Gäs­te zur Nacht
von
Alexander Puschkin

 

 

Das li­te­ra­ri­sche Werk Alex­an­der Pusch­kins (1799-1837) ist das tra­gen­de Fun­da­ment der rus­si­schen Li­te­ra­tur, die oh­ne ihn eben­so we­nig denk­bar wä­re wie oh­ne die rus­si­sche Spra­che. Pusch­kin war der ers­te wirk­lich na­tio­na­le Dich­ter Ruß­lands. Zu­nächst noch von Lord By­ron be­ein­flußt, wand­te er sich in sei­ner rei­fe­ren Schaf­fen­spe­ri­ode im­mer mehr der rus­si­schen Volks­poe­sie zu. Wie er sei­nen Lens­kij in dem Vers­ro­man ›Eu­gen One­gin‹ (1825, vollen­det 1830) im Du­ell mit One­gin hat­te ster­ben las­sen, so wur­de auch der Dich­ter selbst viel zu früh in ei­nem Du­ell ge­tö­tet.

 

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Das letz­te Ge­rüm­pel des Sarg­tisch­lers Adri­an Pro­cho­row wur­de auf den Lei­chen­wa­gen ge­la­den, und die bei­den ab­ge­ma­ger­ten Gäu­le schlepp­ten sich zum vier­ten­mal von der Bas­man­na­ja­stra­ße zur Ni­kits­ka­ja­stra­ße, wo­hin der al­te Meis­ter mit sei­nem gan­zen Haus­halt nebst Fa­mi­lie über­sie­del­te. Er sperr­te sei­nen aus­ge­räum­ten La­den zu, brach­te an der Tür einen Zet­tel an, dar­auf zu le­sen war, daß das Haus zu ver­kau­fen oder zu ver­mie­ten sei, und mach­te sich zu Fuß auf den Weg zu sei­ner neu­en Woh­nung.

Je mehr er sich dem gel­ben Häus­chen nä­her­te, das schon so lan­ge sei­ne Fan­ta­sie be­schäf­tigt und das er schließ­lich für ei­ne er­heb­li­che Sum­me er­wor­ben hat­te, de­sto stär­ker wur­de ihm zu sei­nem Er­stau­nen be­wußt, daß ihm der Um­zug gar kei­ne Freu­de be­rei­te­te. Als er über die un­ge­wohn­te Schwel­le trat und in den neu­en Räu­men ein heil­lo­ses Durch­ein­an­der vor­fand, seufz­te er und dach­te an sei­ne al­te Woh­nung zu­rück, wo acht­zehn Jah­re lang die strengs­te Ord­nung ge­herrscht hat­te. Er be­gann, auf sei­ne bei­den Töch­ter und das Dienst­mäd­chen zu schimp­fen, und mach­te sich selbst dar­an, ih­nen zu hel­fen.

Bald kam wie­der al­les in Ord­nung: Iko­nen- und Ge­schirr­schrank, Tisch, So­fa und Bett er­hiel­ten die ih­nen zu­ge­dach­ten Plät­ze im hin­te­ren Zim­mer; in der Kü­che und im Wohn­zim­mer wur­den sei­ne Er­zeug­nis­se un­ter­ge­bracht, Sär­ge al­ler Far­ben und Grö­ßen, fer­ner die Schrän­ke mit den schwar­zen Hü­ten, Trau­er­män­teln und Fa­ckeln. Über der Haus­tür hing ein Schild, auf dem ein mol­li­ger Amor mit ei­ner um­ge­kehr­ten Fa­ckel in der Hand ge­zeich­net war; dar­un­ter prang­te die Auf­schrift: ›Hier wer­den ein­fa­che und an­ge­stri­che­ne Sär­ge ver­kauft und be­schla­gen, ge­brauch­te ver­mie­tet und re­pa­riert‹

Die Mäd­chen gin­gen in die Stu­be, und Adri­an mach­te einen Rund­gang durch sein neu­es Haus. Dann setz­te er sich ans Fens­ter.

Man weiß, das Sha­ke­s­pea­re und Wal­ter Scott ih­re To­ten­grä­ber als fi­de­le Pos­sen­rei­ßer ge­schil­dert ha­ben, um durch die­sen Ge­gen­satz un­se­re Fan­ta­sie an­zu­re­gen. Aus Re­spekt vor der Wahr­heit kön­nen wir je­doch ih­rem Bei­spiel nicht fol­gen und müs­sen ein­ge­ste­hen, daß das We­sen un­se­res Sarg­tisch­lers durch­weg sei­nem düs­te­ren Hand­werk ent­sprach. Adri­an Pro­cho­row war für ge­wöhn­lich miß­ge­launt und wort­karg. Er brach sein Schwei­gen nur, wenn er sei­ne Töch­ter an­fuhr, die un­tä­tig am Fens­ter sa­ßen und den Vor­über­ge­hen­den nach­gaff­ten, oder wenn er un­ge­bühr­lich ho­he Prei­se für sei­ne Er­zeug­nis­se von den Kun­den ver­lang­te, die das Un­glück, oder die Freu­de hat­ten, die­se drin­gend zu be­nö­ti­gen.

So saß al­so Adri­an am Fens­ter und trank die sie­ben­te Tas­se Tee und war wie ge­wöhn­lich in sei­ne trüb­se­li­gen Ge­dan­ken­ver­sun­ken. Er dach­te an das Un­wet­ter, das vor ei­ner Wo­che auf den Lei­chen­zug des pen­sio­nier­ten Bri­ga­diers nie­der­ge­gan­gen war, und an die vie­len Trau­er­män­tel und Hü­te, die in­fol­ge der Näs­se ver­dor­ben und un­brauch­bar ge­wor­den wa­ren. Drin­gen­de Aus­ga­ben stan­den be­vor, da sich die oh­ne­hin ver­al­te­ten Ar­ti­kel sei­nes Ge­schäfts in ei­nem ge­ra­de­zu kläg­li­chen Zu­stand be­fan­den. Pro­cho­row hoff­te zwar, die Ver­lus­te bei der Be­er­di­gung der al­ten Kauf­manns­frau Trju­chi­na, die be­reits seit ei­nem Jahr im Ster­ben lag, wie­der wettz­u­ma­chen; aber die Trju­chi­na kämpf­te mit dem Tod am weit ent­fern­ten Ras­gul­jai, so daß der Sarg­tisch­ler be­fürch­te­te, ih­re Er­ben könn­ten einen an­de­ren Un­ter­neh­mer in ih­rer Nä­he mit dem Ge­schäft be­auf­tra­gen, an­statt, wie sie es ja aus­ge­macht hat­ten, zu ihm zu kom­men.

Sei­ne Über­le­gun­gen wur­den plötz­lich durch ein drei­ma­li­ges Klop­fen un­ter­bro­chen. »Wer ist da?« rief Pro­cho­row.

Die Tür ging auf, und ein Mann, in dem er auf den ers­ten Blick einen deut­schen Hand­wer­ker er­kann­te, trat ein und kam mit hei­te­rer Mie­ne auf ihn zu.

»Ent­schul­di­gen Sie, ver­ehr­ter Nach­bar«, sag­te er auf rus­sisch mit ei­ner Aus­spra­che, die wir bis auf den heu­ti­gen Tag nicht hö­ren kön­nen, oh­ne da­bei zu lä­cheln, »ent­schul­di­gen Sie, wenn ich stö­re. Ich woll­te mich mit Ih­nen be­kannt­ma­chen. Mein Na­me ist Gott­lieb Schul­ze, ich bin der Schuh­ma­cher von ge­gen­über. Mor­gen ha­be ich mei­ne sil­ber­ne Hoch­zeit. Wol­len Sie und Ih­re Töch­ter die Gü­te ha­ben, an un­se­rem Fes­tes­sen teil­zu­neh­men?«

Die Ein­la­dung wur­de be­reit­wil­lig an­ge­nom­men. Der Sarg­tisch­ler for­der­te Gott­lieb Schul­ze auf, Platz zu neh­men und mit ihm ei­ne Tas­se Tee zu trin­ken. Dank der Un­be­fan­gen­heit des Schus­ters ent­wi­ckel­te sich bald ein freund­schaft­li­ches Ge­spräch.

»Wie ge­hen die Ge­schäf­te?« frag­te Adri­an.

»He, he, he«, lach­te Schul­ze, »na ja, mal so, mal so. Ich kann mich nicht be­kla­gen. Mei­ne Wa­re ist na­tür­lich nicht das, was Ih­re ist: Le­ben­de kön­nen auf Stie­fel ver­zich­ten, To­te aber nicht auf den Sarg.«

»Sehr wahr«, stimm­te Adri­an zu, »in­des, wenn der Le­ben­de nicht das Geld da­zu hat, Stie­fel zu kau­fen, so läuft er eben – nichts für un­gut – bar­fuß her­um, aber der to­te Bett­ler be­schafft sich einen Sarg um­sonst.«

Auf die­se und ähn­li­che Wei­se un­ter­hiel­ten sich die bei­den noch ei­ne Wei­le, bis der Schus­ter schließ­lich auf­stand und sich von dem Sarg­tisch­ler ver­ab­schie­de­te, nicht oh­ne sei­ne Ein­la­dung zu wie­der­ho­len.

Am an­de­ren Tag pünkt­lich zwölf Uhr ging der Sargtisch­ler mit sei­nen bei­den Töch­tern durch die Gar­ten­pforte zu sei­nem Nach­barn. Ich ver­zich­te dar­auf, Adrians rus­si­schen Kaftan und die eu­ro­päi­schen Klei­der Akul­jas und Dar­jas aus­führ­lich zu be­schrei­ben. Trotz­dem hal­te ich die Be­mer­kung nicht für über­flüs­sig, daß bei­de Da­men gel­be Hü­te und ro­te Schu­he tru­gen, wie im­mer bei fei­er­li­chen Ge­le­gen­hei­ten.

In den en­gen Zim­mern der Schuh­ma­cher­woh­nung dräng­ten sich die Gäs­te; deut­sche Hand­wer­ker mit ih­ren Frau­en und ih­ren Ge­sel­len. Von den Ein­hei­mi­schen war nur ein Es­te na­mens Jur­ko zu­ge­gen, der es trotz sei­ner un­ter­ge­ord­ne­ten Stel­lung – er war städ­ti­scher Stra­ßen­auf­se­her – ver­stan­den hat­te, sich die Gunst des Gast­ge­bers zu er­wer­ben. Fünf­und­zwan­zig Jah­re lang hat­te er sei­nen Dienst brav und ge­wis­sen­haft er­füllt. Der große Brand von 1812, der Mos­kau, die ers­te Reichs­haupt­stadt, zum größ­ten Teil in Schutt und Asche ver­wan­delt hat­te, ver­nich­te­te auch sein gelb an­ge­mal­tes Wächt­er­häus­chen. Aber nach­dem die Fein­de ver­jagt wor­den wa­ren, hat­te man gleich ein neu­es, dies­mal grau ge­stri­che­nes und mit wei­ßen do­ri­schen Säul­chen ver­zier­tes Häus­chen er­rich­tet, und Jur­ko pa­trouil­lier­te wie einst mit Hel­le­bar­de und im Har­nisch aus gro­bem Bau­ern­tuch in sei­nem Be­zirk. Die meis­ten Deut­schen, die in der Nä­he des Ni­kits­kij-To­res wohn­ten, kann­ten ihn recht gut, denn nicht sel­ten muß­ten sie die Nacht vom Sonn­tag auf den Mon­tag in sei­ner Bu­de ver­brin­gen. Adri­an stell­te sich ihm so­gleich vor als ei­nem Men­schen, den man frü­her oder spä­ter wür­de brau­chen kön­nen, und als man sich zu Tisch setz­te, nah­men sie ne­ben­ein­an­der Platz.

Die Gast­ge­ber und ih­re Toch­ter, das sieb­zehn­jäh­ri­ge Lott­chen, er­mun­ter­ten sie zu­zu­lan­gen und hal­fen der Kö­chin beim Be­die­nen. Jur­ko aß für vier, und Adri­an hielt eif­rig mit; nur sei­ne Töch­ter zier­ten sich. Die deutsch ge­führ­ten Ge­sprä­che wur­den von Stun­de zu Stun­de leb­haf­ter. Plötz­lich mel­de­te sich der Haus­herr zu Wort. Er öff­ne­te ei­ne ver­sie­gel­te Fla­sche und rief mit lau­ter Stim­me auf rus­sisch: »Auf das Wohl mei­ner lie­ben Lui­se!« Das et­was cham­pa­gner­ähn­li­che Ge­tränk schäum­te in den Glä­sern. Herr Schul­ze küß­te zärt­lich das fri­sche Ge­sicht sei­ner vier­zig­jäh­ri­gen Ge­fähr­tin, und die Gäs­te tran­ken lär­mend auf die Ge­sund­heit der bra­ven Lui­se.

»Auf das Wohl mei­ner lie­ben Gäs­te!« ließ sich der Haus­herr aber­mals hö­ren und öff­ne­te die nächs­te Fla­sche. Die An­we­senden dank­ten und leer­ten zum zwei­ten­mal ih­re Glä­ser. Nun folg­te ein Trink­spruch dem an­de­ren. Man trank auf die Ge­sund­heit je­des ein­zel­nen, brach­te ein Hoch auf Mos­kau aus, ge­dach­te ei­nes gan­zen Dut­zends deut­scher Städ­te und Städt­chen, stieß auf die Zünf­te im all­ge­mei­nen und im be­son­de­ren an und trank schließ­lich auf die Ge­sund­heit der Meis­ter und ih­rer Ge­sel­len.

Adri­an trank tüch­tig mit und war zu gu­ter Letzt so in Stim­mung, daß auch er ein scherz­haf­tes Hoch aus­brachte. Dar­auf er­hob ein di­cker Bäcker­meis­ter sein Glas und rief: »Auf das Wohl de­rer, für die wir ar­bei­ten! Hoch le­be un­se­re Kund­schaft!« Ein­mü­tig wil­lig­te man ein und be­gann sich nun ge­gen­sei­tig zu­zu­trin­ken: der Schnei­der dem Schus­ter, der Schus­ter dem Schnei­der, der Bäcker­meis­ter die­sen bei­den, al­le­samt wie­der­um dem Bä­cker und so fort. Auf dem Hö­he­punkt des fröh­li­chen Durch­ein­an­ders wand­te sich plötz­lich Jur­ko zu sei­nem Tischnach­barn und schrie aus vol­ler Keh­le: »Wie wär’s, Tisch­ler, er­heb dein Glas auf das Wohl dei­ner To­ten!« Al­le bra­chen in ein brül­len­des Ge­läch­ter aus, aber der Sarg­tisch­ler fühl­te sich be­lei­digt und ver­zog sein Ge­sicht. Nie­mand hat­te es be­merkt, man trank fröh­lich wei­ter, und erst als zur Abend­mes­se ge­läu­tet wur­de, er­ho­ben sich die Gäs­te von ih­ren Plät­zen.

Erst spät und mehr oder we­ni­ger be­trun­ken, ging man aus­ein­an­der. Der di­cke Bäcker­meis­ter und der Buch­bin­der, des­sen Ge­sicht leb­haft an einen ro­ten Saf­fianein­band er­in­ner­te, hat­ten Jur­ko un­ter die Ar­me ge­faßt und brach­ten ihn so oh­ne Zwi­schen­fäl­le in sei­ne Bu­de zu­rück, ein­ge­denk des rus­si­schen Sprich­worts: Wer sei­ne Schuld be­zahlt, ver­mehrt sein Gut.

Be­trun­ken und ver­är­gert kam der Sarg­tisch­ler nach Hau­se. »Was soll das hei­ßen?« mur­mel­te er vor sich hin. »Ist denn mein Hand­werk we­ni­ger acht­bar als je­des an­de­re? Will man es et­wa dem ei­nes Hen­kers gleich­set­zen? Wor­über ma­chen sich ei­gent­lich die­se Aus­län­der lus­tig? Bin ich in ih­ren Au­gen viel­leicht ein Hans­wurst? Ich hatte vor, sie al­le zur Ein­wei­hung mei­nes neu­en Hau­ses ein­zu­la­den und ih­nen ein üp­pi­ges Fest­mahl vor­zu­set­zen. Doch das ist jetzt vor­bei! Die­se Ket­zer kom­men mir nicht ins Haus. Ich la­de die ein, für die ich ar­bei­te: die in Chris­tus Ver­schie­de­nen!«

»Was hast du denn, Va­ter?« frag­te die Magd, die ihm die Stie­fel aus­zog. »Du sprichst ja lau­ter wir­res Zeug. Be­kreu­zige dich! Die To­ten her­bei­ru­fen, welch ein grau­en­haf­ter Ein­fall!«

»Bei Gott, ich la­de sie mor­gen zu mir ein. Ja, mei­ne Wohl­tä­ter, kommt nur, er­weist mir die Eh­re, mor­gen abend! Ich be­wir­te euch mit al­lem, was Gott gibt.« Und Adri­an warf sich auf sein Bett; er schlief so­fort ein.

Es war noch dun­kel, als Adri­an ge­weckt wur­de. Die Kauf­manns­frau Trju­chi­na war in der Nacht ge­stor­ben; ihr Ge­schäfts­füh­rer hat­te einen rei­ten­den Bo­ten ge­sandt, um den Sarg­tisch­ler zu be­nach­rich­ti­gen. Adri­an gab ihm da­für ein sil­ber­nes Zehn­kope­ken­stück Trink­geld und zog sich ei­ligst an. Er nahm ei­ne Drosch­ke und fuhr auf den Ras­gul­jai.

Vor dem Haus der Ver­stor­be­nen stan­den be­reits Po­li­zis­ten, und Kauf­leu­te schnüf­fel­ten her­um wie Krä­hen, die sich um ein Aas ver­sam­melt ha­ben. Die Ver­schie­de­ne lag auf ei­nem Tisch, gelb wie Wachs und von An­ge­hö­ri­gen, Nach­barn und Die­nern um­ringt. Al­le Fens­ter wa­ren ge­öff­net. Ker­zen brann­ten, und Geist­li­che la­sen Ge­be­te.

Adri­an ging auf den Nef­fen der Trju­chi­na zu, einen jun­gen und nach der neues­ten Mo­de ge­klei­de­ten Kauf­mann, und ver­si­cher­te ihm, daß Sarg, Ker­zen, Sarg­de­cke und al­les, was da­zu­ge­hör­te, un­ver­züg­lich ge­lie­fert wer­den wür­den. Der Er­be dank­te ihm zer­streut und füg­te hin­zu, daß der Preis da­bei kei­ne Rol­le spie­le und er sel­ber sich ganz auf die Ge­wis­sen­haf­tig­keit Pro­cho­rows ver­las­se. Der Sarg­tisch­ler be­teu­er­te wie im­mer in sol­chen Fäl­len, daß er nicht mehr ver­lan­gen wer­de, als an­ge­mes­sen sei. Dann wech­sel­te er einen viel­sa­gen­den Blick mit dem Ge­schäfts­füh­rer und ging nach Hau­se, um die ent­spre­chen­den Maß­nah­men zu tref­fen.

Den gan­zen Tag über fuhr er zwi­schen dem Ras­gul­jai und dem Ni­kits­kij-Tor hin und her. Erst am spä­ten Abend war al­les in Ord­nung ge­bracht; er entließ den Kut­scher und ging wie­der zu Fuß nach Hau­se. Vor der Him­mel­fahrts­kir­che am Ni­kits­kij-Tor wur­de er von un­se­rem Be­kann­ten Jur­ko an­ge­ru­fen. Die­ser hat­te ihn er­kannt und wünsch­te ihm ei­ne gu­te Nacht.

Es war schon spät. Als der Sarg­tisch­ler an sein Haus kam, be­merk­te er plötz­lich, daß je­mand sei­ne Gar­ten­pfor­te öff­ne­te und hin­ter der Tür ver­schwand. Was soll das hei­ßen, dach­te er, braucht mich denn wie­der je­mand? Oder ist es ein Ein­bre­cher, viel­leicht gar ein Schür­zen­jä­ger, der bei mei­nen när­ri­schen Töch­tern ein­stei­gen will? Et­was Gu­tes ist es be­stimmt nicht! Wäh­rend er noch über­leg­te, ob er sei­nen Freund Jur­ko ru­fen soll­te, tauch­te ei­ne neue Ge­stalt auf und schi­en gleich­falls ins Haus ein­tre­ten zu wol­len. Als die­se aber den Sarg­tisch­ler her­bei­lau­fen sah, blieb sie ste­hen und nahm den drei­e­cki­gen Hut ab. Das Ge­sicht kam Adri­an be­kannt vor, doch konn­te er sich im Au­gen­blick nicht ge­nau er­in­nern, wo er es schon mal ge­se­hen hat­te.

»Sie wol­len wohl zu mir«, sag­te Adri­an mit sto­cken­dem Atem, »bit­te, tre­ten Sie ru­hig ein, er­wei­sen Sie mir die Eh­re.«

»Kei­ne lee­ren Phra­sen, mein Lie­ber«, ent­geg­ne­te der Frem­de mit hoh­ler Stim­me. »Geh vor­an und zeig dei­nen Gäs­ten den Weg!«

Dem Sarg­tisch­ler blieb nichts an­de­res üb­rig, als der Auf­for­de­rung zu fol­gen. Er ging durch das of­fe­ne Gar­ten­tor, den Un­be­kann­ten hin­ter sich, dann durch die eben­falls ge­öff­ne­te Haus­tür und be­gann die Trep­pe hin­auf­zu­stei­gen. Da­bei hat­te er das Ge­fühl, als gin­gen vie­le Leu­te in sei­nem Haus um­her. Welch ein Teu­felss­puk! dach­te er und be­eil­te sich hin­auf­zu­ge­lan­gen.

Als er die Tür zu sei­ner Wohn­stu­be auf­mach­te, schlot­ter­ten ihm die Knie: Im Zim­mer wa­ren lau­ter To­te. Der Mond schi­en durchs Fens­ter und er­hell­te die gel­ben, blau an­ge­lau­fe­nen Ge­sich­ter, die ein­ge­fal­le­nen Lip­pen, die trü­ben, halb­ge­schlos­se­nen Au­gen und die scharf her­vor­tre­ten­den Na­sen. Pa­ni­sche Angst be­mäch­tig­te sich sei­ner. Er er­kann­te in ih­nen die To­ten, die durch sein Da­zu­tun be­gra­ben wor­den wa­ren; der­je­ni­ge, der mit ihm her­ein­kam, war der vor ei­ner Wo­che be­er­dig­te Bri­ga­dier, des­sen Lei­chen­zug vom Un­wet­ter über­rascht wor­den war. Sie al­le, Da­men wie Her­ren, be­grüß­ten ihn mit tie­fen Ver­beu­gun­gen, Kratz­fü­ßen und Glück­wün­schen, aus­genom­men ein ar­mer Schlu­cker, der um­sonst be­gra­ben wer­den muß­te und sich des­sen eben­so schäm­te wie sei­nes gro­ben Hem­des. Er drück­te sich als ein­zi­ger in der Ecke her­um. Al­le üb­ri­gen wa­ren sehr vor­nehm an­ge­zo­gen: Die Frau­en tru­gen hüb­sche Hau­ben, die Män­ner wa­ren je nach Rang und Wür­den in Uni­form ge­klei­det, ob­gleich un­ra­siert, die Kauf­leu­te hat­ten ih­re Sonn­tags­klei­der an.

»Pro­cho­row«, mel­de­te sich der Bri­ga­dier im Na­men al­ler Ver­sam­mel­ten, »wie du siehst, sind wir al­le dei­ner Ein­la­dung ge­folgt; zu Hau­se sind nur die ge­blie­ben, die es beim bes­ten Wil­len nicht mehr schaf­fen konn­ten, da sie ent­we­der schon völ­lig zer­fal­len oder von ih­nen nichts als blan­ke Kno­chen üb­rig­ge­blie­ben sind. Aber selbst von de­nen hat es ei­ner nicht über sein ehe­ma­li­ges Herz brin­gen kön­nen weg­zu­blei­ben.«

Im sel­ben Au­gen­blick dräng­te sich ein klei­nes Ske­lett nach vorn und trat auf Adri­an zu. Mit ei­nem ein­neh­men­den Grin­sen blick­te sein Schä­del zu dem Sarg­tisch­ler auf. An dem Ge­rip­pe haf­te­ten noch ei­ni­ge Fet­zen grü­nen und ro­ten Stoffs und fa­den­schei­ni­ger Lein­wand, wäh­rend die Bein­kno­chen in den ho­hen Reit­s­tie­feln klap­per­ten wie Keu­len in ei­nem Mör­ser.

»Na­tür­lich kennst du mich nicht, Pro­cho­row«, sag­te das Ske­lett, »aber du er­in­nerst dich ge­wiß noch an den ver­ab­schie­de­ten Gar­de­ser­gean­ten Pjotr Pe­tro­witsch Ku­ril­kin, dem du im Jah­re 1799 dei­nen al­ler­ers­ten Sarg ver­kauf­test, der im üb­ri­gen statt aus Ei­che nur aus Tan­nen­holz war!«

Bei die­sen Wor­ten schick­te sich das Ge­rip­pe an, Adri­an zu um­ar­men; aber Pro­cho­row nahm al­le Kräf­te zu­sam­men, schrie auf und stieß es von sich. Pjotr Pe­tro­witsch tau­mel­te, schlug hin und brach in lau­ter Stücke aus­ein­an­der. Die To­ten wa­ren em­pört. Wie ein Mann tra­ten sie für die Eh­re ih­res Kol­le­gen ein und war­fen sich schimp­fend und dro­hend Adri­an ent­ge­gen. Der ar­me Haus­herr, von ih­rem Lärm wie be­täubt und fast zu To­de ge­drückt, ver­lor sei­ne Fas­sung, fiel nun über die Kno­chen des Gar­de­ser­gean­ten und blieb be­sin­nungs­los am Bo­den lie­gen.

Die Son­ne schi­en längst auf das Bett, in dem der Sarg­tisch­ler schnarch­te. End­lich er­wach­te er und ge­wahr­te die Magd, die den Sa­mo­war auf­stell­te. Mit Schre­cken er­in­ner­te sich Adri­an, was ges­tern ge­sche­hen war. Wie in ei­nem Ne­bel sah er die Trju­chi­na, den Bri­ga­dier und den Ser­gean­ten Ku­ril­kin vor sich. Schwei­gend war­te­te er dar­auf, daß die Magd an­fan­gen wür­de, von den gest­ri­gen Be­ge­ben­hei­ten zu er­zäh­len.

»Du hast aber ganz schön ver­schla­fen, Va­ter Adri­an Pro­cho­row«, sag­te Ak­s­in­ja und reich­te ihm den Schlaf­rock. »Der Schnei­der von ne­ben­an hat schon nach dir ge­fragt, und der Schutz­mann war eben­falls da und sag­te, daß der Po­li­zei­auf­se­her heu­te Na­mens­tag ha­be; du aber be­lieb­test im­mer noch zu schla­fen, und wir trau­ten uns nicht, dich zu we­cken.«

»War je­mand von der ver­stor­be­nen Trju­chi­na da?«

»Von wem? Von der ver­stor­be­nen Trju­chi­na? Seit wann ist sie denn tot?«

»Dum­me Gans! Hast du mir nicht sel­ber ges­tern bei den Vor­be­rei­tun­gen für ih­re Bei­set­zung ge­hol­fen?«

»Was sagst du da, Va­ter? Bist du nicht ganz bei­sam­men oder im­mer noch be­trun­ken? Von wel­cher Bei­set­zung re­dest du denn? Du warst doch den gan­zen Tag bei die­sen Deut­schen; bist be­trun­ken nach Hau­se ge­kom­men, in dein Bett ge­schli­chen und erst auf­ge­wacht, als es be­reits längst zur Mit­tags­mes­se ge­läu­tet hat.«

»Ist das denn wahr?« frag­te der Va­ter.

»Aber na­tür­lich«, ver­si­cher­te die Magd.

»Nun, dann gib mir schnell den Tee und ruf die Töch­ter her­ein!«