.

»Ja­wohl, Sir«, er­wi­der­te der Co­lo­nel noch­mals. Er dreh­te sich um und schritt hin­aus.

Das Schlacht­feld von Yorktown im Jah­re 1974, ei­ne Na­tio­na­le Ge­denk­stät­te, lag von Men­schen des Jah­res 1974 na­he­zu ver­las­sen, aber lieb­lich und duf­tig in der herbst­li­chen Son­ne. Ein paar Au­tos be­fuh­ren die Stra­ße, ei­ni­ge klei­ne Grup­pen von Be­su­chern schlen­der­ten durchs Gras. Hier wa­ren der lan­ge Frie­de, die fest­ge­hal­te­ne Eh­re. Nichts da­von war sicht­bar für den Geist von Co­lo­nel Tench Tilgh­man, den Ad­ju­tan­ten und Se­kre­tär Ge­or­ge Wa­shing­tons. In ihm stak das Le­ben des Jah­res 1781 und schuf die Welt rings um ihn. Er sah das Feld der Ent­schei­dungs­schlacht. Die Son­ne von 1781 schi­en auf sein Haupt, und das Erd­reich von 1781 knirsch­te un­ter sei­nen Stie­feln.

Über­all in sei­ner Sicht­wei­te wa­ren Zel­te und La­ger­plät­ze. Sol­da­ten in vie­ler­lei Rö­cken ström­ten um­her. Die Fran­zo­sen tru­gen ih­re hei­mat­li­chen tra­di­tio­nel­len Uni­for­men in hel­len Far­ben; man­che Ame­ri­ka­ner sta­ken in ver­bli­che­nem Blau und Loh­gelb, an­de­re wa­ren in aben­teu­er­lich lum­pi­gen Auf­putz ge­klei­det. Dort wa­ren die Grä­ber der auf den Schan­zen 9 und 10 ge­fal­le­nen Män­ner – zwei fla­che Hü­gel fri­scher Er­de, ei­ner für die Fran­zo­sen, ei­ner für die Ame­ri­ka­ner; doch die­se Grab­hü­gel wa­ren nicht von­ein­an­der un­ter­scheid­bar. Sie sa­hen gänz­lich gleich aus. Und dort wa­ren die Ka­no­nen, die Werk­zeu­ge der vor­an­ge­gan­ge­nen Be­la­ge­rung, die den Feind nie­der­ge­zwun­gen hat­te. Von der fran­zö­si­schen Flot­te stamm­ten sie, und zum Be­weis da­für, daß sie Schiffs­waf­fen wa­ren, be­stand ih­re Zier (ne­ben dem Wap­pen von Bour­bon) aus klei­nen, wun­der­schö­nen schmie­de­ei­ser­nen Del­phi­nen an ih­ren La­fet­ten. Ja, die Ka­no­nen. Um die hal­be Welt wa­ren sie ge­kom­men, da­mit man die gan­ze Welt ver­än­de­re. Al­le die Tau­sen­de von Män­nern auf dem Schlacht­feld des Jah­res 1781 wuß­ten um den Sieg. Ein paar tau­send Men­schen mehr im nä­he­ren Um­kreis wuß­ten eben­falls da­von. Doch das wa­ren schon al­le. Das Er­eig­nis, das in Yorktown ein­ge­tre­ten war, be­schränk­te sich noch auf Yorktown. Co­lo­nel Tench Tilgh­man war es, der den Auf­trag hat­te, die Bot­schaft in die gan­ze Welt hin­aus­zu­tra­gen – die Nach­richt, daß sie fort­an an­ders sein müs­se.

Als er vor Wa­shing­tons Zelt stand, dach­te er, daß dies ei­ne zu große Auf­ga­be für einen Men­schen sei. Na­tür­lich, er brauch­te nur das zu tun, was Wa­shing­ton be­foh­len hat­te – rei­ten. Schon oft, sehr oft, war er auf Wa­shing­tons Be­fehl ge­rit­ten. Durch Son­nenglut war er ge­sprengt, durch Fins­ter­nis, durch Re­gen, durch Staub, durch Grau­pel, durch Ku­gel­ha­gel. Er und sein Pferd hat­ten ei­ner Ver­län­ge­rung von Ge­or­ge Wa­shing­tons Wil­le und Stim­me ge­gli­chen.

Aber dies­mal ging es um et­was an­de­res …

Ei­ne Tou­ris­ten­fa­mi­lie des Jah­res 1974 zog an der Stelle vor­bei, wo er, der Geist, noch stand. Sie schlepp­te Pick­nick­kör­be. Die El­tern schlürf­ten im Vor­über­ge­hen Er­fri­schungs­ge­trän­ke aus Fla­schen. Ein jun­ger Bu­be nag­te an sei­ner Zucker­stan­ge. Ein et­was klei­ne­res Mäd­chen mampf­te Kar­tof­fel­chips, die es mit au­to­ma­ten­haf­ter Re­gel­mä­ßig­keit aus ei­ner durch­sich­ti­gen Cel­lo­phan­tü­te schau­fel­te und in den rund­um von Kru­men ver­kleb­ten Mund schob. Ein noch klei­ne­rer Jun­ge lutsch­te an ei­nem Schnul­ler. »Laßt uns hier es­sen«, sag­te die Mut­ter und deu­te­te mit ih­rer Fla­sche. »Wir kön­nen die Sa­chen auf die­sen großen Stei­nen aus­pa­cken.«

Die Stel­le, wo­hin sie wies, war der Be­gräb­nis­platz der Ge­fal­le­nen von den Schan­zen 9 und 10; die Grä­ber wa­ren nicht län­ger nur Hau­fen fri­scher Er­de. Im Jah­re 1974 wa­ren sie mit fla­chen brei­ten Stei­nen ge­kenn­zeich­net. Die Frau, ihr Ehe­part­ner und ihr Nach­wuchs wa­ren für den re­vo­lu­tio­nären Co­lo­nel un­sicht­bar …

Statt des­sen ruh­te sein Blick auf sei­nem Pferd, das ei­ni­ge Me­ter von Wa­shing­tons Zelt ent­fernt an­ge­kop­pelt stand und nun ein er­war­tungs­vol­les Au­ge roll­te. Das Tier wuß­te, es wür­de bald wie­der ge­braucht, und scharr­te mit den Hu­fen die Er­de auf, um sei­nem Un­wil­len über die zeit­wei­li­ge Un­tä­tig­keit Luft zu ma­chen. Ein hal­b­es Dut­zend Schrit­te, das He­ben ei­nes Fu­ßes, ein Sprung, Knie und Zü­gel da­hin, wo sie hin­ge­hör­ten – und Mann und Tier wür­den wie­der eins sein, und die­se Ein­heit setz­te sich in Be­we­gung. Mach­te sich auf den Weg. En rou­te. »Zum Kon­greß.« Was hieß: Zu den im Kon­greß ver­tre­te­nen Ab­ge­ord­ne­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Der Ort, wo die Ab­ge­ord­ne­ten der Ver­ei­nig­ten Staa­ten sich ver­sam­mel­ten, war Phil­adel­phia. Zwei­hun­dert­und­fünf­zig Mei­len über Land und Was­ser lag Phil­adel­phia ent­fernt.

Die Schrit­te ge­hen, in den Sat­tel sprin­gen – und los. Das soll­te er nun tun. Der Co­lo­nel stand reg­los. Die Größe der Stun­de bann­te ihn. Er, der nun in Ei­le und Be­we­gung sein soll­te, fühl­te sich zum ers­ten Schritt au­ßer­stan­de.

Dann ver­nahm er das Knar­ren von Er­de un­ter Stie­feln, die rasch aus­schrit­ten, und wuß­te, daß je­mand um das Zelt ge­eilt kam, zwei­fel­los zum Zwe­cke, den Ge­ne­ral auf­zu­su­chen. Er trat vom Ein­gang bei­sei­te. Aber der An­kömm­ling war schnel­ler. Der An­kömm­ling bog mit un­ge­stü­men Schrit­ten um die Ecke des Zelts, und er und der Co­lo­nel prall­ten ge­gen­ein­an­der. Die bei­den Män­ner spru­del­ten Ent­schul­di­gun­gen her­vor, und dann stan­den sie An­ge­sicht zu An­ge­sicht und lach­ten.

Der stür­mi­sche An­kömm­ling war – sei­ner Klei­dung zu­fol­ge – ein Ge­ne­ral der Kon­ti­nen­t­alar­mee. Er war groß, schlank, ele­gant und sicht­lich stolz, aber haupt­säch­lich war er jung. Sehr jung. Tat­säch­lich war er der jüngs­te Ge­ne­ral, den die ame­ri­ka­ni­sche Ar­mee je­mals ha­ben sollte. Er war Lafa­yet­te.

Die Freu­de, die in sei­nem Ge­sicht glüh­te, ent­zog sich je­der Be­schrei­bung. Sie war Aus­druck der tief­grün­di­gen Er­kennt­nis des Neu­en, das in die Welt ge­tre­ten war – aus­ge­drückt mit der Glück­se­lig­keit ei­nes Kna­ben. Dies Ent­zücken fand er au­gen­blick­lich auch an Tilgh­mans Missi­on, von der man ihn un­ter­rich­tet hat­te. »Ihr seid’s, Co­lo­nel!« rief er. »Ihr seid es, der un­ser Licht hin­aus in die Welt trägt. Und Ihr seid schon en rou­te. Zum Kon­greß!« Er un­ter­brach sich und lach­te. Der Co­lo­nel, eben­falls jung, je­doch nach­denk­lich, der die­sen Krieg kann­te – ganz ge­nau, in al­len Ein­zel­hei­ten –, ent­sann sich, daß es die­ser jun­ge Mann mit der fröh­li­chen Mie­ne ge­we­sen war, der mit nur schwa­chen Kräf­ten die Trup­pen des Ve­te­ra­nen Corn­wal­lis ge­bun­den hat­te, bis Wa­shing­ton, Ro­cham­beau und die Ka­no­nen ein­tra­fen. Lafa­yet­te. Er und Tilgh­man hat­ten ge­mein­sam in vie­len Be­geg­nun­gen ge­kämpft. Nun blick­ten sie ein­an­der in die Au­gen und lach­ten. Dann um­arm­te Lafa­yet­te ur­plötz­lich Tilgh­man. »Rei­tet, Co­lo­nel«, sag­te er. »Rei­tet!«

Und so kam es, daß die fürch­ter­li­che Last der Pflicht, die Ge­or­ge Wa­shing­ton ihm auf­ge­tra­gen hat­te, ins Gleich­ge­wicht kam. Sie ruh­te nicht län­ger al­lein auf sei­nem Wil­len; sie drang ihm ins Blut.

In­ner­halb we­ni­ger Au­gen­bli­cke saß er im Sat­tel und presch­te zum Fluß, wo – wie er wuß­te – ein Boot für ihn in Be­reit­schaft lag, und er flog da­hin wie ein Vo­gel – ge­ra­de­wegs über Zäu­ne, He­cken, Bä­che und die nun lee­ren Lauf­grä­ben des Schlacht­felds.

Dies, die ers­te Etap­pe sei­nes Ritts, ver­ging wie ein Ge­dan­ke. Nichts Ma­te­ri­el­les schi­en dar­an teil­zu­ha­ben. Da wa­ren er selbst und das präch­ti­ge Pferd, und sie er­gänz­ten ein­an­der. Da wa­ren das Sau­sen der Luft, die Ge­räusche der Hu­fe und em­por­ge­wor­fe­ner Erd­bro­cken – und un­auf­halt­sam vor­wärts, vor­wärts, vor­wärts. Dann war es vor­bei. Er er­reich­te den Boots­steg. Er hat­te we­ni­ger als ei­ne Mi­nu­te be­nö­tigt.

Die zwei­te Etap­pe wür­de vier­und­zwan­zig Stun­den be­an­spru­chen. Sie führ­te den York hin­ab zur Ches­a­pea­ke-Bucht und nach Rock Hall, wo die Stra­ße nach Phil­adel­phia be­gann. Sie maß ein­hun­dert­drei­ßig und noch ein paar Mei­len, und für die­se Stre­cke muß­ten der Co­lo­nel und sein Pferd Pas­sa­gie­re sein, sich an Bord ei­nes Ge­fährts be­för­dern las­sen, oh­ne auf den Trans­port Ein­fluß neh­men zu kön­nen, ei­ne Zeit der Un­tä­tig­keit für des Co­lo­nels Kör­per, wäh­rend ein an­ders­ar­ti­ger An­trieb das Rä­der­werk sei­nes Ver­stands in Be­we­gung hielt. Ein Boot. Se­gel, Holz, Wind, Was­ser, Ka­pi­tän und Mann­schaft. Al­le Vor­be­rei­tun­gen sei­en ver­an­laßt wor­den, hat­te Wa­shing­ton ihm ge­sagt. Nun gut. Soll­te die zwei­te Etap­pe ih­ren An­fang neh­men.

Er stieg ab. Nur dies ei­ne Boot lag am einst­mals ge­schäf­ti­gen Ufer – die Bri­ten hat­ten al­le Was­ser­fahr­zeu­ge zer­stört, de­ren sie hab­haft zu wer­den ver­moch­ten. Dies ei­ne Boot je­doch war das rich­ti­ge für die Missi­on des Co­lo­nels. Es han­del­te sich um einen zwei­mas­ti­gen Küs­ten­scho­ner, tüch­tig und schnell. Of­fen­sicht­lich war er be­reit zum Ab­le­gen. Die Lauf­plan­ke lag aus, und als der Co­lo­nel ein­traf, kam über das Deck ein Mann, der er­war­tungs­voll wirk­te, auf ihn zu. Er war ver­dreckt vom Wet­ter und schä­big, aber das wa­ren da­mals die meis­ten Ame­ri­ka­ner. Der Co­lo­nel er­kann­te in ihm Au­to­ri­tät. Dies muß­te der Ka­pi­tän sein. Er stell­te sich vor. Das heißt, er nann­te sei­nen Na­men und den Be­stim­mungs­ort. »Co­lo­nel Tilgh­man. Nach Rock Hall.«

»Zu Diens­ten, Sir«, sag­te der Ka­pi­tän. Co­lo­nel Tilgh­man wand­te sich ab, um sein Pferd an Bord zu füh­ren.

Da ge­sch­ah et­was, wo­mit er ge­rech­net hat­te – das Tier brach­te sei­ne Ei­gen­wil­lig­keit zur Gel­tung. Es war ein jun­ger Hengst mit ei­ner na­tür­li­chen cha­rak­ter­li­chen Mi­schung aus vor­treff­li­cher ele­gan­ter Feu­rig­keit und schar­fer, grim­mi­ger Klug­heit. Auf Schif­fen war er schon oft ge­reist; das war für ihn nichts Neu­es. Es wi­der­streb­te ihm al­ler­dings, sei­ne na­tür­li­che Um­ge­bung mit zu­viel Plötz­lich­keit zu ver­las­sen. Er ver­lang­te ein Ze­re­mo­ni­ell. Des­halb leis­te­te er je­des­mal ge­spiel­ten Wi­der­stand. Der Co­lo­nel ach­te­te die­se Ei­gen­heit. Als der Ka­pi­tän sich um­sah und rief: »Hil­fe von­nö­ten, Sir?«, lau­te­te sei­ne Ant­wort: »Nicht er­for­der­lich.« Ei­gen­hän­dig führ­te er Black Damn an Bord und in den Stall un­ter Deck.

Sein Pferd mit ei­nem Heu­vor­rat im Stall; Ge­ne­ral Wa­shing­tons De­pe­sche an den Kon­greß in sei­ner Sat­tel­ta­sche; er selbst auf dem Boot; das Boot in Fahrt. Der Co­lo­nel kehr­te zu­rück auf Deck. Sie schwam­men be­reits mit­ten im Fluß.

Über­all an den Ufern sah man die Res­te ver­brann­ter Schif­fe, von see­tüch­ti­gen Fracht­schif­fen bis zu Nach­en. Die Ort­schaft Yorktown äh­nel­te ei­nem von Ge­schos­sen zer­pflüg­ten Wirr­warr aus Mau­er­werk. Die Bri­ten hat­ten ge­brannt und ge­plün­dert, Brun­nen ver­gif­tet und Zi­vi­lis­ten miß­han­delt. Sie hat­ten Skla­ven da­zu ver­lockt, ih­re Her­ren zu ver­las­sen, ih­nen Frei­heit ver­spro­chen, aber ihr Wort nicht ge­hal­ten, son­dern die Skla­ven in Pfer­che ge­sperrt, wo vie­le von ih­nen star­ben. Er­eig­nis­se, Be­stand­tei­le ei­nes Krie­ges, des­sen Ganz­heit jetzt Co­lo­nel Tilgh­man be­her­berg­te, nun zu­sam­men­ge­faßt in ei­nem Wort – vor­über! Corn­wal­lis hat­te ka­pi­tu­liert.

Der Co­lo­nel war mit dem York ver­traut. Er kann­te auch die Ches­a­pea­ke-Bucht. Und ihm war zu­mu­te, als se­ge­le er über einen neu­en Strom in ei­ne neue Gren­zen­lo­sig­keit. Er war, so be­griff er, al­lein mit sei­nem ge­wal­ti­gen Wis­sen. Nur er wuß­te vom Sieg. Er brach­te die Neu­ig­keit. En rou­te …

Im Jah­re 1974 war der Fluß in die­sem Mo­ment Schau­platz ei­nes spon­ta­nen Mo­tor­boot­ren­nens. Drei En­thu­sias­ten je­ner Art, die die Mo­tor­boot­sai­son bis zum En­de des Was­ser­hoch­stands aus­zu­kos­ten pfleg­ten, röhr­ten fluß­auf­wärts, und noch das lang­sams­te der Boo­te ent­wi­ckel­te ei­ne Ge­schwin­dig­keit von fünf­zig Mei­len je Stun­de; die Rümp­fe wa­ren nichts als Ver­klei­dun­gen für die Mo­to­ren, Mo­to­ren mit der zwei­hun­dert­fa­chen Kraft ei­nes Black Damn. Der Kurs ei­ner die­ser brül­len­den Mücken kreuz­te sich mit dem des Scho­ners, so daß die bei­den Fahr­zeu­ge sich wech­sel­sei­tig ei­nes durch das an­de­re pas­sier­ten. Der von Gischt um­schäum­te Bug des Mo­tor­boots des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts drang in den Rumpf des Schiffs im acht­zehn­ten Jahr­hun­dert dicht un­ter­halb der Fü­ße Co­lo­nel Tilgh­mans ein und glitt dar­un­ter wei­ter durch das Geis­ter­pferd. »Jip­piii!« hat­te der Mann am Steu­er­rad ge­schri­en. »Jip­piii …!« schrie er, als er wei­ter­braus­te.

Co­lo­nel Tilgh­man kann­te sich auch mit Boo­ten aus, ge­wiß. Er war an Ma­ry­lands Ost­küs­te ge­bo­ren, ei­nem mit den Ge­zei­ten ver­trau­ten Land, des­sen Be­woh­ner sei­ne Flüs­se ein­hun­dert­fünf­zig Jah­re lang ganz na­tür­lich als Stra­ßen be­nutzt hat­ten. Der Sitz sei­ner Fa­mi­lie war am Tred Avon ge­we­sen, in der Nä­he ei­nes blü­hen­den Welt­han­dels­ha­fens – Ox­ford. Schon als Kna­be hat­te er ein ei­ge­nes Boot er­hal­ten, und man er­war­te­te von ihm, daß er da­mit gut um­zu­ge­hen ver­stand. Da­her war er des Trei­bens auf dem Scho­ner so­wie der Strö­mun­gen in der Luft und im Was­ser, die das Tun an Bord be­ding­ten, mit vol­lem Ver­ständ­nis ge­wahr – und doch reg­te sei­ne Auf­merk­sam­keit sich nur un­ter­be­wußt; sie ver­zeich­ne­te, daß der Scho­ner sechs Kno­ten schaff­te und der Ka­pi­tän an­schei­nend sein Hand­werk be­herrsch­te. Der ge­sam­te Rest von des Co­lo­nels Be­wußt­sein rich­te­te sei­ne Ge­dan­ken vor­wärts. Der Fluß schim­mer­te, denn die Son­ne je­nes Ta­ges warf al­le Schat­ten nach hin­ten.

Die Sie­ges­bot­schaft. Er wür­de die De­pe­sche dem ame­ri­ka­ni­schen Haupt­ge­schäfts­füh­rer über­ge­ben, dem Vor­sit­zen­den im Kon­greß der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, den die Kon­greß­mit­glie­der für je­weils ein Jahr aus ih­rer Mit­te wähl­ten, zur Zeit Mr. McKean aus De­la­wa­re. Ein An­walt. Da­mit wür­de der Kon­greß sei­ne Recht­fer­ti­gung ent­ge­gen­neh­men. Er hat­te die Ar­mee mit der Krieg­füh­rung be­auf­tragt, und nun schenk­te die Ar­mee ihm den Frie­den. Fort­an konn­te er un­be­hel­ligt sei­nen Auf­ga­ben nach­ge­hen, nicht län­ger bloß ei­ne Ver­ei­ni­gung von Re­bel­len, auf de­ren Häup­ter Be­loh­nun­gen aus­ge­setzt wa­ren, son­dern die Ge­setz­ge­bung der ame­ri­ka­ni­schen Na­ti­on.

Was die­se Ge­setz­ge­ber zu tun hat­ten – dar­an dach­te der Co­lo­nel nicht, ob­wohl sie nun das Recht auf ei­ge­ne Ge­dan­ken er­run­gen hat­ten. Häu­fig war er Teil­neh­mer an Dis­kus­sio­nen über dies The­ma ge­we­sen, manch­mal hit­zi­gen Dis­kus­sio­nen, die in den Zel­ten und an den La­ger­feu­ern der Ar­mee statt­fan­den. Aus der Ernst­haf­tig­keit, mit der er und sei­ne Of­fi­ziers­ka­me­ra­den ih­re An­sich­ten über den Zweck des Krie­ges ver­kün­de­ten, hät­te man schlie­ßen kön­nen, sie al­le sei­en Pro­fes­so­ren der Staats­kunst; be­son­ders der jun­ge Co­lo­nel Alex­an­der Ha­mil­ton zeich­ne­te sich durch ei­ne kla­re Phi­lo­so­phie aus.

Sie hat­ten al­le ih­ren Scharf­sinn ge­mes­sen, ih­re Ge­lehr­sam­keit, manch­mal auch die Laut­stär­ke ih­res Ge­schreis, bis­wei­len fehl­te auch nicht viel zu ei­nem Mei­nungs­aus­tausch mit den Fäus­ten – Schlamm an den Stie­feln, Stop­peln im Ge­sicht, Hun­ger in den Ge­där­men. Der Kampf ge­gen den Feind war der Grund ih­res Da­seins, und da­für hiel­ten sie stets Blei, Pul­ver, Schieß­ei­sen, Klin­gen und Pfer­de be­reit. Und den­noch hat­ten sie theo­re­ti­siert und dis­ku­tiert.

Was moch­ten sei­ne Ka­me­ra­den an die­sem Mor­gen tun? frag­te sich flüch­tig der Co­lo­nel. Nicht re­den. Des­sen war er sich si­cher. Da nun die Zu­kunft sich in die Ge­gen­wart ver­wan­delt hat­te, be­durf­te sie zur Nah­rung nicht län­ger des Re­dens. Was moch­ten sei­ne Ka­me­ra­den wohl tun? Selbst­ver­ständ­lich die all­täg­li­che Ar­mee­rou­ti­ne er­le­di­gen. In­spi­zie­ren, Be­feh­le er­tei­len und emp­fan­gen, ein schar­fes Au­ge of­fen­hal­ten. Aus­schließ­lich Rou­ti­ne – ab­ge­se­hen da­von, daß nichts, wo auch im­mer, jetzt Rou­ti­ne war oder je­mals wie­der sein wür­de. Die Re­vo­lu­ti­on hat­te ge­siegt. Die Zu­kunft – ja, sie war an­ge­bro­chen.

Co­lo­nel Tench Tilgh­man, Ad­ju­tant, Se­kre­tär und Ku­ri­er Ge­ne­ral Ge­or­ge Wa­shing­tons, ver­blieb den Mor­gen hin­durch auf Deck des Schiffs, das ihn fort­trug. Vom York ge­lang­ten sie hin­aus in die Bucht. Am Nach­mit­tag be­gab sich der Co­lo­nel auf Ein­la­dung des Ka­pi­täns in die Ka­bi­ne und nahm ein Mahl zu sich – et­was kal­tes Fleisch, Zwie­back und Bran­dy. Seit dem Nach­mit­tag des Vor­tags hat­te er nichts ge­ges­sen. Nie­mand in Wa­shing­tons Feld­quar­tier hat­te ans Es­sen ge­dacht.

Dann stieg er hin­un­ter, um nach Black Damn zu schau­en. Der Hengst war ru­hig – oder so ru­hig, wie zu sein er es ver­moch­te, und das war nicht völ­lig ru­hig. Auch wenn Black Damn kei­nen Huf rühr­te, er­weck­te er doch den Ein­druck, er sei in schnel­lem Lauf. Selbst reg­los glich er dem Bild ei­nes Pfeils im Flug. Er war aus Be­we­gung ge­schaf­fen. Er grüß­te den Co­lo­nel mit ei­nem Au­gen­rol­len und sei­nem üb­li­chen ka­me­rad­schaft­li­chen Grimm. »Ja, ja, Sir«, sag­te der Co­lo­nel und grunz­te und brumm­te ein paar zur Be­kräf­ti­gung ih­rer Be­zie­hung ge­eig­ne­te Lau­te. Black Damn ver­stand ihn. Wenn der Co­lo­nel ihn re­spek­tier­te, dann re­spek­tier­te er sei­ner­seits den Co­lo­nel. Der Mann er­neu­er­te das Heu, das Pferd rieb sei­nen Kopf an dem wohl­tä­ti­gen Arm, und bei­de wa­ren gut ge­launt. »Ja, du, Sir«, sag­te der Co­lo­nel, leg­te sich auf den großen Heu­hau­fen und schlief. In der ver­gan­ge­nen Nacht wa­ren ihm nur drei Stun­den Schlaf ver­gönnt ge­we­sen.

Ei­ne Be­we­gung weck­te ihn, von der er au­gen­blick­lich wuß­te, daß sie ei­ne Un­re­gel­mä­ßig­keit be­deu­te­te. Es war je­ne Be­we­gung, die nicht hät­te sein sol­len – die Be­we­gung, mit der Be­we­gung auf­hört. Bin­nen we­ni­ger Mo­men­te war er an Deck, doch schon vor­her er­riet er die ein­ge­tre­te­ne La­ge.

Sie hat­ten die Tan­gier Shoal er­reicht, die aus­ge­dehn­ten Un­tie­fen rings um die In­sel Tan­gier. Je­der Schif­fer der Ches­a­pea­ke-Bucht wuß­te über sie Be­scheid – wuß­te, daß ihr Um­fang im­mer so gut wie gleich blieb, aber ih­re Tie­fen sich stän­dig än­der­ten. Wäh­rend der einen Jah­res­zeit konn­te zwi­schen zwei Punk­ten ei­ne schiff­ba­re Fahr­rin­ne sein, in der nächs­ten wa­ren dort Sand­bän­ke. Die Ver­nunft, so dach­te der Co­lo­nel, soll­te je­der­mann fern­hal­ten, auf je­den Fall je­man­den mit ei­nem Boot von der Art des Scho­ners. Aber die­sen Ka­pi­tän hat­te die Ver­nunft nicht auf­ge­hal­ten. Der Scho­ner war auf­ge­lau­fen.

Sei­ne ers­te hef­ti­ge Re­gung gab ihm ein, den Idio­ten zu er­schie­ßen. Der Ge­dan­ke ver­flüch­tig­te sich, ehe er sich rich­tig ver­fes­tigt hat­te. Der Co­lo­nel wid­me­te sei­nen Ver­stand den Ver­hält­nis­sen. Se­hen konn­te er nichts, denn in­zwi­schen war es dun­kel, aber er ver­moch­te sich aus­zu­ma­len, was sich zu­ge­tra­gen hat­te. Der Wind hat­te um­ge­schla­gen und weh­te nun statt aus Süd­wes­ten aus dem Os­ten. Beim Be­mü­hen, sich in die­sen Ge­gen­wind zu stem­men, hat­te der Ka­pi­tän zu weit ost­wärts ge­halst und das Schiff auf ei­ne Sand­bank ge­setzt. Die­ses Un­glück hät­te ihm nicht wi­der­fah­ren dür­fen – und doch konn­te es je­dem zu­sto­ßen. Es war ein so ge­wöhn­li­cher Schif­fahrts­zwi­schen­fall, daß er glei­cher­ma­ßen ver­zeih­lich war wie un­ver­zeih­lich. Aber nichts der­glei­chen spiel­te jetzt ei­ne Rol­le. Ent­schei­dend war nun, daß die Flut zu­rück­ging. Sie konn­ten das Schiff nicht frei­ma­chen, die Fahrt nicht fort­set­zen, be­vor die Flut wie­der­kehr­te. Acht Stun­den.

Co­lo­nel Tilgh­man hat­te wäh­rend des ge­sam­ten Ver­laufs der Re­vo­lu­ti­on auf ih­rer Sei­te ge­kämpft. Das be­deu­te­te, er hat­te zu war­ten ge­lernt; denn die we­sent­lichs­te Kunst je­nes Krie­ges war das War­ten ge­we­sen. Nicht in dem Sinn, daß die Re­vo­lu­ti­on et­was für aus­schließ­lich ge­dul­di­ge Men­schen ge­we­sen wä­re. Ge­wiß – Ge­duld hat­te sie ge­lehrt. Aber Un­ge­duld hat­te sie her­vor­ge­bracht. In ih­ren Kämp­fern war ei­ne be­son­de­re Art von Aus­dau­er ent­stan­den. Ein Ei­fer, der nicht er­mat­te­te, wäh­rend das Un­ent­schie­den sich hin­zog. Ei­ne Fä­hig­keit zu stil­ler, be­harr­li­cher, zä­her Acht­sam­keit. Tilgh­man war dar­in ein Meis­ter. Doch er hat­te die­se Meis­ter­schaft für den Sie­ges­ritt ab­ge­streift. Die Ge­wohn­hei­ten des Krie­ges wa­ren vor­bei – die Not­wen­dig­keit, sich in Ver­zö­ge­run­gen zu schi­cken, be­stand nicht län­ger! Konn­te es für einen Mann, der ei­ne sol­che Nach­richt be­för­der­te wie er, Ver­zö­ge­run­gen ge­ben? Das konn­te es. Wind, Sand­bän­ke und Ge­zei­ten be­sa­ßen vor der Ge­schich­te kei­ne Ver­ant­wor­tung. Die Ver­ei­nig­ten Staa­ten hat­ten für einen be­grenz­ten Zeit­raum von acht Jah­ren ge­war­tet. Nun muß­ten sie wei­te­re un­end­lich lan­ge acht Stun­den ab­war­ten.

Tilgh­man un­ter­hielt sich mit Höf­lich­keit mit dem Ka­pi­tän. Der Mann hat­te et­was Un­ver­zeih­li­ches ge­tan, das nun ver­zie­hen wer­den muß­te. Da er ihn nicht er­schie­ßen konn­te, moch­ten sie ge­nau­so­gut die An­nehm­lich­kei­ten tei­len. Schließ­lich ge­sell­te der Co­lo­nel sich in der Ka­bi­ne zum Ka­pi­tän und sei­nem Bran­dy.

Die An­nehm­lich­kei­ten je­doch blie­ben im Rah­men der mensch­li­chen Mög­lich­kei­ten. Das Wet­ter mach­te sie zu ei­nem Nichts. Der Wind blies stär­ker. Er durch­weh­te die pech­schwar­ze Luft mit bit­ter­kal­tem flie­gen­den Was­ser. Auf dem Scho­ner war nichts warm, und nichts, das den Ele­men­ten aus­ge­setzt war, blieb tro­cken. Co­lo­nel Tilgh­mans Re­ak­ti­on dar­auf stand au­ßer­halb der Leh­ren ei­ner je­den Phi­lo­so­phie. Sie kam ein­fach aus sei­nem Kör­per.

Er wuß­te, was das hieß, äu­ßers­te Hit­ze und Käl­te und Näs­se in nie son­der­lich gut er­nähr­tem Zu­stand zu er­tra­gen. Er wuß­te es so gut wie je­der Mann, der die auf­ein­an­der­fol­gen­den Feld­zü­ge des Krie­ges mit­ge­macht hat­te. Seit Val­ley For­ge je­doch hat­te sich ein Wi­der­sa­cher in sei­nem zä­hen, seh­ni­gen, au­ßer­ge­wöhn­lich leis­tungs­fä­hi­gen Kör­per ein­ge­nis­tet. Es war et­was, das man all­ge­mein un­ter der Be­zeich­nung ›Rück­fall­fie­ber‹ kann­te. Es äu­ßer­te sich durch Frös­teln und ho­he Tem­pe­ra­tur. Vor sich selbst ver­leug­ne­te er es, und in Ge­gen­wart an­de­rer Leu­te spiel­te er den Fall als ›kur­ze In­dis­po­si­ti­on‹ her­un­ter. Die Tat­sa­che, daß ir­gend et­was mit ihm nicht in Ord­nung war, ge­dach­te er we­der sich noch an­de­ren ein­zu­ge­ste­hen. Es zu ver­heh­len, war ein­fach. An­de­re Men­schen er­lit­ten eben­falls In­dis­po­si­tio­nen – und sei­ne tra­ten un­re­gel­mä­ßig auf. Er be­kam sie nur, wenn er sich An­stren­gun­gen un­ter­wor­fen hat­te.

Er heg­te nicht die Auf­fas­sung, das am 19. Ok­to­ber ge­tan zu ha­ben. Sei­ne drei Stun­den Schlaf in der vor­he­ri­gen Nacht hat­te er auf ziem­lich tro­ckenem Un­ter­grund zu­ge­bracht. Wäh­rend der Ta­ge der Schlacht war er an Wa­shing­tons Sei­te ge­we­sen, hat­te mit Wa­shing­ton Schritt ge­hal­ten, und Wa­shing­ton hat­te nichts an­de­res ge­tan, als ein Kom­man­die­ren­der Ge­ne­ral in der Ent­schei­dungs­schlacht sei­nes Krie­ges tun muß­te. Für den Co­lo­nel hat­te das ge­hei­ßen, daß er De­pe­schen schrei­ben und über­brin­gen, In­spek­tio­nen vor­neh­men und dar­über be­rich­ten, sei­nen Vor­ge­setz­ten bei Tag und Nacht auf Er­kun­dun­gen be­glei­ten, an Kon­fe­ren­zen teil­neh­men muß­te, wo sei­ne Fran­zö­sisch­kennt­nis­se zum Dol­met­schen dienten, daß er in stän­di­ger Be­reit­schaft zu sein hat­te. Da­von war ge­wiß nichts ei­ne grö­ße­re An­stren­gung. Sieg – war das ei­ne Stra­pa­ze? Nie­mals hat­te ei­ner von ih­nen sich woh­ler ge­fühlt. Sie wa­ren un­ge­dul­di­ge Män­ner, end­lich von der Ge­duld er­löst.

Doch der Wind über der Ches­a­pea­ke-Bucht scher­te sich nicht um der­ar­ti­ge Din­ge. Der Wi­der­sa­cher im Co­lo­nel reg­te sich. Er­fühl­te sei­ne In­dis­po­si­ti­on sich an­kün­di­gen. Un­ter Deck war ei­ne Ko­je. Er konn­te sich hin­le­gen. Er blieb auf Deck. Die­ser elen­de An­fall wür­de vor­über­ge­hen. Er wür­de ihn miß­ach­ten …

Über der Bucht des Jah­res 1974 herrsch­te ein ganz an­de­res Wet­ter. Dort weh­te ein sach­ter Süd­wind mit fast som­mer­li­cher Wär­me. Der Him­mel war klar und mit ei­nem be­mer­kens­wert schö­nen Mond ge­ziert, ei­nem so schö­nen Mond, daß er ei­ne jun­ge Frau des Jah­res 1974 wäh­rend der Kreuz­fahrt durch die Tan­gier Shoal zu ei­ner Be­mer­kung ver­an­laß­te. »Ir­gend­wie kann ich ihn mir ein­fach nicht als Ra­ke­ten­ba­sis vor­stel­len«, sag­te sie zu ih­rem Be­glei­ter und seufz­te.

Die bei­den wa­ren ein jung­ver­hei­ra­te­tes Paar und üb­ten ih­re ge­mein­sa­me Häus­lich­keit ro­man­ti­scher­wei­se zu­erst auf ei­nem Boot ein. Am Abend – ver­lockt vom herr­li­chen Wet­ter – wa­ren sie hin­aus­ge­fah­ren. Sie pas­sier­ten den Scho­ner im Jah­re 1781 in ge­rin­ger Ent­fer­nung, je­doch in si­che­rer Was­ser­tie­fe, nicht bloß des­halb, weil die Sand­bank sich 1974 an ei­ner an­de­ren Stel­le be­fand, son­dern auch, weil ih­nen Kar­ten und Fahrt­rin­nen­zei­chen zur Ver­fü­gung stan­den. Sie wa­ren sehr glück­lich. Die jun­ge Frau ent­deck­te ver­blüfft, daß in ganz ge­wöhn­li­chen Din­gen sich plötz­lich Tie­fen um Tie­fen of­fen­bar­ten. Es schi­en ihr, als leb­te sie in ei­nem Zu­stand der Er­war­tung ei­ner lieb­li­chen Er­fül­lung nach der an­de­ren. Er stell­te fest, daß er sich nie zu­vor so be­hag­lich ge­fühlt hat­te, und war auf zärt­li­che Wei­se ver­ständ­nis­voll zu dem lie­ben klei­nen Ge­schöpf, des­sen Da­sein das sei­ne so an­ge­nehm be­rei­cher­te.

Die jun­ge Frau wand­te den Blick vom Mond. Sie starr­te hin­aus in die Dun­kel­heit. Sie war eben noch hu­mor­voll ko­kett ge­we­sen. Nun war sie plötz­lich an­ge­spannt, er­reg­te den Ein­druck, als ver­su­che sie et­was zu se­hen, wo es nichts zu se­hen gab. »Jack«, mein­te sie, »spürst du et­was?«

»Was?« frag­te er zu­rück.

»Als … als ob da et­was wä­re«, ant­wor­te­te sie. »Je­mand …« Sie streck­te einen schlan­ken Arm aus und deu­te­te. »Dort?« Sie blick­te ge­nau dort­hin, wo Tilgh­man stand, schau­te in der Tat in sei­ne Au­gen, die vom Fie­ber glänz­ten; ih­re von der Lie­be er­weck­te Sen­si­ti­vi­tät be­fä­hig­te sie, wie sie es nann­te, zu ›spü­ren‹, was au­ßer­halb der Reich­wei­te ih­rer Sin­ne lag. »Et­was bei­na­he Geis­ter­haf­tes?« flüs­ter­te sie fast un­hör­bar.

Ihr Ehe­mann lach­te nach­sich­tig. Ein ver­rück­tes klei­nes rei­zen­des Ding, wie …?

Ei­ne Stun­de nach Mit­ter­nacht kam der Scho­ner frei. Um die­se Zeit be­stand we­der für den Co­lo­nel noch für den Ka­pi­tän das Er­for­der­nis, die Tat­sa­che in Wor­te zu fas­sen, daß we­der Rock Hall noch ir­gend­ein an­de­rer ost­wär­ti­ger Punkt an der Küs­te sich er­rei­chen ließ. Der Wind mach­te es deut­lich ge­nug. Sie muß­ten west­wärts. Sie la­gen auf Kurs nach An­na­po­lis, und da­durch er­gab sich ei­ne zu­sätz­li­che Ver­zö­ge­rung, die schlicht­weg un­faß­bar war – min­des­tens zwölf Stun­den.

Der Co­lo­nel miß­ach­te­te sei­ne In­dis­po­si­ti­on auch wei­ter­hin. Brann­te sein In­ne­res lich­ter­loh vom Fie­ber? Nun, er hat­te schon auf so man­chem Marsch un­ter glü­hen­der Son­ne ge­schmort. Kroch das Frös­teln über sei­ne Haut? Nun gut, er hat­te schon mehr als ein­mal auf ver­schnei­tem Bo­den ge­schla­fen. Die Nach­richt. Zum Kon­greß.

Er wach­te sorg­sam über Black Damn, der ihn, so­bald die­se jäm­mer­li­che zwei­te Etap­pe sei­nes Ku­rier­auf­trags durch­ge­stan­den war, ver­stän­dig und tüch­tig durch die drit­te Etap­pe tra­gen soll­te. Und schnell. Aus die­sem Grund hat­te er Black Damn mit­ge­nom­men. An­dern­falls hät­te er die längs­te Stre­cke des Weges nach Phil­adel­phia auf Post­pfer­den zu­rück­le­gen müs­sen, und Post­pfer­de wa­ren nicht viel wert. Die bes­ten Post­pfer­de wa­ren nicht mehr als kräf­tig und aus­dau­ernd. Sie flo­gen nicht – und Black Damn flog da­hin. Sie be­sa­ßen kei­ne leich­te Gang­art – Black Damns Be­we­gung war weich wie Samt. Co­lo­nel Tilgh­man woll­te sei­ne Ab­hän­gig­keit von den un­ter­le­ge­nen Tie­ren weit­mög­lichst ver­rin­gern, in­dem er Black Damn bis zum Äu­ßers­ten aus­ritt. Er be­sänf­tig­te den Hengst, ließ ihm die üb­li­che Pfle­ge an­ge­dei­hen und drück­te ihm sein Ver­ständ­nis aus. Ge­dul­de dich. Ja, ob­wohl du aus rei­nem Feu­er bist und dei­ne See­le pu­re Un­ge­duld. Was be­deu­tet ei­ne Wen­de von Wind und Wet­ter? Ei­ne Wen­de im Ver­lauf der Mensch­heits­ge­schich­te war ein­ge­tre­ten.

Sie tra­fen am Abend des nächs­ten Ta­ges in An­na­po­lis ein. Der Wind hat­te nicht nach­ge­las­sen. Auch nicht des Co­lo­nels In­dis­po­si­ti­on. We­nigs­tens ist sie lang­sam im Nach­las­sen be­grif­fen, dach­te der Co­lo­nel, als er am dunklen Ufer ent­lang zu ei­nem Gast­haus streb­te und plötz­lich die scheuß­li­che Heim­su­chung er­fuhr, sich der Ge­gen­wart von et­was selt­sam be­wußt zu sein, das er nicht se­hen konn­te … Tat­säch­lich al­ler­dings schritt er durch die Gruft un­ter der Ka­pel­le der Na­val Aca­de­my der Ver­ei­nig­ten Staa­ten, wo im Jah­re 1974 die sterb­li­chen Über­res­te sei­nes Freun­des Cap­tain John Paul Jo­nes in ewi­gen Eh­ren ruh­ten. Der Geist des See­hel­den er­füll­te die Ru­he­stät­te; Co­lo­nel Tilgh­man, der Geist, vi­tal in sei­ner Welt des Jah­res 1781, ›spür­te‹ ihn, wie die jun­ge Ehe­frau bei Tan­gier ihn selbst ›ge­spürt‹ hat­te … Er suchte das Gast­haus auf, wo sei­ne ers­te Sor­ge war, nach­dem er sich in Wär­me und Tro­cken­heit sah, daß man zwei Stall­knech­te aus­schick­te, um Black Damn vom Scho­ner zu ho­len.

Mit die­sem glück­lo­sen Schiff hat­te er nicht län­ger zu schaf­fen. Von An­na­po­lis nach Rock Hall ver­kehr­te ein Fähr­be­trieb, mit gu­ten, schnel­len Boo­ten. Er be­ab­sich­tig­te das ers­te Boot zu neh­men, wel­chem das Wet­ter ab­zu­le­gen ge­stat­te­te. Er sah den Stall­knech­ten zu, stell­te fest, daß sie ihr Hand­werk ver­stan­den, und be­lohn­te sie groß­zü­gig. Dann be­stell­te er sich hei­ßen Grog und be­gab sich zu Bett. Durch einen au­ßer­or­dent­li­chen Glücks­fall konn­te er ei­ne ei­ge­ne Kam­mer be­zie­hen.

Er schlief, ob­wohl in fie­bri­ger Un­s­te­tig­keit. Nach je­dem Er­wa­chen lausch­te er dem Wind. Am Frühnach­mit­tag des nächs­ten Ta­ges, so ver­mu­te­te er, wür­de der Wind sich ab­schwä­chen.

Er be­hielt recht. Um zwei Uhr des fol­gen­den Ta­ges rief man in den Schan­kräu­men des Gast­hau­ses aus, daß um drei Uhr ei­ne Fäh­re nach Rock Hall aus­lau­fen wer­de. Die Über­fahrt be­an­spruch­te un­ge­fähr vier Stun­den. In­zwi­schen hat­te er be­merkt, daß sich Ge­rüch­te über Ge­scheh­nis­se an der Front aus­brei­te­ten; sie wa­ren falsch, aber man gab sie wei­ter. Ein Han­dels­mann ver­si­cher­te im Sa­loon al­len Zu­hö­rern mit großer Ernst­haf­tig­keit, es ha­be ei­ne ge­wal­ti­ge See­schlacht statt­ge­fun­den. Und so wei­ter und so fort. Der Co­lo­nel, der Ge­or­ge Wa­shing­tons De­pe­sche in der Sat­tel­ta­sche trug, lausch­te le­dig­lich. Na­tür­lich mach­te dies Kur­sie­ren von Kol­por­ta­gen die Über­mitt­lung der Wahr­heit in Ge­stalt der De­pe­sche um so dring­li­cher. Wohl­an, er hat­te nun gu­ten Wind. Und er hat­te Black Damn. Er nahm an, daß er nun end­lich vor­an­zu­kom­men er­war­ten durf­te.

Die Fäh­re lief um die ge­nann­te Stun­de aus. Am San­dy Point, acht Mei­len nörd­lich von An­na­po­lis, un­ter­quer­te sie die Bay Bridge, ei­ne sie­ben Mei­len lan­ge stäh­ler­ne Stra­ße, auf der – im Jah­re 1974 – Au­tos mit ei­ner Min­dest­ge­schwin­dig­keit von vier­zig Mei­len je Stun­de die Ches­a­pea­ke-Bucht über­quer­ten. Auf der Fäh­re des Jah­res 1781 er­zähl­te ein Pas­sa­gier, daß sein Groß­va­ter sich noch er­in­ner­te, daß die In­dia­ner mit ih­ren Ka­nus stets von der Land­zun­ge aus über die Bucht ge­ru­dert wa­ren, denn dort war die schmäls­te Stel­le. »In ei­nem hal­b­en Tag ka­men sie hin­über«, schloß der Pas­sa­gier.

Die Fäh­re hat­te fünf­und­zwan­zig Mei­len in nord­öst­li­cher Rich­tung zu­rück­zu­le­gen. Ih­re An­kunft war am Abend um sie­ben Uhr.

Dann war Tench Tilgh­man an Land. Und dann auch sein Pferd. Dann lag die Stra­ße nach Phil­adel­phia vor Tench Tilgh­man. Die letz­te Etap­pe sei­nes Ku­rier­ritts hat­te be­gon­nen. »Rei­tet, Co­lo­nel. Rei­tet

Er ritt. Es war ein An­pei­len und Vor­wärts­schie­ßen. Es war Schwär­ze und Feu­er. Ei­ne aus­ge­dehn­te Wei­te der Ru­he und ei­ne un­mit­tel­ba­re Um­ge­bung aus Ge­räuschen. Es war ei­ne be­we­gungs­lo­se Welt, worin es nur ei­ne Be­we­gung gab. Sein Pferd und er. Es war Frei­heit von je­dem an­de­ren An­trieb au­ßer dem ei­ge­nen. Kei­ne plump zu­sam­men­ge­na­gel­ten Plan­ken, die auf einen nas­sen Sand­hü­gel lie­fen. Kei­ne Stoff­bah­nen, die statt sei­nem Wil­len dem Wind ge­horch­ten, ihn nach Wes­ten zerr­ten, wo­ge­gen er gen Os­ten woll­te. Kei­ne der Un­zu­läng­lich­kei­ten des Fahr­zeug­ver­kehrs. Nur er selbst, eins mit sei­nem Pferd. Nur Be­we­gung. Rei­ten.

Die Stra­ße vor ihm war ein wei­cher, lo­cke­rer Pfad. Sie lag ver­las­sen – nie­mand reis­te bei Nacht. Es war fins­ter – die Häu­ser der Pflan­zer wa­ren durch Mei­len Wei­te ge­trennt und stan­den vor­wie­gend nicht an der Stra­ße, son­dern an den Flüs­sen. Er kann­te den Weg gut. Er war die Stre­cke schon mehr­fach ge­rit­ten. In der Tat han­del­te es sich bei die­sem Pfad um einen der Haupt­ver­kehrs­we­ge des ko­lo­nia­len Ame­ri­ka. Nun war er für ihn le­dig­lich ei­ne be­stimm­te Ent­fer­nung. Rei­te!

Ein­hun­dert Mei­len. Er ritt.

Black Damn flog mit ihm durch die bei­den ers­ten Teil­stre­cken des Wegs, von Rock Hall über Che­s­ter­town nach Down Cross­roads. End­lich ver­moch­te der Hengst sei­nem stän­dig schwel­len­den Grimm den rech­ten Aus­druck zu ver­lei­hen. End­lich. Er haß­te die Stra­ße. Mit sei­nen Hu­fen stampf­te er die Er­de auf, warf sie nach hin­ten. In zwei Stun­den ga­lop­pier­te er sechs­und­drei­ßig Mei­len weit. Ein Drit­tel der Stre­cke.

Als er in den be­leuch­te­ten Hof der Sta­ti­on zu Downs Cross­roads ein­bog, rief er nach ei­nem Er­satz­pferd, noch wäh­rend er den Hengst zü­gel­te, bis die Stall­knech­te ge­lau­fen ka­men. »Ein Pferd für den Kon­greß! Für den Kon­greß! Ein Pferd!« Dann stieg er ab und mus­ter­te Black Damn. Er sah, daß Black Damn mü­de war, er­schöpft – aber noch im­mer zor­nig. Der Ritt hat­te ihm nicht ge­scha­det. Der Co­lo­nel be­zahl­te die dop­pel­te Sum­me für die Pfle­ge vor­aus und wand­te sich dann sei­nem Er­satz­pferd zu. Ein großer, vier­schrö­ti­ger Brau­ner, der Er­schei­nung nach mit Si­cher­heit von stei­fer Gang­art. Der Co­lo­nel saß auf und ga­lop­pier­te da­von.

Zehn Mei­len bis War­wick. Der Brau­ne schnauf­te sie in­ner­halb von fünf­zig Mi­nu­ten hin­ab. In War­wick rief der Co­lo­nel er­neut nach Er­satz – »Ein Pferd für den Kon­greß!« Dort brach­te man ihm ei­ne Stu­te. Sie war sanft, aber lang­sam. Nach Odes­sa wa­ren es zehn Mei­len – und sie be­nö­tig­te ei­ne un­er­träg­li­che Stun­de. Er hat­te die Hälfte des Weges über­wun­den. Fünf­zig Mei­len la­gen noch vor ihm.

Die wei­te­ren Pfer­de­wech­sel be­merk­te er kaum. Die Sta­tio­nen gli­chen Krei­sen laut­star­ken Lichts ne­ben ei­nem lan­gen ent­roll­ten Strang aus stil­ler Dun­kel­heit. Rei­ten. Das war es – das war al­les. Vor­wärts, vor­wärts, be­fahl sein Ver­stand, und sei­ne Be­we­gun­gen folg­ten dem Be­fehl mit au­to­ma­ti­scher Wil­lig­keit.

Bei ei­nem der kur­z­en Auf­ent­hal­te lief ein Schank­mäd­chen her­aus auf den Hof und reich­te ihm einen Krug Bier. »Mit den Grü­ßen mei­nes Wir­tes, Sir«, sag­te es. »Wir sind Pa­trio­ten.« Dann bat es ihn, den Blick ernst­lich in sein Ge­sicht ge­rich­tet, zu blei­ben und sich ei­ne Rast zu gön­nen, für wel­chen Zwe­cke­rein sau­be­res, fri­sches Bett er­hal­ten sol­le. Er lä­chel­te und gab zur Ant­wort, er wer­de noch­mals vor­bei­kom­men, stubs­te das Mäd­chen un­ters Kinn und schenk­te ihm ei­ne Mün­ze. Wäh­rend er all das tat, war er sich der Ge­gen­wart des Mäd­chens kaum be­wußt.

Eben­so­we­nig war er sich sei­ner Pfer­de be­wußt. Er hol­te nur das Bes­te aus ih­nen her­aus, paß­te mit ei­ner aus le­bens­lan­ger Er­fah­rung an­ge­eig­ne­ten Fein­füh­lig­keit sei­nen Kör­per an die Fä­hig­kei­ten und Lau­nen des je­wei­li­gen Tiers an. Noch we­ni­ger be­wußt war er sich sei­nes Fie­bers. Es war nie von ihm ge­wi­chen, und nun stieg es gar. In sei­nem Kopf hall­ten an­de­re Ge­räusche wi­der als je­ne, die ihn be­glei­te­ten, dem Klang der Hu­fe. Da wa­ren Lich­ter, seit­lich und ein we­nig hin­ter ihm, als ver­folg­ten sie ihn. Er schenk­te ih­nen kei­ne Be­ach­tung. Er wuß­te, daß es sie nicht gab. Er wür­de die Stre­cke schaf­fen. Das al­lein zähl­te. Zum Haus des Kon­greß­vor­sit­zen­den.

Nörd­lich von Ne­w­cast­le stimm­te sein Weg mit dem Ver­lauf ei­ner vier­spu­ri­gen Schnell­stra­ße des Jah­res 1974 über­ein. Er ga­lop­pier­te zwi­schen rie­si­gen, brum­men­den Last­wa­gen und Ne­on­scheuß­lich­kei­ten da­hin, in ei­nem Ver­kehr, der sich stän­dig ver­dich­te­te. An ei­ner Stel­le ritt er durch die Am­bu­lanz­fahr­zeu­ge, Po­li­zei­au­tos und Schau­lus­ti­gen ei­nes 1974 all­täg­li­chen Auf­fahr­un­falls mit fünf To­ten, und sei­ne Missi­on glüh­te in sei­nem Be­wußt­sein wie ei­ne Koh­le – »Die Re­vo­lu­ti­on ist aus. Corn­wal­lis hat ka­pi­tu­liert. Rei­tet! Rei­te! Rei­te!«

Und so ge­lang­te er des Nachts um zwei Uhr und fünf­und­vier­zig Mi­nu­ten ans Ziel. Die Hu­fe klap­per­ten über das Pflas­ter von Phil­adel­phia, und er zü­gel­te sein Pferd. An der Ecke zum Obe­ren Markt­platz. Vor dem Haus des Kon­greß­vor­sit­zen­den der Ver­ei­nig­ten Staa­ten.

Schwung­voll stieg er ab, stieg mit der lang­sa­men Leich­tig­keit von mit Er­schöp­fung ver­meng­tem Fie­ber ab. »Wenn im Ver­lauf der mensch­li­chen Ge­schich­te …‹ Wenn im Ver­lauf der mensch­li­chen Ge­schich­te ein Mann, ob krank oder ge­sund, ein­hun­dert Mei­len weit ge­rit­ten ist, hat er ein un­ver­äu­ßer­li­ches Recht dar­auf, mü­de zu sein. Der Co­lo­nel dach­te nicht dar­an, die­se Ad­ap­ti­on von Mr. Jef­fer­sons Un­ab­hän­gig­keits­er­klä­rung auf sei­ne ei­ge­ne La­ge an­zu­wen­den. Er dach­te über­haupt nicht an sei­ne un­ver­äu­ßer­li­chen Rech­te. Mit traum­haf­ten Be­we­gun­gen er­klomm er die Stu­fen zur Tür des Kon­greß­vor­sit­zen­den, hob den Tür­klop­fer und klopf­te ein­mal. Drin­nen war es still. Er klopf­te noch­mals, und wie­der blieb es ru­hig. Er wie­der­hol­te das ein­ma­li­ge Po­chen mehr­fach, und schließ­lich klopf­te er je­weils zwei- und drei­mal. Nichts ge­sch­ah. Er be­trach­te­te die Tür.

Sie war mit weiß email­lier­ter Zi­se­lie­rung ver­ziert. Sie war teil­nahms­los schön. Er sah sie nicht wirk­lich. Ei­ne Tür? Ei­ne Sand­bank, ei­ne stei­fe Bri­se, lang­sa­me Postpfer­de, hart­mäu­lig und steif­bei­nig, ein Fie­ber, Hin­der­nisse. Er hob sei­nen Arm und schlug mit der Faust ge­gen die schö­ne Tä­fe­lung. Und wäh­rend er das tat, er­hob er auch sei­ne Stim­me zu ei­nem Schrei, der durch die gan­ze Stadt schall­te. »Ei­ne Bot­schaft!« rief er. »Ei­ne große Nach­richt! Für den Kon­greß!« Und dann sprach er es aus. »Corn­wal­lis hat KA­PI­TU­LIERT!«

Corn­wal­lis hat­te ka­pi­tu­liert? O nein. Nicht Corn­wal­lis. Wer war er schon? Ein Mann, ein Of­fi­zier, ein Ge­ne­ral mit ei­ner Ar­mee un­ter sei­nem Be­fehl. Er ka­pi­tu­liert? Nicht er, nicht ir­gend­ein Mann, nicht ir­gend­ei­ne Ar­mee – son­dern die Ty­ran­nei selbst. Die Ty­ran­nei hat­te ka­pi­tu­liert. Die Frei­heit war be­freit. In die­sem Sin­ne sprach Co­lo­nel Tilgh­man. Und ei­ne fes­te Hand leg­te sich auf sei­ne Schul­ter, und als er sich um­dreh­te, stand er vor zwei Män­nern. Ei­ner trug ei­ne La­ter­ne mit run­den Schei­ben, der an­de­re hielt ei­ne Pi­ke ge­senkt. Die bei­den wa­ren An­ge­hö­ri­ge der Wa­che und er­klär­ten Co­lo­nel Tilgh­man, er ste­he we­gen Stö­rung des Stadt­frie­dens un­ter Ar­rest.

In die­sem Mo­ment hät­te er al­les tun kön­nen. Er hät­te die bei­den er­schie­ßen kön­nen. Er hät­te la­chen kön­nen. Er hät­te sich er­nied­ri­gen las­sen und zum Schlaf hin­le­gen kön­nen. Wie es sich er­gab, brauch­te er gar nichts zu tun. Im zwei­ten Stock­werk des Hau­ses öff­ne­te sich ein Fens­ter, und her­aus schau­te der mit ei­ner Nacht­müt­ze be­deck­te Kopf des Kon­greß­vor­sit­zen­den der Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Er er­kann­te Ge­ne­ral Wa­shing­tons Ku­ri­er und ließ ihn ein. Die De­pe­sche ge­lang­te zum Emp­fän­ger.

Und die Wa­che rief vor den dunklen Häu­ser­fron­ten, wäh­rend sie ih­re Run­de mach­te, nicht aus, daß es drei Uhr und al­les fried­lich sei, son­dern daß um drei Uhr je­nes au­ßer­ge­wöhn­li­chen Mor­gens Corn­wal­lis ka­pi­tu­liert ha­be. Und ei­ni­ge Men­schen wa­ren wach und hör­ten es und ka­men aus ih­ren Tü­ren, und an­de­re er­wach­ten und hör­ten es und ka­men aus ih­ren Tü­ren, und als­bald wa­ren die Stra­ßen vol­ler freu­dig ge­stimm­ter Ame­ri­ka­ner. Und man läu­te­te die Frei­heits­glo­cke.