Das arme alte
Gespenst
von
Heinrich Seidel
Heinrich Seidel (1842-1906) war ein Erzähler humorvoller Kleinstadtidyllen und liebenswerter Vorstadtgeschichten, der mit seinen Erzählungen um Leberecht Hühnchen hohe Auflagen erzielte. Er arbeitete nach einem polytechnischen Studium zuerst als Ingenieur und machte sich als Konstrukteur des Hallendaches über dem Anhalter Bahnhof einen Namen, bevor er sich seit 1880 ganz der freien Schriftstellerei widmete. Auch seine kleine Gespenstergeschichte zeichnet sich durch liebenswerten Humor aus.
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Am Rande des Kiefernwaldes lag ein wüstes, sandiges Feld. Es war ganz sich selber überlassen; es wuchs darauf, was wollte, und das war recht wenig, denn es gehörte viel guter Wille dazu, auf diesem Felde zu gedeihen. Einige kegelförmige Wacholderbüsche hatten mit zäher Energie es vor sich gebracht und zeigten sich von ferne gesehen als einzelne dunkle Gestalten darüber zerstreut, scheinbar in trauriges Nachdenken versunken über ihren trübseligen Beruf. Eine tapfere und listige Sorte von Sandgras, das unter der Oberfläche in sicherer Tiefe strahlenförmig lange schnurgerade Schossen treibt und aus diesen in abgemessenen Entfernungen seine spitzigen Blätter emporsendet, hatte einzelne Strecken übersponnen, an geschützteren Orten hatte rötliches Heidekraut zu kleinen Flächen sich zusammengedrängt, und auf einem niedrigen Sandhügel stand eine knorrige, verkrüppelte Kiefer, bald mit bloßgelegten Wurzeln, bald auch wieder fußtief im Sande vergraben, je nach des regierenden Windes allmächtiger Herrscherlaune. Dieser kleine Sandhügel, der an sonnenhellen Tagen als ein blendender Punkt in der ebenen Landschaft weithin sichtbar war, hatte sich noch nicht für seine endgültige Form entschieden, und unter Beihilfe gütiger Luftströmungen sich in immer neuen Gestalten der erstaunten Umgebung zu zeigen, war sein unablässiges Bestreben.
Der Fleck war einsam und lag an der letzten Grenze der Stadtfelder; niemand suchte dort etwas, weil dort nichts zu finden war. Eine kurze Zeitlang war es anders gewesen, bald nach der Abholzung des kümmerlichen Waldes, der vor Jahren dort gestanden hatte. Es ward bekanntgemacht, daß die Bürger der Stadt an dieser Stelle gegen eine ganz geringe Gegenleistung Kartoffelland erhalten könnten, und es fanden sich zwei Nachbarn, deren Herzen dies Anerbieten mit vagen Hoffnungen und hochfliegenden Spekulationen erfüllte und die in wunderbarer Verblendung von diesem ›Urboden‹ eine üppige Ernte erwarteten. Weise Männer zuckten die Achseln, gewichtige Ackerbürger gaben abmahnende Ratschläge aus dem reichen Schatz ihrer Erfahrung, allein der Dämon der Habgier hatte die Herzen der beiden Männer verhärtet, also daß ihr Sinn verblendet war.
Eines Tages ließ der eine derselben, ein Schuster, sämtliche landwirtschaftlichen Schätze, welche seine fleißige Kuh den Winter über produziert hatte, aufladen und hinausfahren. Er schwang selber die dreizinkige Gabel und schaute mit Befriedigung auf den reichen Segen, der ihm verheißend entgegendampfte.
Am anderen Tag fand bei dem Nachbar Schneider ein ähnliches Ereignis statt. Aber ach, es war nur eine Karikatur dessen, was wir vorhin gesehen haben. Der arme Schneider hatte es nur zu einem Exemplar jenes Tieres bringen können, dessen männliche Mitglieder von alters her zum Schneiderstand in einer von gewissenlosen Spöttern vielfach ausgenutzten Beziehung stehen, und wer die geringen Leistungen dieses Vierfüßlers für den vorliegenden Zweck aus eigener Anschauung kennt, der wird es begreiflich finden, daß der dünne Schneider und seine kümmerliche Ehehälfte es vermochten, im Laufe des Tages auf zwei Handkarren die ganze wohlzusammengesparte Sammlung auf den Acker zu befördern. Seufzend betrachtete das Ehepaar dort den in üppigen Hügeln sich darstellenden Reichtum des Nachbarn – ach, ungleich verteilt sind die Güter dieser Welt!
Nach einigen Tagen ging der Schneider wieder hinaus, um sein Land umzugraben. Wohlausgebreitet, einer Samtdecke vergleichbar, lag jetzt das nachbarliche Gut auf dem Felde. Der Schneider seufzte wieder und begann seine Arbeit. Aber der kräftige Duft, der vom Nebenlande zu ihm herüberwehte, ließ ihm keine Ruhe und befruchtete seine Fantasie. Er sah im Geiste beide Felder nebeneinanderliegen, das eine grün und üppig bewaldet, daß man den Grund nicht sah, das andere mit niedrigen, gelbgrünen Büschen besetzt, so daß man sie vergleichen konnte den beiden Tieren, welche so fleißig für ihr Gedeihen gearbeitet hatten. Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe und zu dem Dämon der Habsucht gesellte sich der des Neides. Und aus beider Vermählung ward die Untat geboren, welche dem armen Schneider so verhängnisvoll werden sollte. Er war der ehrlichste Schneider von der Welt gewesen, und seine Hölle war leer geblieben bis auf diesen Tag. Selbst als er dem reichen durchreisenden Herrn den Rock gemacht hatte von dem feinsten Tuche der Welt, dergleichen er nie zuvor und nie nachdem gesehen hatte, behielt er nichts zurück, als, mit Erlaubnis des Fremden, ein kleines Fleckchen, das ihm für diesen meteorglänzenden Höhepunkt seiner Laufbahn als Beweisstück diente. Es lag zu Hause, in sieben Papiere eingewickelt, wohlverwahrt in einer Schachtel. Aber der Mensch soll sich hüten, bösen Leidenschaften die Einkehr in sein Herz zu gestatten.
Er hatte aufgehört zu graben und sah sich vorsichtig um, dann stieg er auf einen Stein und reckte sich und schaute in die Ferne, daß er mit seiner dünnen Gestalt wie ein einsames Ausrufungszeichen in der Landschaft stand. Aber es war ringsherum niemand zu sehen, nur ein in Nahrungssorgen vertiefter Storch stelzte in einem fernen Wiesengrunde umher. Der Schneider brachte einen Busch zwischen sich und diesen Storch und schaute wieder auf den Nebenacker. Wie das köstlich und verheißungsvoll dalag! Dann sah er sich noch einmal vorsichtig um und schlich auf das schüsterliche Feld. Nach kurzer Prüfung schob er sein Grabscheit behutsam unter eines jener flachen Gebilde, welche, wie allgemein bekannt, nur der Kuh in dieser Vollendung gelingen und schleuderte es auf seinen Acker. Eine geschickte Verteilung des umherliegenden Materials ließ die entstandene Lücke verschwinden, und bald war die letzte Spur der Tat unter dem Sande verborgen. Mit einem Male geschah ein Klappern auf der Wiese, der Storch hüpfte mit ausgestreckten Beinen eine Weile über das Gras, hob sich dann empor und flog auf die Stadt zu. Der Schneider schrak zusammen und zitterte, ihm war, als habe der kluge Vogel alles gesehen und eile ihn anzuklagen. Doch der Schreck legte sich, und da nun der erste Schritt getan war, so folgten ihm noch manche andere, wobei der vorsichtige Schatzdieb jedoch allemal bestrebt war, die Spuren seiner Tat sorglich zu verbergen.
Sie blieb auch unentdeckt. Am anderen Tage schickte der Schuster seine Gesellen und sein Mädchen hinaus, und diese gruben wohlgemut den Acker um, ohne im geringsten an dergleichen zu denken. Dem armen Schneider fiel ein Stein vom Herzen, als in der nächsten Zeit alles still blieb. Die Ruhe seines Gemüts aber war und blieb verschwunden. Es war, als ob ein dämonisches Etwas ihn immer zu dem Kartoffelfelde hinzöge, wo die Jungfräulichkeit seiner ehrlichen Gesinnung neben so geringfügigen und niedrigen Gegenständen begraben lag. Des Abends, wenn es dunkel ward, sah man ihn den Feldweg entlang schleichen und in den Himmel nach Wolken spähen. Von Zeit zu Zeit bohrte er mit dem Fuß im mahlenden Sande, bis er auf die Feuchtigkeit kam, die sich vor den Sonnenstrahlen und dem ausdörrenden Winde in die Tiefe zurückzog. Je klarer der Himmel leuchtete, je bewölkter waren seine Züge, bis endlich der ersehnte Regen kam, mehrere Tage anhielt und einen freundlichen Schein über sein abgewelktes Gesicht verbreitete.
Die Kartoffeln mußten von einer leichtgläubigen und vertrauensseligen Sorte sein, denn sie ließen sich durch diesen Regen verleiten zu keimen, nach einiger Zeit streckten sie die ersten grünen Blätter aus dem Sande hervor und schienen gesonnen, auch von den schwierigsten Umständen sich nicht zurückschrecken zu lassen. Ein warmer Frühling und günstige Regengüsse beförderten ihr Wachstum, und nun begann eine neue Qual für den armen Schneider. Das böse Gewissen leitete seine Blicke mit dämonischer Macht immer auf einzelne seiner Pflanzen, welche unter den anderen durch ein volleres Grün und üppigeres Wachstum sich auszeichneten. Seine Schuld wuchs aus dem Boden und jedes dieser Gewächse war eine grünende Anklage.
Das Kartoffelkraut mochte etwa die Höhe von drei Zoll erreicht haben, und der Schneider dachte schon daran, ob es wohl Zeit sei zu häufeln, da trat eine große Dürre ein. Der Himmel glänzte wie poliert hernieder und eine unerbittliche Sonne brannte Tag für Tag auf das unbeschützte Feld. Zuweilen rotteten sich nach Mittag einige unternehmende Wolken zusammen und versuchten einen kleinen Angriff; allein am Abend gaben sie schamrot den Versuch auf und die Sonne ging siegreich unter. Einmal gelang es ihnen, sich zu einem Kumulus zu vereinigen, aber sie schienen wenig Vertrauen in sich zu setzen und hatten es sehr eilig. Im hastigen Vorüberschweben bekam das Sandfeld auch seinen Tribut, einige schwere Tropfen fielen puff, puff auf das ausgedörrte Land, und jeder erzeugte eine kleine Staubwolke um sich her. Nach fünf Minuten hatte die gierige Sonne alles wieder aufgesogen. Bald war das ganze Land fußtief in ein feines Pulver verwandelt, das Kartoffelkraut nahm eine gelbgrüne Farbe an und legte sich. Jetzt mußte ein schwerer, nachhaltiger Regen kommen, oder alles war verloren.
Das Quecksilber des Barometers, das wochenlang mit einer kleinen Kuppe geziert zu immer heitereren Höhen aufgestiegen war, fing plötzlich an zu sinken. Dann eines Mittags zog ein gewaltiges Gewitter herauf, blieb jedoch in der Ferne stehen und sandte nur einen mächtigen Sturm herüber. Allenthalben in der Weite sah man in dunklen Streifen den Regen aus dem Gewölk herniedergehen, nur hier war weiter nichts als das flatternde Ächzen der Bäume, und die Wege, welche in die Stadt führten, standen wie lange, wogende Staubmauern in der Landschaft.
Am Nachmittag konnte der Schneider es nicht länger aushalten und machte sich auf nach seinem Acker. Ein breiter gelblicher Streif zeigte sich ihm an der Stelle, wo er sonst hinter dem Felde den dunklen Wald zu sehen die Berechtigung hatte. Schlimme Ahnung beflügelte seine Schritte, und als er nahe genug war, zeigte es sich, daß sie ihn nicht betrog.
Das Schrecklichste, das einem Menschen, der auf Sandfelder seine Hoffnung setzt, geschehen kann, war eingetroffen. Sein Acker befand sich auf Reisen. Mit dem fröhlichen Leichtsinn und der geringen Anhänglichkeit an die Heimat, welche diesem Boden eigen ist, benutzte er die günstige Gelegenheit, andere Gegenden und fremde Länder zu sehen, aufs bereitwilligste. Der arme alte Schneider stieg auf den Sandberg und schaute stumm in das grausige Treiben. Es war heute einer der Glanztage des kleinen Hügels; er konnte dann im Stolz auf seine Proteusnatur stets sagen: »Wer ist unter den Sterblichen, der mich kennt, wie ich jetzt bin und wer unter ihnen dürfte es wagen zu behaupten, daß er mich kennen wird, wie ich morgen sein werde?« Er hatte seine Abnahme- und Zunahmetage, heute war das letztere der Fall und der Schneider saß bereits im wahren Sinne des Wortes auf den Trümmern seiner Hoffnung. Und der Wind heulte und wütete in dem fliegenden Felde, hier häufte er Sandwehen auf, die jede Spur von Grün verschlangen, dort entblößte er erbarmungslos die armen welken Pflanzen bis auf die Wurzel, und über dem Ganzen schwebte, stets wallend und wechselnd, die dichte, hohe gelbgraue Wolke. Am Abend, als es schon zu spät war, kam das Gewitter herauf, ein gewaltiger Platzregen entlud sich und jagte unter Donner und Blitz den armen durchnäßten Schneider wieder nach Hause.
Von diesem Schlage erholte er sich nicht mehr. Hatte er sich nun bei dieser Gelegenheit erkältet, oder hatte Gemütsbewegung seine Gesundheit zerrüttet, er verfiel bald darauf in eine heftige Krankheit und nach ein paar Tagen war er begraben. Aber selbst im Grabe hatte sein armer Geist keine Ruhe. Er umflatterte und umschwebte noch immer die Stätte seiner Sorge und seiner Schuld, und indem er die feinsten ätherischen Dünste aus der Luft an sich zog, verdichtete er sich allmählich zum Gespenst.
Es möchte an der Zeit sein, die vielfachen und bedauerlichen Irrtümer, welche über die Natur der Gespenster verbreitet sind, einmal näher zu beleuchten. Eine der rohesten Anschauungen lautet: Ein Gespenst ist eine Gestalt in einem weißen Bettlaken, welche nachts zwischen zwölf und ein Uhr Unfug treibt. Ich vermute, daß diese Fabel von einem Liebhaber erfunden ist, den sein Nebenbuhler des Nachts in dieser Vermummung durchgeprügelt hat. Schon der allgemeine Glaube, daß ein Gespenst sich an gewisse engumschriebene Nachtstunden bindet, zeugt von einer betrübenden Unkenntnis der wirklichen Verhältnisse. Ich glaube des Dankes unserer verstorbenen Mitbürger, welche das Schicksal genötigt hat, sich diesem wenig befriedigenden Beruf zu widmen, gewiß zu sein, wenn ich die Ergebnisse meines eingehenden Studiums über die Natur und die Eigenschaften der Gespenster zur allgemeinen Kenntnis bringe. Vielleicht geschieht dies am besten, wenn ich ganz einfach in meiner Geschichte fortfahre und die weiteren Schicksale, welche den armen alten Schneider in seiner neuen Laufbahn trafen, ans Licht der Öffentlichkeit ziehe.
Sein Geist war also zu dem Anfang alles wirklichen Gespenstertums gelangt, er hatte wieder eine sichtbare Hülle angenommen. Diese Hülle war ein feiner ätherischer Dunst, der die Umrisse seines verstorbenen Körpers trug, und zwar mit der Kleidung, welche er im Hause zu tragen gewohnt war, die in Schlappschuhen, einem Paar Unterhosen, einer Flanelljacke und einer baumwollenen Zipfelmütze bestand. Man darf es glauben, es war ein recht armes, altes, kümmerliches Gespenst. Gar oft saß es an stillen, heißen Sommertagen auf dem kleinen Sandhügel auf den Wurzeln der alten knorrigen Kiefer und spähte nach seinem Schatten, der nicht vorhanden war. Ja selbst seinen eigenen Dunstkörper konnte es zu solcher Zeit nicht erblicken, und es gehört zu den niederdrückendsten Gefühlen von der Welt, daß man die ganze Umgebung ringsumher zu sehen vermag, nur die eigene Hand nicht, auch wenn man sie sich dicht vor die Augen hält. Nur in der Nacht bei Mondschein gegen einen dunklen Hintergrund gesehen, ward es sich und anderen sichtbar, auch leuchten die Gespenster mit einem matten phosphorigen Schimmer, der sich nur zur Nachtzeit offenbart. Aus diesen bis jetzt nicht bekannten Eigenschaften ist wahrscheinlich zu erklären, daß sich so viele irrige Meinungen über die Erscheinungszeit der Gespenster gebildet haben.
Die größte Plage für den armen, unglücklichen Schneider war die Langeweile, die entsetzliche, bodenlose, ewige Langeweile, welche sich seiner bemächtigte. Ohne Schlaf, ohne Abwechslung, ewig Tag und Nacht ruhelos auf dem kleinen Sandfelde umhergetrieben, dehnten sich ihm die Stunden zu endloser Länge. Dazu ward er von gespenstischen Empfindungen seiner früheren menschlichen Neigungen geplagt. Er empfand zu den bestimmten Zeiten einen gespenstischen Hunger und Durst, eine gespenstische Müdigkeit, ohne das Vermögen zu haben, diese Triebe zu befriedigen.
Am Tage saß er, wie gesagt, gern auf dem kleinen Hügel und spähte dann in die Landschaft hinaus und zu der Stadt hinüber, die fern hinter dem Wiesengrunde zwischen Bäumen versteckt lag, oder er wanderte ruhelos an der längst verwehten Scheide, welche die beiden verhängnisvollen Acker einst trennte, auf und ab. Die kleinen blauen Schmetterlinge, welche über dem Heidekraut ihr Wesen trieben, flogen ungehindert durch ihn hindurch, und eines Tages, als er gerade so stand, daß ein dürrer Zweig in seinen Leib hineinragte, kam ein kleiner Vogel geflogen, setzte sich auf diesen Zweig und sang. Das Tier saß genau in seinem Magen, ohne auch nur das geringste davon zu bemerken.
Eine andere Pein für den armen Schneider war, daß niemals des Nachts ein Mensch in diese Gegend kam, welchem gegenüber er in seinem Beruf hätte arbeiten können. Wenn er auch nur ein armes, altes und sehr kümmerliches Gespenst war, so hatte er doch den Ehrgeiz seines neuen Standes und es hätte ihm wohlgetan, was er im Leben nie erreicht hatte, nämlich einen Menschen fürchten zu machen, nach seinem Tode noch gelingen zu sehen. Aber die Gegend war wüst und einsam, es hatte am Tage niemand dort zu tun, und noch weniger des Nachts. So kam zu allem noch der nagende Kummer eines verfehlten Berufes und das niederschlagende Bewußtsein, für den besten Willen in der Welt ohne Anerkennung zu bleiben.
Aber die Zeit mag noch so langsamen Schneckenganges gehen – sie geht doch wenigstens, aus Wochen wurden Monate, aus Monaten Jahre, und immer noch schwebte das arme alte Gespenst einsam, verlassen, ohne Anerkennung an dem alten Ort.
Doch endlich in einer wundervollen, mondhellen Sommernacht sollte der langgehegte Wunsch in Erfüllung gehen. Der gespenstische Schneider saß gerade wieder auf seinem Hügel, da hörte sein feines Ohr im Walde ein Geräusch, und kurze Zeit darauf sah er eine menschliche Gestalt, vom Monde hell beleuchtet, auf das Sandfeld heraustreten. Die Gestalt schaute sich um und schritt dann auf den Hügel zu. Es schien ein Student zu sein, wie sich beim Näherkommen zeigte; er trug eine bunte Mütze und eine leichte Wandertasche. Das Gespenst zitterte an allen Gliedern vor Aufregung, es machte sich so lang es konnte, versuchte sich ein wenig aufzublasen und bemühte sich, schrecklich zu sein. Infolgedessen sah es über alle Begriffe komisch aus. Das fand auch der lustige Student, denn er lachte, als er es erblickte und rief: »Guten Abend, altes Gespenst, könnt Ihr mir nicht sagen, wo der Weg zur Stadt geht, ich habe mich verirrt!«
Das Schreckliche, was der arme Schneider im geheimen gefürchtet hatte, das Jämmerlichste, welches seinem Stande begegnen konnte, war eingetroffen, der erste Mensch, welcher ihn sah, fürchtete sich nicht einmal vor ihm. Doch so leicht wollte er es nicht aufgeben und noch einmal blies er sich auf, verzerrte seine Züge und begann feierlich auf den Studenten loszuschreiten. Doch dieser lachte wieder und sprach: »Ach laßt das nur. alter Herr, es kleidet Euch nicht. Ihr habt Euern Beruf verfehlt. Warum habt Ihr kein anderes Metier ergriffen,– als Gespenst werdet Ihr es nie zu etwas bringen!«
Das war zuviel für den armen Schneider, er stieß einen wehmütigen Klagelaut aus, sank auf eine Baumwurzel nieder und verbarg das Gesicht in beiden Händen. Der Student war eine mitleidige Seele.
»Was habt Ihr denn, altes Phantom?« fragte er liebreich und setzte sich zu ihm, »wenn ich Euch helfen kann, so tue ich es gern, ich habe zu Berlin die Schwarzkunst studiert und fürchte mich vor nichts.« Der Student redete ihm so freundlich zu, daß der arme alte Schneider das Gespenst der Rührung empfand und alles herunterbeichtete, was er auf der Seele hatte. Es war das erstemal, daß er seine Schuld offenbarte. Und wie er sprach und sich selbst anklagte, ward seine Dunstgestalt immer blasser und blasser und die letzten Worte erschallten nur noch wie aus leerer Luft. Das bloße Geständnis hatte ihn befreit. Dann hörte der Student es in einiger Entfernung aus den Lüften tönen: »Dank, Dank, du hast mich erlöst.« Dann von Zeit zu Zeit, aus der Richtung, wo die Stadt lag, kam immer ferner und leiser ein Ruf: »Dank … Dank … Dank!« Zuletzt nur noch wie ein Hauch, dann war alles rundherum still.
Der Student saß lange nachdenklich auf dem Hügel und schaute der Richtung nach, wo er die Stimme zuletzt gehört hatte. Im Osten rötete sich der Himmel, und als die Sonne emporstieg und rings alles wieder im glänzenden Licht dalag, brach er einen Zweig von der alten Kiefer, steckte ihn an seine Mütze und wanderte auf die Stadt zu, welche im Schimmer der Morgensonne vor ihm lag.