Das ar­me al­te Ge­spenst
von
Heinrich Seidel

 

 

Hein­rich Sei­del (1842-1906) war ein Er­zäh­ler hu­mor­voller Klein­stadt­i­dyl­len und lie­bens­wer­ter Vor­stadt­ge­schich­ten, der mit sei­nen Er­zäh­lun­gen um Le­be­recht Hühn­chen hohe Auf­la­gen er­ziel­te. Er ar­bei­te­te nach ei­nem po­ly­tech­ni­schen Stu­di­um zu­erst als In­ge­nieur und mach­te sich als Kon­struk­teur des Hal­len­da­ches über dem An­hal­ter Bahn­hof einen Na­men, be­vor er sich seit 1880 ganz der frei­en Schrift­stel­le­rei wid­me­te. Auch sei­ne klei­ne Gespens­ter­ge­schich­te zeich­net sich durch lie­bens­wer­ten Hu­mor aus.

 

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Am Ran­de des Kie­fern­wal­des lag ein wüs­tes, san­di­ges Feld. Es war ganz sich sel­ber über­las­sen; es wuchs darauf, was woll­te, und das war recht we­nig, denn es ge­hör­te viel gu­ter Wil­le da­zu, auf die­sem Fel­de zu ge­dei­hen. Ei­ni­ge ke­gel­för­mi­ge Wa­chol­der­bü­sche hat­ten mit zä­her Ener­gie es vor sich ge­bracht und zeig­ten sich von fer­ne ge­se­hen als ein­zel­ne dunkle Ge­stal­ten dar­über zer­streut, schein­bar in trau­ri­ges Nach­den­ken ver­sun­ken über ih­ren trüb­se­li­gen Be­ruf. Ei­ne tap­fe­re und lis­ti­ge Sor­te von Sand­gras, das un­ter der Ober­flä­che in si­che­rer Tie­fe strah­len­för­mig lan­ge schnur­ge­ra­de Schos­sen treibt und aus die­sen in ab­ge­mes­se­nen Ent­fer­nun­gen sei­ne spit­zi­gen Blät­ter em­por­sen­det, hat­te ein­zel­ne Stre­cken über­spon­nen, an ge­schütz­te­ren Or­ten hat­te röt­li­ches Hei­de­kraut zu klei­nen Flä­chen sich zu­sam­men­ge­drängt, und auf ei­nem nied­ri­gen Sand­hü­gel stand ei­ne knor­ri­ge, ver­krüp­pel­te Kie­fer, bald mit bloß­ge­leg­ten Wur­zeln, bald auch wie­der fuß­tief im San­de ver­gra­ben, je nach des re­gie­ren­den Win­des all­mäch­ti­ger Herr­scher­lau­ne. Die­ser klei­ne Sand­hü­gel, der an son­nen­hel­len Ta­gen als ein blen­den­der Punkt in der ebe­nen Land­schaft weit­hin sicht­bar war, hat­te sich noch nicht für sei­ne end­gül­ti­ge Form ent­schie­den, und un­ter Bei­hil­fe gü­ti­ger Luft­strö­mun­gen sich in im­mer neu­en Ge­stal­ten der er­staun­ten Um­ge­bung zu zei­gen, war sein un­abläs­si­ges Be­stre­ben.

Der Fleck war ein­sam und lag an der letz­ten Gren­ze der Stadt­fel­der; nie­mand such­te dort et­was, weil dort nichts zu fin­den war. Ei­ne kur­ze Zeit­lang war es an­ders ge­we­sen, bald nach der Ab­hol­zung des küm­mer­li­chen Wal­des, der vor Jah­ren dort ge­stan­den hat­te. Es ward be­kannt­ge­macht, daß die Bür­ger der Stadt an die­ser Stelle ge­gen ei­ne ganz ge­rin­ge Ge­gen­leis­tung Kar­tof­fel­land er­hal­ten könn­ten, und es fan­den sich zwei Nach­barn, de­ren Her­zen dies An­er­bie­ten mit va­gen Hoff­nun­gen und hoch­flie­gen­den Spe­ku­la­tio­nen er­füll­te und die in wun­der­ba­rer Ver­blen­dung von die­sem ›Ur­bo­den‹ ei­ne üp­pi­ge Ern­te er­war­te­ten. Wei­se Män­ner zuck­ten die Ach­seln, ge­wich­ti­ge Acker­bür­ger ga­ben ab­mah­nen­de Ratschlä­ge aus dem rei­chen Schatz ih­rer Er­fah­rung, al­lein der Dä­mon der Hab­gier hat­te die Her­zen der bei­den Män­ner ver­här­tet, al­so daß ihr Sinn ver­blen­det war.

Ei­nes Ta­ges ließ der ei­ne der­sel­ben, ein Schus­ter, sämt­li­che land­wirt­schaft­li­chen Schät­ze, wel­che sei­ne flei­ßi­ge Kuh den Win­ter über pro­du­ziert hat­te, auf­la­den und hin­aus­fah­ren. Er schwang sel­ber die drei­zin­ki­ge Ga­bel und schau­te mit Be­frie­di­gung auf den rei­chen Se­gen, der ihm ver­hei­ßend ent­ge­gen­dampf­te.

Am an­de­ren Tag fand bei dem Nach­bar Schnei­der ein ähn­li­ches Er­eig­nis statt. Aber ach, es war nur ei­ne Ka­ri­ka­tur des­sen, was wir vor­hin ge­se­hen ha­ben. Der ar­me Schnei­der hat­te es nur zu ei­nem Ex­em­plar je­nes Tie­res brin­gen kön­nen, des­sen männ­li­che Mit­glie­der von al­ters her zum Schnei­der­stand in ei­ner von ge­wis­sen­lo­sen Spöt­tern viel­fach aus­ge­nutz­ten Be­zie­hung ste­hen, und wer die ge­rin­gen Leis­tun­gen die­ses Vier­füß­lers für den vor­lie­gen­den Zweck aus ei­ge­ner An­schau­ung kennt, der wird es be­greif­lich fin­den, daß der dün­ne Schnei­der und sei­ne küm­mer­li­che Ehe­hälf­te es ver­moch­ten, im Lau­fe des Ta­ges auf zwei Hand­kar­ren die gan­ze wohl­zu­sam­men­ge­spar­te Samm­lung auf den Acker zu be­för­dern. Seuf­zend be­trach­te­te das Ehe­paar dort den in üp­pi­gen Hü­geln sich dar­stel­len­den Reich­tum des Nach­barn – ach, un­gleich ver­teilt sind die Gü­ter die­ser Welt!

Nach ei­ni­gen Ta­gen ging der Schnei­der wie­der hin­aus, um sein Land um­zu­gra­ben. Wohl­aus­ge­brei­tet, ei­ner Samt­de­cke ver­gleich­bar, lag jetzt das nach­bar­li­che Gut auf dem Fel­de. Der Schnei­der seufz­te wie­der und be­gann sei­ne Ar­beit. Aber der kräf­ti­ge Duft, der vom Ne­ben­lande zu ihm her­über­weh­te, ließ ihm kei­ne Ru­he und be­fruch­te­te sei­ne Fan­ta­sie. Er sah im Geis­te bei­de Fel­der ne­ben­ein­an­der­lie­gen, das ei­ne grün und üp­pig be­wal­det, daß man den Grund nicht sah, das an­de­re mit nied­ri­gen, gelb­grü­nen Bü­schen be­setzt, so daß man sie ver­glei­chen konn­te den bei­den Tie­ren, wel­che so flei­ßig für ihr Ge­dei­hen ge­ar­bei­tet hat­ten. Der Ge­dan­ke ließ ihm kei­ne Ru­he und zu dem Dä­mon der Hab­sucht ge­sell­te sich der des Nei­des. Und aus bei­der Ver­mäh­lung ward die Un­tat ge­bo­ren, wel­che dem ar­men Schnei­der so ver­häng­nis­voll wer­den soll­te. Er war der ehr­lichs­te Schnei­der von der Welt ge­we­sen, und sei­ne Höl­le war leer ge­blie­ben bis auf die­sen Tag. Selbst als er dem rei­chen durch­rei­sen­den Herrn den Rock ge­macht hat­te von dem feins­ten Tu­che der Welt, der­glei­chen er nie zu­vor und nie nach­dem ge­se­hen hat­te, be­hielt er nichts zu­rück, als, mit Er­laub­nis des Frem­den, ein klei­nes Fleck­chen, das ihm für die­sen me­te­orglän­zen­den Hö­he­punkt sei­ner Lauf­bahn als Be­weis­stück diente. Es lag zu Hau­se, in sie­ben Pa­pie­re ein­ge­wi­ckelt, wohl­ver­wahrt in ei­ner Schach­tel. Aber der Mensch soll sich hü­ten, bö­sen Lei­den­schaf­ten die Ein­kehr in sein Herz zu ge­stat­ten.

Er hat­te auf­ge­hört zu gra­ben und sah sich vor­sich­tig um, dann stieg er auf einen Stein und reck­te sich und schau­te in die Fer­ne, daß er mit sei­ner dün­nen Ge­stalt wie ein ein­sa­mes Aus­ru­fungs­zei­chen in der Land­schaft stand. Aber es war rings­her­um nie­mand zu se­hen, nur ein in Nah­rungs­sor­gen ver­tief­ter Storch stelz­te in ei­nem fer­nen Wie­sen­grun­de um­her. Der Schnei­der brach­te einen Busch zwi­schen sich und die­sen Storch und schau­te wie­der auf den Ne­be­n­acker. Wie das köst­lich und ver­hei­ßungs­voll dalag! Dann sah er sich noch ein­mal vor­sich­tig um und schlich auf das schüs­ter­li­che Feld. Nach kur­z­er Prü­fung schob er sein Grab­scheit be­hut­sam un­ter ei­nes je­ner fla­chen Ge­bil­de, wel­che, wie all­ge­mein be­kannt, nur der Kuh in die­ser Vollen­dung ge­lin­gen und schleu­der­te es auf sei­nen Acker. Ei­ne ge­schick­te Ver­tei­lung des um­her­lie­gen­den Ma­te­ri­als ließ die ent­stan­de­ne Lücke ver­schwin­den, und bald war die letz­te Spur der Tat un­ter dem San­de ver­bor­gen. Mit ei­nem Ma­le ge­sch­ah ein Klap­pern auf der Wie­se, der Storch hüpf­te mit aus­ge­streck­ten Bei­nen ei­ne Wei­le über das Gras, hob sich dann em­por und flog auf die Stadt zu. Der Schnei­der schrak zu­sam­men und zit­ter­te, ihm war, als ha­be der klu­ge Vo­gel al­les ge­se­hen und ei­le ihn an­zu­kla­gen. Doch der Schreck leg­te sich, und da nun der ers­te Schritt ge­tan war, so folg­ten ihm noch man­che an­de­re, wo­bei der vor­sich­ti­ge Schatz­dieb je­doch al­le­mal be­strebt war, die Spu­ren sei­ner Tat sorg­lich zu ver­ber­gen.

Sie blieb auch un­ent­deckt. Am an­de­ren Ta­ge schick­te der Schus­ter sei­ne Ge­sel­len und sein Mäd­chen hin­aus, und die­se gru­ben wohl­ge­mut den Acker um, oh­ne im ge­rings­ten an der­glei­chen zu den­ken. Dem ar­men Schnei­der fiel ein Stein vom Her­zen, als in der nächs­ten Zeit al­les still blieb. Die Ru­he sei­nes Ge­müts aber war und blieb ver­schwun­den. Es war, als ob ein dä­mo­ni­sches Et­was ihn im­mer zu dem Kar­tof­fel­fel­de hin­zö­ge, wo die Jung­fräu­lich­keit sei­ner ehr­li­chen Ge­sin­nung ne­ben so ge­ring­fü­gi­gen und nied­ri­gen Ge­gen­stän­den be­gra­ben lag. Des Abends, wenn es dun­kel ward, sah man ihn den Feld­weg ent­lang schlei­chen und in den Him­mel nach Wol­ken spä­hen. Von Zeit zu Zeit bohr­te er mit dem Fuß im mah­len­den San­de, bis er auf die Feuch­tig­keit kam, die sich vor den Son­nen­strah­len und dem aus­dör­ren­den Win­de in die Tie­fe zu­rück­zog. Je kla­rer der Him­mel leuch­te­te, je be­wölk­ter wa­ren sei­ne Zü­ge, bis end­lich der er­sehn­te Re­gen kam, meh­re­re Ta­ge an­hielt und einen freund­li­chen Schein über sein ab­ge­welk­tes Ge­sicht ver­brei­te­te.

Die Kar­tof­feln muß­ten von ei­ner leicht­gläu­bi­gen und ver­trau­ens­se­li­gen Sor­te sein, denn sie lie­ßen sich durch die­sen Re­gen ver­lei­ten zu kei­men, nach ei­ni­ger Zeit streck­ten sie die ers­ten grü­nen Blät­ter aus dem San­de her­vor und schie­nen ge­son­nen, auch von den schwie­rigs­ten Um­stän­den sich nicht zu­rück­schre­cken zu las­sen. Ein war­mer Früh­ling und güns­ti­ge Re­gen­güs­se be­för­der­ten ihr Wachs­tum, und nun be­gann ei­ne neue Qual für den ar­men Schnei­der. Das bö­se Ge­wis­sen lei­te­te sei­ne Bli­cke mit dä­mo­ni­scher Macht im­mer auf ein­zel­ne sei­ner Pflan­zen, wel­che un­ter den an­de­ren durch ein vol­le­res Grün und üp­pi­ge­res Wachs­tum sich aus­zeich­ne­ten. Sei­ne Schuld wuchs aus dem Bo­den und je­des die­ser Ge­wäch­se war ei­ne grü­nen­de An­kla­ge.

Das Kar­tof­fel­kraut moch­te et­wa die Hö­he von drei Zoll er­reicht ha­ben, und der Schnei­der dach­te schon daran, ob es wohl Zeit sei zu häu­feln, da trat ei­ne große Dür­re ein. Der Him­mel glänz­te wie po­liert her­nie­der und ei­ne un­er­bitt­li­che Son­ne brann­te Tag für Tag auf das un­be­schütz­te Feld. Zu­wei­len rot­te­ten sich nach Mit­tag ei­ni­ge un­ter­neh­men­de Wol­ken zu­sam­men und ver­such­ten einen klei­nen An­griff; al­lein am Abend ga­ben sie scham­rot den Ver­such auf und die Son­ne ging sieg­reich un­ter. Ein­mal ge­lang es ih­nen, sich zu ei­nem Ku­mu­lus zu ver­ei­ni­gen, aber sie schie­nen we­nig Ver­trau­en in sich zu set­zen und hat­ten es sehr ei­lig. Im has­ti­gen Vor­über­schwe­ben be­kam das Sand­feld auch sei­nen Tri­but, ei­ni­ge schwe­re Trop­fen fie­len puff, puff auf das aus­ge­dörr­te Land, und je­der er­zeug­te ei­ne klei­ne Staub­wol­ke um sich her. Nach fünf Mi­nu­ten hat­te die gie­ri­ge Son­ne al­les wie­der auf­ge­so­gen. Bald war das gan­ze Land fuß­tief in ein fei­nes Pul­ver ver­wan­delt, das Kar­tof­fel­kraut nahm ei­ne gelb­grü­ne Farbe an und leg­te sich. Jetzt muß­te ein schwe­rer, nach­hal­ti­ger Re­gen kom­men, oder al­les war ver­lo­ren.

Das Queck­sil­ber des Ba­ro­me­ters, das wo­chen­lang mit ei­ner klei­nen Kup­pe ge­ziert zu im­mer hei­te­re­ren Hö­hen auf­ge­stie­gen war, fing plötz­lich an zu sin­ken. Dann ei­nes Mit­tags zog ein ge­wal­ti­ges Ge­wit­ter her­auf, blieb je­doch in der Fer­ne ste­hen und sand­te nur einen mäch­ti­gen Sturm her­über. Al­lent­hal­ben in der Wei­te sah man in dunklen Strei­fen den Re­gen aus dem Ge­wölk her­nie­der­ge­hen, nur hier war wei­ter nichts als das flat­tern­de Äch­zen der Bäu­me, und die We­ge, wel­che in die Stadt führ­ten, stan­den wie lan­ge, wo­gen­de Staub­mau­ern in der Land­schaft.

Am Nach­mit­tag konn­te der Schnei­der es nicht län­ger aus­hal­ten und mach­te sich auf nach sei­nem Acker. Ein brei­ter gelb­li­cher Streif zeig­te sich ihm an der Stel­le, wo er sonst hin­ter dem Fel­de den dunklen Wald zu se­hen die Be­rech­ti­gung hat­te. Schlim­me Ah­nung be­flü­gel­te sei­ne Schrit­te, und als er na­he ge­nug war, zeig­te es sich, daß sie ihn nicht be­trog.

Das Schreck­lichs­te, das ei­nem Men­schen, der auf Sand­fel­der sei­ne Hoff­nung setzt, ge­sche­hen kann, war ein­ge­trof­fen. Sein Acker be­fand sich auf Rei­sen. Mit dem fröh­li­chen Leicht­sinn und der ge­rin­gen An­häng­lich­keit an die Hei­mat, wel­che die­sem Bo­den ei­gen ist, be­nutz­te er die güns­ti­ge Ge­le­gen­heit, an­de­re Ge­gen­den und fremde Län­der zu se­hen, aufs be­reit­wil­ligs­te. Der ar­me al­te Schnei­der stieg auf den Sand­berg und schau­te stumm in das grau­si­ge Trei­ben. Es war heu­te ei­ner der Glanz­ta­ge des klei­nen Hü­gels; er konn­te dann im Stolz auf sei­ne Pro­teus­na­tur stets sa­gen: »Wer ist un­ter den Sterb­li­chen, der mich kennt, wie ich jetzt bin und wer un­ter ih­nen dürf­te es wa­gen zu be­haup­ten, daß er mich ken­nen wird, wie ich mor­gen sein wer­de?« Er hat­te sei­ne Ab­nah­me- und Zu­nah­me­ta­ge, heu­te war das letz­te­re der Fall und der Schnei­der saß be­reits im wah­ren Sin­ne des Wor­tes auf den Trüm­mern sei­ner Hoff­nung. Und der Wind heul­te und wü­te­te in dem flie­gen­den Fel­de, hier häuf­te er Sand­we­hen auf, die je­de Spur von Grün ver­schlan­gen, dort ent­blö­ßte er er­bar­mungs­los die ar­men wel­ken Pflan­zen bis auf die Wur­zel, und über dem Gan­zen schweb­te, stets wal­lend und wech­selnd, die dich­te, ho­he gelb­graue Wol­ke. Am Abend, als es schon zu spät war, kam das Ge­wit­ter her­auf, ein ge­wal­ti­ger Platz­re­gen ent­lud sich und jag­te un­ter Don­ner und Blitz den ar­men durch­näß­ten Schnei­der wie­der nach Hau­se.

Von die­sem Schla­ge er­hol­te er sich nicht mehr. Hat­te er sich nun bei die­ser Ge­le­gen­heit er­käl­tet, oder hat­te Ge­müts­be­we­gung sei­ne Ge­sund­heit zer­rüt­tet, er ver­fiel bald dar­auf in ei­ne hef­ti­ge Krank­heit und nach ein paar Ta­gen war er be­gra­ben. Aber selbst im Gra­be hat­te sein ar­mer Geist kei­ne Ru­he. Er um­flat­ter­te und um­schweb­te noch im­mer die Stät­te sei­ner Sor­ge und sei­ner Schuld, und in­dem er die feins­ten äthe­ri­schen Düns­te aus der Luft an sich zog, ver­dich­te­te er sich all­mäh­lich zum Ge­spenst.

Es möch­te an der Zeit sein, die viel­fa­chen und be­dau­er­li­chen Irr­tü­mer, wel­che über die Na­tur der Ge­spens­ter ver­brei­tet sind, ein­mal nä­her zu be­leuch­ten. Ei­ne der ro­he­s­ten An­schau­un­gen lau­tet: Ein Ge­spenst ist ei­ne Ge­stalt in ei­nem wei­ßen Bett­la­ken, wel­che nachts zwi­schen zwölf und ein Uhr Un­fug treibt. Ich ver­mu­te, daß die­se Fa­bel von ei­nem Lieb­ha­ber er­fun­den ist, den sein Ne­ben­buh­ler des Nachts in die­ser Ver­mum­mung durch­ge­prü­gelt hat. Schon der all­ge­mei­ne Glau­be, daß ein Ge­spenst sich an ge­wis­se eng­um­schrie­be­ne Nacht­stun­den bin­det, zeugt von ei­ner be­trü­ben­den Un­kennt­nis der wirk­li­chen Ver­hält­nis­se. Ich glau­be des Dan­kes un­se­rer ver­stor­be­nen Mit­bür­ger, wel­che das Schick­sal ge­nö­tigt hat, sich die­sem we­nig be­frie­di­gen­den Be­ruf zu wid­men, ge­wiß zu sein, wenn ich die Er­geb­nis­se mei­nes ein­ge­hen­den Stu­di­ums über die Na­tur und die Ei­gen­schaf­ten der Ge­spens­ter zur all­ge­mei­nen Kennt­nis brin­ge. Viel­leicht ge­schieht dies am bes­ten, wenn ich ganz ein­fach in mei­ner Ge­schich­te fort­fah­re und die wei­te­ren Schick­sa­le, wel­che den ar­men al­ten Schnei­der in sei­ner neu­en Lauf­bahn tra­fen, ans Licht der Öf­fent­lich­keit zie­he.

Sein Geist war al­so zu dem An­fang al­les wirk­li­chen Ge­spens­ter­tums ge­langt, er hat­te wie­der ei­ne sicht­ba­re Hül­le an­ge­nom­men. Die­se Hül­le war ein fei­ner äthe­ri­scher Dunst, der die Um­ris­se sei­nes ver­stor­be­nen Kör­pers trug, und zwar mit der Klei­dung, wel­che er im Hau­se zu tra­gen ge­wohnt war, die in Schlapp­schu­hen, ei­nem Paar Un­ter­ho­sen, ei­ner Fla­nell­ja­cke und ei­ner baum­wol­le­nen Zip­fel­müt­ze be­stand. Man darf es glau­ben, es war ein recht ar­mes, al­tes, küm­mer­li­ches Ge­spenst. Gar oft saß es an stil­len, hei­ßen Som­mer­ta­gen auf dem klei­nen Sand­hü­gel auf den Wur­zeln der al­ten knor­ri­gen Kie­fer und späh­te nach sei­nem Schat­ten, der nicht vor­han­den war. Ja selbst sei­nen ei­ge­nen Dunst­kör­per konn­te es zu sol­cher Zeit nicht er­bli­cken, und es ge­hört zu den nie­der­drückends­ten Ge­füh­len von der Welt, daß man die gan­ze Um­ge­bung rings­um­her zu se­hen ver­mag, nur die ei­ge­ne Hand nicht, auch wenn man sie sich dicht vor die Au­gen hält. Nur in der Nacht bei Mond­schein ge­gen einen dunklen Hin­ter­grund ge­se­hen, ward es sich und an­de­ren sicht­bar, auch leuch­ten die Ge­spens­ter mit ei­nem mat­ten phos­pho­ri­gen Schim­mer, der sich nur zur Nacht­zeit of­fen­bart. Aus die­sen bis jetzt nicht be­kann­ten Ei­gen­schaf­ten ist wahr­schein­lich zu er­klä­ren, daß sich so vie­le ir­ri­ge Mei­nun­gen über die Er­schei­nungs­zeit der Ge­spens­ter ge­bil­det ha­ben.

Die größ­te Pla­ge für den ar­men, un­glück­li­chen Schnei­der war die Lan­ge­wei­le, die ent­setz­li­che, bo­den­lo­se, ewi­ge Lan­ge­wei­le, wel­che sich sei­ner be­mäch­tig­te. Oh­ne Schlaf, oh­ne Ab­wechs­lung, ewig Tag und Nacht ru­he­los auf dem klei­nen Sand­fel­de um­her­ge­trie­ben, dehn­ten sich ihm die Stun­den zu end­lo­ser Län­ge. Da­zu ward er von ge­spens­ti­schen Emp­fin­dun­gen sei­ner frü­he­ren mensch­li­chen Nei­gun­gen ge­plagt. Er emp­fand zu den be­stimm­ten Zei­ten einen ge­spens­ti­schen Hun­ger und Durst, ei­ne ge­spens­ti­sche Mü­dig­keit, oh­ne das Ver­mö­gen zu ha­ben, die­se Trie­be zu be­frie­di­gen.

Am Ta­ge saß er, wie ge­sagt, gern auf dem klei­nen Hü­gel und späh­te dann in die Land­schaft hin­aus und zu der Stadt hin­über, die fern hin­ter dem Wie­sen­grun­de zwi­schen Bäu­men ver­steckt lag, oder er wan­der­te ru­he­los an der längst ver­weh­ten Schei­de, wel­che die bei­den ver­häng­nis­vol­len Acker einst trenn­te, auf und ab. Die klei­nen blau­en Schmet­ter­lin­ge, wel­che über dem Hei­de­kraut ihr We­sen trie­ben, flo­gen un­ge­hin­dert durch ihn hin­durch, und ei­nes Ta­ges, als er ge­ra­de so stand, daß ein dür­rer Zweig in sei­nen Leib hin­ein­rag­te, kam ein klei­ner Vo­gel ge­flo­gen, setz­te sich auf die­sen Zweig und sang. Das Tier saß ge­nau in sei­nem Ma­gen, oh­ne auch nur das ge­rings­te da­von zu be­mer­ken.

Ei­ne an­de­re Pein für den ar­men Schnei­der war, daß nie­mals des Nachts ein Mensch in die­se Ge­gend kam, wel­chem ge­gen­über er in sei­nem Be­ruf hät­te ar­bei­ten kön­nen. Wenn er auch nur ein ar­mes, al­tes und sehr küm­mer­li­ches Ge­spenst war, so hat­te er doch den Ehr­geiz sei­nes neu­en Stan­des und es hät­te ihm wohl­ge­tan, was er im Le­ben nie er­reicht hat­te, näm­lich einen Men­schen fürch­ten zu ma­chen, nach sei­nem To­de noch ge­lin­gen zu se­hen. Aber die Ge­gend war wüst und ein­sam, es hat­te am Ta­ge nie­mand dort zu tun, und noch we­ni­ger des Nachts. So kam zu al­lem noch der na­gen­de Kum­mer ei­nes ver­fehl­ten Be­ru­fes und das nie­der­schla­gen­de Be­wußt­sein, für den bes­ten Wil­len in der Welt oh­ne An­er­ken­nung zu blei­ben.

Aber die Zeit mag noch so lang­sa­men Schne­cken­gan­ges ge­hen – sie geht doch we­nigs­tens, aus Wo­chen wur­den Mo­na­te, aus Mo­na­ten Jah­re, und im­mer noch schweb­te das ar­me al­te Ge­spenst ein­sam, ver­las­sen, oh­ne An­er­ken­nung an dem al­ten Ort.

Doch end­lich in ei­ner wun­der­vol­len, mond­hel­len Som­mer­nacht soll­te der lang­ge­heg­te Wunsch in Er­fül­lung ge­hen. Der ge­spens­ti­sche Schnei­der saß ge­ra­de wie­der auf sei­nem Hü­gel, da hör­te sein fei­nes Ohr im Wal­de ein Ge­räusch, und kur­ze Zeit dar­auf sah er ei­ne mensch­li­che Ge­stalt, vom Mon­de hell be­leuch­tet, auf das Sand­feld her­austre­ten. Die Ge­stalt schau­te sich um und schritt dann auf den Hü­gel zu. Es schi­en ein Stu­dent zu sein, wie sich beim Nä­her­kom­men zeig­te; er trug ei­ne bun­te Müt­ze und ei­ne leich­te Wan­der­ta­sche. Das Ge­spenst zit­ter­te an al­len Glie­dern vor Auf­re­gung, es mach­te sich so lang es konn­te, ver­such­te sich ein we­nig auf­zu­bla­sen und be­müh­te sich, schreck­lich zu sein. In­fol­ge­des­sen sah es über al­le Be­grif­fe ko­misch aus. Das fand auch der lus­ti­ge Stu­dent, denn er lach­te, als er es er­blick­te und rief: »Gu­ten Abend, al­tes Ge­spenst, könnt Ihr mir nicht sa­gen, wo der Weg zur Stadt geht, ich ha­be mich ver­irrt!«

Das Schreck­li­che, was der ar­me Schnei­der im ge­hei­men ge­fürch­tet hat­te, das Jäm­mer­lichs­te, wel­ches sei­nem Stan­de be­geg­nen konn­te, war ein­ge­trof­fen, der ers­te Mensch, wel­cher ihn sah, fürch­te­te sich nicht ein­mal vor ihm. Doch so leicht woll­te er es nicht auf­ge­ben und noch ein­mal blies er sich auf, ver­zerr­te sei­ne Zü­ge und be­gann fei­er­lich auf den Stu­den­ten los­zu­schrei­ten. Doch die­ser lach­te wie­der und sprach: »Ach laßt das nur. al­ter Herr, es klei­det Euch nicht. Ihr habt Eu­ern Be­ruf ver­fehlt. Warum habt Ihr kein an­de­res Me­tier er­grif­fen,– als Ge­spenst wer­det Ihr es nie zu et­was brin­gen!«

Das war zu­viel für den ar­men Schnei­der, er stieß einen weh­mü­ti­gen Kla­ge­laut aus, sank auf ei­ne Baum­wur­zel nie­der und ver­barg das Ge­sicht in bei­den Hän­den. Der Stu­dent war ei­ne mit­lei­di­ge See­le.

»Was habt Ihr denn, al­tes Phan­tom?« frag­te er liebreich und setz­te sich zu ihm, »wenn ich Euch hel­fen kann, so tue ich es gern, ich ha­be zu Ber­lin die Schwarz­kunst stu­diert und fürch­te mich vor nichts.« Der Stu­dent re­de­te ihm so freund­lich zu, daß der ar­me al­te Schnei­der das Ge­spenst der Rüh­rung emp­fand und al­les her­un­ter­beich­te­te, was er auf der See­le hat­te. Es war das ers­te­mal, daß er sei­ne Schuld of­fen­bar­te. Und wie er sprach und sich selbst an­klag­te, ward sei­ne Dunst­ge­stalt im­mer blas­ser und blas­ser und die letz­ten Wor­te er­schall­ten nur noch wie aus lee­rer Luft. Das blo­ße Ge­ständ­nis hat­te ihn be­freit. Dann hör­te der Stu­dent es in ei­ni­ger Ent­fer­nung aus den Lüf­ten tö­nen: »Dank, Dank, du hast mich er­löst.« Dann von Zeit zu Zeit, aus der Rich­tung, wo die Stadt lag, kam im­mer fer­ner und lei­ser ein Ruf: »Dank … Dank … Dank!« Zu­letzt nur noch wie ein Hauch, dann war al­les rund­her­um still.

Der Stu­dent saß lan­ge nach­denk­lich auf dem Hü­gel und schau­te der Rich­tung nach, wo er die Stim­me zu­letzt ge­hört hat­te. Im Os­ten rö­te­te sich der Him­mel, und als die Son­ne em­por­stieg und rings al­les wie­der im glän­zen­den Licht dalag, brach er einen Zweig von der al­ten Kie­fer, steck­te ihn an sei­ne Müt­ze und wan­der­te auf die Stadt zu, wel­che im Schim­mer der Mor­gen­son­ne vor ihm lag.