Der geraubte
Arm
von
Vilhelm Bergsöe
Die ›Gespensternovellen‹ des dänischen Zoologen und Schriftstellers Vilhelm Bergsöe (1835-1911) erschienen in der Übersetzung Adolf Strodtmanns 1873 in Berlin, ein Jahr nach der dänischen Erstausgabe. Sie machten den Namen dieses in seiner Heimat vielgelesenen Autors auch in Deutschland bekannt. Eine Reihe seiner Erzählungen und Romane spielt in Italien, wo Bergsöe lange Zeit lebte. ›Der geraubte Arm‹ ist eine seiner besten Gespensternovellen, die sich durch eine spannende Handlung, den Reichtum an interessanten Charakteren aus dem Studentenmilieu und durch effektvoll wechselnde, abenteuerliche und schaurige Szenen auszeichnen.
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Es war Weihnachtsabend. Draußen auf den Feldern lag der Schnee dick und dicht in sanften Wellenlinien über der Erde; er hing wie Silbertuch auf den schwarzen Dornhecken, von welchen dann und wann ein aus seiner Nachtruhe emporgescheuchter Vogel aufflog, – emporgescheucht durch das Schellengeläut eines Schlittens, der sich in rascher Fahrt dem Pfarrhause näherte, dessen Fenster am Ende der Dorfstraße blinkten.
Im Pfarrhause war alles voll stiller Erwartung. Die Jugend war in der großen Gartenstube versammelt, man hatte um den Weihnachtsbaum getanzt, man hatte ihn geplündert und die Lichter ausgelöscht, man hatte Vetter Jakobs sinnreichen Einfall bewundert, einen Kiefernzweig statt des Mistelzweiges unter der Decke anzubringen, und man würde schon längst zu Tisch gegangen sein, wenn sich nicht das seltsame, aber unbestreitbare Faktum ereignet hätte, daß Doktor Siemsen noch nicht eingetroffen war. Das war mehr als seltsam, – denn im Pfarrhause gehörte Doktor Siemsen mit zum Weihnachtsabend und war ein ebenso notwendiger Teil desselben wie der Weihnachtsbaum, die Pfeffernüsse, Apfelkuchen und der Punsch. Unzählig waren daher die Vermutungen über den Grund seines Ausbleibens, in denen man sich erging, und Vetter Jakob stand schon im Begriff, einen längeren Erklärungsvortrag zu halten, als man draußen auf dem Hofe dasselbe Schellengeläute vernahm, welches die einzelnen Vögel an der Landstraße aufgescheucht hatte.
Es war ein possierliches Fuhrwerk, das in diesem Augenblicke auf dem Pfarrhof einschwenkte und vor der ehrwürdigen alten Steintreppe still hielt.
Zuerst ein gelber norwegischer Kiepper, der mißvergnügt den Kopf mit dem Schellengeläut und der roten Hörnerzier schüttelte; sodann etwas, das wie ein hochlehniger, altmodischer Sessel aussah, oben mit einem ledernen Kutschverdeck und unten mit einem riesigen Fußsack, – das alles auf ein Schlittengestell gesetzt, welches zum Überflüsse noch eine Art von Komptoirbock trug, der als Sitz für den Kutscher bestimmt zu sein schien, wenn ein solcher vonnöten war.
Für die Bewohner des Pfarrhauses schien jedoch dies Gefährt nichts Neues oder Ungewöhnliches zu sein. Der Pfarrer knöpfte selbst den Fußsack auf, legte das Verdeck zurück und zog unter herzlichen Willkommsgrüßen einen kleinen Mann von dem hochlehnigen Sessel herab, während die Jugend auf der Steintreppe mit lauter Stimme den Refrain des alten Liedes intonierte: »Hurra, der Herr Doktor ist da!«
Es war wirklich Doktor Siemsen, der lang erwartete Gast, welcher sich jetzt der Versammlung als einen kleinen behäbigen, rotbäckigen Mann mit einem klugen Gesicht und einem ehrwürdigen schwarzen Samtkäppchen zu erkennen gab, wohlgemerkt nachdem er sich auf der Vordiele der verschiedenen Umhüllungen von Seehundsfell-Mütze, Schafspelz und Pelzstiefeln entledigt hatte, die ihm auf den ersten Blick das Aussehen eines Eskimos oder Nordpolfahrers verliehen hatten. Es war leicht zu sehen, daß Doktor Siemsen ein alter Bekannter des Hauses war, und daß er wenigstens heute abend nicht wegen eines Krankheits- oder Sterbefalles herkam, so umjubelten ihn die Kinder, während sie ihn im Triumph in das Speisezimmer zogen, wo er unter einer wohlgesetzten Rede Vetter Jakobs am Hauptende des Tisches neben dem Pfarrer Platz nehmen mußte.
Die Mahlzeit war vorüber, Vetter Jakob hatte mehrmals Zeit gefunden, die Bedeutung des Kiefernzweiges zu erklären und von seiner Reise nach England zu erzählen, Doktor Siemsen hatte praktisch bewiesen, daß derselbe sich auch wirklich wie der beste Mistelzweig benutzen ließ, als der Pfarrer plötzlich fragte: »Nun, Siemsen, was geben Sie uns denn am heutigen Weihnachtsabend zum Besten? Haben Sie die Geschichte mitgebracht?«
»Ja, die Geschichte, die Geschichte, liebster Doktor Siemsen!« schrien die Kinder durcheinander. »Sie müssen uns Ihre Geschichte erzählen!«
»Die Geschichte?« wiederholte Doktor Siemsen mit so verwunderter Miene, als sei diese Zumutung etwas ganz Neues für ihn.
»Jawohl, machen Sie kein so unschuldiges Gesicht«, sagte der Pfarrer. »Seit fünfzehn Jahren haben Sie uns jeden Weihnachtsabend eine Geschichte erzählt, da müßte es doch wunderlich zugehen, wenn Sie heut abend keine in petto hätten.«
»Man sagt, Sie ersännen dieselben, wenn Sie auf die Praxis fahren«, schaltete Jakob ein. »Sie sind ja der größte Märchendichter der Gegend. Sie müssen uns wirklich eine Geschichte erzählen; denn als ich in England war …«
»Sei’s denn!« unterbrach ihn Doktor Siemsen mit einem feinen ironischen Lächeln, das Vetter Jakob nicht bemerkte. »Was wünschen Sie?«
»Eine rechte Weihnachtsgeschichte«, rief Vetter Jakob, »etwas Romantisches, etwas Dämonisches á la Dickens.«
»Ja, eine Spukgeschichte!« stimmte der älteste Pfarrersknabe ein. »Dann blasen wir die Lichter aus und schrauben die Lampe nieder, und dann schreit Karoline, wenn das Gespenst kommt.«
»Wie abscheulich du bist, Fritz!« schmollte Karoline und ward blutrot. »Das hab’ ich nur einmal getan, und das sind über fünf Jahre her. Jetzt will ich gerade eine Spukgeschichte haben.«
»Ach nein, nein, bester Doktor Siemsen!« rief eine der Freundinnen aus der Stadt. »Erzählen Sie lieber etwas Spaßhaftes aus Ihrer Jugendzeit, etwas aus dem Studentenleben, das verstehen Sie so prächtig.«
»Lassen Sie ein wenig Moral darin enthalten sein«, bemerkte der Pfarrer, welcher eifrig damit beschäftigt war, eine Pfeife für seinen alten Freund zu stopfen und ein Glas Punsch zu bereiten, das er auf den kleinen Tisch neben dem Lehnsessel stellte.
»Wohlan«, sagte der Doktor mit einem schelmischen Lächeln, »ich will versuchen, das Verlangen aller Teile zu befriedigen, obschon mir das schwer genug fallen mag. Ich sprach unterwegs bei Peter Nielsen vor, welcher vergangenes Jahr überfahren wurde und den rechten Arm brach. Das erinnerte mich an eine kleine Geschichte aus meiner ersten Studentenzeit, und auf der Fahrt hierher hab’ ich über die Form nachgedacht, welche man ihr geben könnte. Wollen Sie sie hören?«
Der Pfarrer nickte, die Kinder hatten schon ihre Stühle näher zu dem jovialen Doktor herangerückt, welcher, nachdem er von dem Punsch genippt und seine Pfeife angezündet, folgendermaßen begann:
»Es war in meinen jungen Tagen, das heißt«, fügte Doktor Siemsen lächelnd hinzu, »ich zählte achtzehn bis neunzehn Jahre, als Sölling mein Repetent in der Anatomie war. Dieser Sölling war ein trefflicher Bursche, stets voller Spaße und scherzhafter Einfälle und immer gleich lustig aufgelegt, ob er nun am Seziertische oder bei einer Bowle im alten Akademikum saß. Er hatte nur einen Fehler, wenn man das überhaupt einen Fehler nennen kann, nämlich seinen übertriebenen Anspruch auf Pünktlichkeit. Kam man nur einige Minuten zu spät, gleich brummte Sölling und wurde an dem Abend nicht wieder freundlich gestimmt; er selbst kam niemals zu spät, wenigstens nicht in unserem Kreise.
An einem Mittwochabend sollte die kleine Schar sich, wie gewöhnlich, präzise um sieben Uhr bei mir in der Regenz{*} versammeln. Ich hatte zu diesem Zwecke die gewöhnlichen großartigen Vorbereitungen getroffen; ich hatte ein paar Stühle zu den meinigen geliehen; ich hatte alle meine Pfeifen gestopft und hatte Hans dazu bewogen, das Frühstücksgeschirr vom Sofa zu entfernen, wohin er es regelmäßig stellte, statt es auf den Korridor hinauszutragen. Allmählich versammelte sich die Gesellschaft, die Uhr schlug sieben, aber zu unserer großen Verwunderung sahen und hörten wir nichts von Sölling.
Die Uhr wies zwei, drei, ja fünf Minuten nach sieben, ehe wir Sölling die Treppe heraufkommen und in gewohnter Weise mit kurzen Schlägen an die Tür klopfen hörten. Als er eintrat, sah er so ärgerlich und gleichzeitig so verstört aus, daß ich unwillkürlich ausrief: »Was ist Ihnen, Sölling? Man hat Sie doch nicht bestohlen?«
»Allerdings hat man das«, erwiderte Sölling verdrießlich; »und es ist kein gewöhnlicher Dieb gewesen«, fügte er hinzu, indem er seinen Oberrock an den Türnagel hängte.
»Was ist Ihnen denn fortgekommen?« fragte mein Schlafkamerad Nansen.
»Beide Arme meines Skeletts, das ich gerade vom allgemeinen Hospital erhalten hatte«, sagte Sölling mit einer Miene, als hätte man ihm seinen letzten Pfennig gestohlen. »Es ist reiner Vandalismus!«
Wir andern brachen in ein Gelächter über einen so absonderlichen Diebstahl aus, aber Sölling fuhr fort:
»Kann jemand von euch das begreifen? Beide Arme futsch, gerade im Schultergelenk abgeschnitten, und, was das Seltsamste ist, dasselbe war bei meinem alten, räucherigen Skelett der Fall, welches drinnen in meiner Schlafstube stand – nicht mehr Arme, als hier auf meiner flachen Hand!«
»Das ist schlimm«, bemerkte ich; »wir sollten ja heute abend gerade die Anatomie des Armes durchnehmen.«
»Osteologie!« verbesserte Sölling ernsthaft. »Hole dein Skelett hervor, kleiner Siemsen! Es ist nicht so gut wie meins, aber wir können uns immerhin für heute damit behelfen.
Ich schritt nach der Fensterecke, wo ich hinter einem einfachen grünen Shirting-Vorhang meine anatomischen Schätze – ›das Museum‹, wie Sölling es nannte – verbarg. Aber wer schildert meine Verblüfftheit, ja, meinen Schreck, als ich zwar mein Skelett auf seinem alten Platze und, wie gewöhnlich, mit der Studentenuniform, Tschako, Säbel und Patronentasche geschmückt fand, aber – ohne Arme.
»Zum Henker!« schrie Sölling, »Das ist derselbe Dieb, der bei mir gewesen ist; die Arme sind ganz auf dieselbe Weise vom Schulterblatte gelöst, wie in meiner Wohnung. Das hast du selbst getan, kleiner Siemsen!«
Ich beteuerte meine vollkommene Unschuld, während ich mich gleichzeitig über die Mißhandlung meines schönen Skeletts ärgerte; aber Nansen rief: »Wartet einen Augenblick, ich bin gleich wieder da.«
Mit diesen Worten schoß er in sein Zimmer, kehrte aber fast in demselben Augenblick blaß und verlegen zurück. Das Skelett war noch dagewesen, aber die Arme waren verschwunden, gestohlen, und die Schulterbänder ganz auf dieselbe Art wie bei dem meinen zerschnitten.
Die Sache, welche an und für sich rätselhaft war, begann jetzt unheimlich zu werden. Vergebens zerbrachen wir uns die Köpfe mit Vermutungen und Erklärungen; wir kamen dadurch nicht weiter und sandten zuletzt jemanden nach der anderen Seite des Korridors, wo der junge Student Ravn wohnte, der, wie ich wußte, von dem Portier des allgemeinen Hospitals gestern ein Skelett erhalten hatte. Hier zeigte sich indes eine neue Schwierigkeit; Ravn war ausgegangen und hatte den Schlüssel mitgenommen. Hans konnte die Tür nicht aufmachen, obschon sie sonst willig genug war, und ein Bote, den wir nach dem Korridor der Isländer hinüber schickten, kam mit dem Bescheide zurück, daß Bjövulf Skafteson seinen Stubengenossen Einar Skallefanger mit dem einzigen dort vorhandenen Skelette solchermaßen ›verarbeitet‹ habe, daß nur noch ein Paar zerbrochene Hüftknochen übrig geblieben. Hier war guter Rat teuer. Keiner von uns begriff den Zusammenhang. Sölling schalt und fluchte abwechselnd, und die Gesellschaft stand im Begriff aufzubrechen, als wir plötzlich jemand die Treppe heraufpoltern hörten. Gleich darauf ward die Tür aufgerissen, und herein trat eine seltsam hohe und dürre Gestalt. Es war Niels Daae, ein ältlicher Student, den wir damals alle sehr gut kannten.
Er war ein schnurriger Gesell, dieser Niels Daae, der echte Typus einer Rasse, die jetzt fast ausgestorben ist, die aber zu meiner Zeit nicht so selten war. Er hatte durch ein seltsames Spiel der Verhältnisse, wie er es selbst nannte, fast alle Fakultäten durchgemacht und konnte Zeugnisse vorlegen, daß er nahe daran gewesen war, nicht nur ein, sondern drei ganze Examina zu bestehen.
Er hatte als Theologe begonnen, aber die Erklärung des Erbschaftsverhältnisses zwischen Jakob und Esau hatte ihn zur Jurisprudenz hingeführt. Als Jurist war er durch einen interessanten Giftmischerfall zu der Erkenntnis gelangt, daß das medizinische Studium ein höchst notwendiges Nebenfach sei, das keinesfalls vernachlässigt werden dürfe, und er hatte sich deshalb mit solchem Eifer auf dasselbe geworfen, daß er das Jus vergessen hatte und der Erwartung leben durfte, mit vierzig Jahren sein Examen zu bestehen und im gesetzten Alter eines Fünfzigers Praxis zu bekommen.
Niels Daae nahm die Sache, welche wir diskutierten, sehr ernsthaft. »Jeder Topf«, sagte er, »hat zwei Henkel, jede Wurst zwei Zipfel, jede Sache zwei Seiten, ausgenommen die vorliegende, welche drei hat. (Beifall.) Vom juristischen Standpunkte betrachtet, fällt sie unzweifelhaft unter die Kategorie Diebstahl, oder vielmehr Einbruch, oder vielmehr noch richtiger Einbruchsdiebstahl. Indes kann die Sache eine Kollision von Begriffen und dadurch eine Begriffsverwirrung hervorrufen, was uns zur medizinischen Seite der Sache hinführt, welche deutlich ergibt, daß der Dieb in geistig unzurechnungsfähigem Zustande gehandelt hat, sintemal er nur Arme stahl, wo er ebensogut ganze Skelette hätte nehmen können. Ist er also von juridischem Standpunkte wegen Diebstahls oder zum mindesten wegen ungesetzlicher Aneignung fremden Eigentums zu verurteilen, so muß ich ihn von medizinischem Standpunkte aus freisprechen, weil er in unzurechnungsfähigen Zustande war. Hier geraten also zwei Fakultäten, rein fachmäßig betrachtet, in Streit miteinander, und das Recht ist unentschieden. – Aber jetzt«, fuhr Niels Daae fort, »vermittle ich die Streitsache vom theologischen Standpunkt zu einer höheren Einheit, welche auf das Universelle hinweist. Die Vorsehung hat nämlich in Gestalt eines Gönners in Jütland, dessen Kindern ich die Früchte der Weisheit eingepfropft habe, mir zwei fette Gänse und zwei veritable Enten geschickt, welche heut abend bei Lars Mathiesen verspeist werden sollen, wohin ich die verehrliche Gesellschaft einlade, indem ich in dem Verschwinden der Arme nur die allweise Leitung der Vorsehung erblicken kann, welche in ihrer unbegreiflichen Weisheit sich der Weisheit widersetzt, die sonst von den Lippen meines würdigen Freundes Sölling geflossen sein würde.«
Daaes etwas konfuse Rede wurde mit Gelächter und Beifallrufen aufgenommen, und nur Sölling erhob ein paar schwache Einwendungen, welche indessen bald in der Flut von Lustigkeit und scherzhaften Einfällen erstickt wurden, die Niels Daaes plötzliches Erscheinen hervorgerufen hatte.
Ich habe oft Gelegenheit gehabt, die Beobachtung zu machen, daß improvisierte Gelage die heitersten sind, und so war es auch an jenem Abend. Niels Daae regalierte uns mit den Enten und mit seinen besten Einfällen, Sölling sang seine besten Lieder, der joviale Lars Mathiesen erzählte seine besten Geschichten, und das Bankett war im schönsten Gange, als wir draußen auf der Straße Geschrei und Rufen verschiedener Stimmen vernahmen, dann ein dumpfes Gekrach, begleitet vom Klirren zerbrochener Scheiben, mit ein paar gellenden Wehlauten untermischt.
»Es ist ein Unglück geschehen!« rief Sölling, welcher im Handumdrehen draußen vor der Türe war, – und es verhielt sich wirklich so. Als wir auf Alleegaden hinaus kamen, sahen wir, daß ein Paar durchgehende Pferde einen Kaleschwagen gegen die Bäume der Allee geschleudert hatten, und daß der Kutscher bei dieser Gelegenheit unters Rad gekommen war, das seinen rechten Arm dicht am Schultergelenk zerknickt hatte. Im Nu war unser lustiger Bankettsaal in ein Lazarett verwandelt. Gläser und Teller mußten Binden, Bandagen und den blinkenden Instrumenten der Verbandtaschen Platz machen, und unsere fröhlichen Lieder wurden von den lauten Wehklagen des unglücklichen Patienten beim Verbinden abgelöst. Die Feststimmung war dahin und wollte nicht mehr zurückkehren, Sölling schüttelte den Kopf und machte eine bedeutungsvolle Gebärde, als der unglückliche Kutscher nach dem Hospital gefahren wurde. Sein Ausspruch lautete dahin, daß der Arm amputiert oder vielmehr im Schultergelenk abgelöst werden müsse, ganz wie es bei unsern Skeletten geschehen war, – »ein verdammt sonderbares Zusammentreffen«, sagte er zu mir.
Schweigend und verstimmt wanderten wir heim auf dem alten Königswege, und zum ersten Male sah die ehrwürdige Regenz ihre Söhne von einem festlichen Gelage heimkehren, gerade als der Nachtwächter in Kannikesträde seine bekannte, bei den Studenten sehr beliebte Variante anstimmte:
Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen,
Unsre Glock hat elf geschlagen.
Elf ist der Apostel Zahl,
Judas kommt noch überall.
»Elf!« rief Sölling aus. »Das ist zu früh, um zu Bett zu gehen, und zu spät, uns noch weiter herumzutreiben. Laß uns zu dir hinaufgehen, kleiner Siemsen, und versuchen, heute abend noch unsere Lektion nachzuholen. Du hast Loders anatomische Tafeln, mit denen müssen wir uns behelfen, es wird schwer genug halten, daß wir bis Weihnacht fertig werden. Es war auch ganz verwünscht, daß uns just heute abend die Arme gestohlen wurden!«
»Der Doktor kann sonst leicht genug Arme und Beine bekommen, mehr als der Doktor braucht«, grinste Hans, der im selben Augenblick aus dem Tore der Regenz hervortrat, wo er Söllings letzte Worte aufgefangen hatte.
»Wieso, Hans?« fragte Sölling verwundert.
»Ih nun«, antwortete Hans, »das kann der Doktor bequem genug haben. Man hat ja das Plankwerk zwischen dem Trinitatis-Kirchhofe und der Porzellanfabrik niedergerissen und eine Rinne gegraben, um ein neues zu setzen. Das sah ich heute selbst, als ich durch den Kirchengang kam; aber herrjeses, was für eine Masse alter Gebeine sie da aufgewühlt haben. Es waren Arme und Beine und Köpfe dabei, mehr als der Doktor zeitlebens gebraucht!«
»Das hilft uns leider nichts, Hans«, entgegnete Sölling. »Der Kirchengang wird ja um vier Uhr geschlossen, und es ist bald halb zwölf.«
»Freilich wird er das«, grinste Hans abermals; »allein es gibt auch eine andere Manier, hineinzukommen, als gerade auf diesem Wege. Wenn der Doktor durch das Tor der Porzellanfabrik gehen wollte, so könnte er über den Hof und die Mühle in den sogenannten vierten Hof gelangen, welcher nach Springgaden hinausführt. Dort gerade haben sie das Plankwerk niedergerissen, und von dort kann der Doktor bequem nach dem Kirchhofe gelangen.«
»Ja, Hans ist ein Genie«, rief Sölling vergnügt, »das hab’ ich immer gesagt. Hör’, kleiner Siemsen, du kennst ja die Fabrik von außen und innen und besuchst oft den Studenten Outzen, welcher dort wohnt. Geh zu ihm hinauf und leihe von ihm den Schlüssel zur Quarzmühle. Du wirst schon den einen oder andern Arm finden, der nicht allzu vermodert ist. Sei nur recht flink und komme bald zurück, dann wollen wir andern dort oben auf dich warten.«
Ich muß ehrlich gestehen, daß ich in diesem Augenblick keine sonderliche Lust hatte, auf den Vorschlag Söllings einzugehen. Ich war in dem Alter, wo die Pietät vor Tod und Grab noch nicht ganz erloschen ist, und der rätselhafte Vorfall mit den gestohlenen Armen spukte mir noch im Kopfe.
Indessen fürchtete ich Söllings ironisches Gesicht und das spöttische Gelächter meiner Kameraden fast ebensosehr, und nach kurzem Bedenken ging ich mit einer Miene fort, als sollte ich nur vom Budiker ein Bund Zigarren holen. Mit vieler Mühe schellte ich den alten Pförtner aus seinem süßen Schlummer empor, unter dem Vorgeben, daß ich eine wichtige Bestellung an Outzen hätte, und dann eilte ich zu diesem hinauf, dessen Fenster nach dem Kirchhofe hinausblickten. Outzen war Theologe und ein streng sittlicher Charakter; das wußte ich sehr wohl und war deshalb ziemlich darauf vorbereitet, daß er mir den Schlüssel verweigern würde, der mir Zugang zum vierten Hofe und von dort aus zum Kirchhofe verschaffen sollte.
Outzen nahm auch die Sache sehr ernsthaft. Er schob die hebräische Bibel, in der er bei meinem Eintritt gelesen hatte, zurück, schob die Lampe empor und blickte mich verwundert an, während ich meine Bitte vorbrachte.
»Es ist ein sündhaftes Unternehmen, das du da vorhast, lieber Siemsen«, sagte er ernsthaft, »und du tätest am besten, davon abzulassen. Von mir erhältst du keinen Schlüssel zu solchem Zweck. Der Friede des Grabes ist heilig und unverletzlich; den darf niemand stören.«
»Wie denkst du dann über den Totengräber? Der legt jeden Tag neue Leichen zu den alten, und lebt darum nicht minder.«
»Er tut nur seine Pflicht«, antwortete Outzen ruhig, »und keiner wird ihn darob schelten. Aber der, welcher aus übermütiger Laune und noch mit dem Punschdampfe im Kopfe den Frieden des Grabes stört, mit dem ist’s ein ander Ding – er wird nicht der Strafe entgehen.«
Ich leugne nicht, daß Outzens Worte mich reizten; denn zu hören, daß man im Begriff stehe, eine verwegene Tat zu begehen, nur weil man betrunken und übermütig sei, ist etwas, das man sich nicht gern sagen läßt, zumal wenn man kaum zwanzig Jahre auf dem Rücken hat. Ohne ein Wort auf seine Einwendungen zu erwidern, riß ich daher den großen, mir wohlbekannten Schlüssel vom Türpfosten und war in zwei Sprüngen draußen auf der Treppe, indem ich schwor, mir einen Arm zu verschaffen, koste es, was es wolle, und dadurch sowohl Outzen als auch Sölling und allen andern zu beweisen, daß ich ein Teufelskerl, so recht ein beherzter Bursche sei.
Mit klopfendem Herzen schlich ich durch den langen, finsteren Gang, welcher, an den Überresten des St. Clara-Klosters vorüber, in den sogenannten dritten Hof führt. Hier nahm ich eine Laterne aus der Kutscherkammer, zündete sie an und ging, mit der Laterne in der Hand, auf die mir wohlbekannte Mühle zu, wo der Quarz zermalmt und gemahlen wird. Wie seltsam sah sie doch bei der flackernden Beleuchtung des Talglichts in der Laterne aus, mit ihren vielen Kammrädern, Triebrädern und Walzen, mit ihren Knetmaschinen und Stampfen, unter welchen die Steine zermalmt werden! Schon hier begann der Mut mir zu sinken, als ich die dumpfe, feuchte Luft einatmete; aber ich ermannte mich, putzte das Licht, und schloß die Türe zum vierten Hof mit dem Schlüssel auf, den ich sodann wieder zu mir steckte. Wenige Schritte, und ich befand mich im Hofe und stand einen Augenblick später auf der Grenzscheide. Das ganze hohe, schwarze Plankwerk war in seiner Länge niedergerissen, und man hatte die Erde tief aufgegraben, um festen Halt für eine neue Scheidemauer zwischen Leben und Tod zu gewinnen. Die öde, unheimliche Leere des Ortes ergriff mich tief, und unwillkürlich stand ich still, um mich gleichsam gegen die Situation zu stählen.
Es war ein rauher, kalter, stürmischer Abend; die Wolken trieben schnell und in zerrissenen Fetzen unter dem Monde hin, so daß der Kirchhof mit seinen weißen Kreuzen und Leichensteinen bald in voller, bald in dämmernder Beleuchtung lag. Dann und wann fuhr der Wind mit hohlem, klapperndem Getöse über die Gräber, sauste durch die entblätterten Linden, pfiff mit klagendem Laute durch Gesträuch und Staket, verfing sich in der Ecke bei der Kirche, jagte dann über das Kirchendach und drehte die rostige Wetterfahne mit einem knarrenden Laut, der einem gellend in die Ohren schnitt. Ich schaute zur Linken – dort erblickte ich ein Paar seltsame weiße Gestalten, die sich wellenförmig im Mondlicht zu bewegen schienen. »Laken«, sagte ich bei mir selbst, »nichts anders als weiße Laken! Verwünschte Unsitte, Wäsche auf dem Kirchhofe zu trocknen, man sollte einen Artikel im ›Polizeifreunde‹ darüber schreiben!« Ich blickte zur Rechten, dort lag ein Haufen Knochen, nicht zwei Schritte von mir entfernt. Ich näherte mich denselben mit der Laterne in der linken Hand; tastend streckte ich die rechte nach ihnen aus, da raschelte es in dem Haufen, er sank zusammen, und etwas Warmes und Weiches berührte meine Hand. Ich zuckte zusammen. »Ratten!« sagte ich bei mir selbst, »Kirchhofsratten, nichts als Kirchhofsratten! Oh, mein Gott! Ich ängstige mich so; aber nein, ich will mich nicht ängstigen, das ist ja lächerlich, – albern – wo, zum Henker, bleibt doch der Arm? Es ist ja kein einziger heiler da!«
Mit fiebernder Hast und schlotternden Knien durchwühlte ich einen Haufen nach dem andern. Das Talglicht zitterte und flackerte im Winde, plötzlich erlosch es, und als der fette, stinkende Unschlittsdunst mir entgegenschlug, wurde mir fast übel zumute. Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung faßte ich mich wieder, eilte ein paar Schritte vorwärts, und gewahrte am Ende des Kirchhofs einen Sarg, der, noch beinahe ganz erhalten, aus der Erde gehoben und unter eine Hänge-Esche gestellt war. Ich näherte mich demselben und sah, daß er von altmodischer Form, aus ziemlich schweren, aber jetzt halb vermoderten Bohlen gezimmert war, und daß er eine Metallplatte mit einer fast erloschenen Inschrift auf dem Deckel trug. An der einen Ecke hatte der Zahn der Zeit so an den morschen Brettern genagt, daß ich ihn mit Anwendung eines Brecheisens leicht mußte öffnen können. Ich schaute mich um – eine Haue lag auf der Erde neben einem Paar Spaten; ich ergriff einen der letzteren, stemmte das Blatt zwischen die Bretter, und mit einem dumpfen Krach sprengte ich den Deckel auf. Mit abgewandtem Gesicht schob ich die Hand durch die Öffnung, tastete umher und erfaßte einen Arm des Skeletts, den ich mit einem kräftigen Ruck abriß. Dadurch löste sich der Kopf des Skelettes und rollte mir im selben Augenblick fast gerade vor die Füße. Ich ergriff ihn und wollte ihn wieder in den Sarg legen, aber ich sah in seinen leeren Augenhöhlen einen grünlichen und phosphoreszierenden Glanz schimmern, der abwechselnd kam und verschwand; ein Fiebergrausen, ein fast wahnwitziger Schreck ergriff mich. Ich zwang mich, in die Höhe zu sehen, und mein Blick fiel auf ein einzelnes erhelltes Fenster in der Häuserreihe gegenüber. Dort saß ein halbnacktes, geschminktes Frauenzimmer, im Halbschlummer nickend, bei einem fast niedergebrannten Lichtstumpfe. Ich sah hinab – die leeren Augenhöhlen leuchteten noch, aber mit einem stärkeren Glänze als vorher. Ich mußte Gewißheit haben, ich mußte eine natürliche Erklärung dieses Phänomens finden, wenn ich nicht wahnsinnig werden sollte, – das fühlte ich. Ich ergriff den Schädel wieder, aber nie habe ich einen so überwältigenden Eindruck von dem Gesetz der Vergänglichkeit empfangen wie in diesem Augenblick. Hunderte jener ekelhaften, feuchten Insekten, welche man Holzwürmer nennt, wimmelten aus jeder Öffnung, jeder Spalte des Schädels hervor, und ein paar der glänzenden, schlangenähnlichen Tausendfüßler, welche die Naturforscher Geophilen nennen, ringelten sich aus den Augenhöhlen. Unwillkürlich mußte ich an Heines Worte gedenken, und fast widerstrebend, kämpfend, als vermöchte ich nicht länger meinen eigenen Willen zu beherrschen, mußte ich die furchtbaren Zeilen wiederholen:
»Ich seh’ die Toten,
Sie liegen unten in den schmalen Särgen,
Die Hand’ gefaltet und die Augen offen,
Weiß das Gewand und weiß das Angesicht,
Und durch die Lippen kriechen gelbe Würmer.«
Kaum hörte ich meine eigenen Worte, als sie mich mit Entsetzen erfüllten. Ich schleuderte den Kopf in den Sarg zurück, sprang in zwei Sätzen über die nächsten Knochenhaufen, ohne mir Zeit zu lassen, die Laterne mitzunehmen, schoß wie von Dämonen gejagt, durch die dunkle Mühle, deren Stampfen und Räder ich zu hören glaubte, und machte erst Halt in dem großen Hofraume der Fabrik, wo ich am Springbrunnen den mitgebrachten Arm wusch und meinen derangierten Anzug in Ordnung brachte. Dann schob ich meine Beute unter meinen Paletot, nickte dem Pförtner zu, der mich verdrießlich brummend hinausließ, und trat bald darauf in mein Zimmer mit einer Miene, die ich für vollkommen ruhig und furchtlos hielt.
»Was, zum Kuckuck, fehlt dir, kleiner Siemsen?« rief Sölling, als er mich eintreten sah. »Du hast doch keine Gespenster gesehen, oder leidest du vielleicht an dem beginnenden Katzenjammer? Du bist auch höllisch lange fortgeblieben; die Uhr ist ja fast zwölf.«
»Siemsen ist krank«, sagte Nansen, »gebt ihm ein Glas Wasser, ehe er ohnmächtig wird.«
»Aber schenkt es nicht zu voll«, schrie ein anderer. »Siemsen verträgt heute abend nicht viel mehr.«
Jetzt war die Reihe, zu triumphieren, an mir. Rasch schlug ich den Paletot zurück und legte meine Beute ohne ein Wort zu reden mitten auf den Tisch.
»Tod und Teufel!« schrie Sölling in anatomischer Begeisterung. »Was für einen Arm hast du da erwischt? Ja, Siemsen weiß, was er tut. Seht nur, was für einen allerliebsten Mädchenarm er uns da gebracht hat. Seht nur diese Hand! Wie fein und klein, und wie vortrefflich konserviert! Ich bin überzeugt, daß der Handschuh Nummer sechseinhalb ihr passen wird. Gott mag wissen, wer die geküßt und gestreichelt hat.«
Der Arm wanderte unter allgemeiner Bewunderung von Hand zu Hand, und mit jedem Worte, jeder Äußerung, die ich vernahm, stieg mein Abscheu und mein Ekel vor mir selbst. Ein Mädchenarm! Was für ein Mädchen mochte das gewesen sein? Jung und schön gewiß, der Stolz ihrer Brüder und die Freude ihrer Eltern. Früh war sie hingewelkt, zärtliche Herzen hatten sie gepflegt, liebevolle Gedanken und tröstliche Hoffnung hatten ihr Krankenlagererwacht. Ruhig und sanft war sie entschlummert, und den Frieden, der sie im Leben begleitet, hatte man ihr im Tode mitgeben wollen, deshalb war der Sarg aus schwerem, dickem Eichenholze gezimmert. Und diese Hand, die so freundlich zum Abschied und Lebewohl gewinkt, die so manchen treuen Händedruck empfangen, die man so geliebt und so vermißt hatte, lag nun auf einem Anatomietische, von Tabakswolken umwallt, von neugierigen Blicken beglotzt, und ein Gegenstand der rohesten Spaße. O mein Gott, wie gräßlich war das!
»Hör«, sagte Sölling, als die allgemeine Begeisterung sich gelegt hatte, »den Arm muß ich haben! Wenn er mit Chlorkalk gebleicht und ein wenig mit Kopalfirnis bestrichen wird, so wird er ein ausgezeichnetes Präparat, den nehme ich mit!«
»Nein, das gebe ich nicht zu. Es war unrecht von mir, ihn vom Kirchhofe wegzunehmen; ich gehe gleich zurück und lege ihn wieder hin.«
»Nein, hört nur!« schrie Sölling unter dem unauslöschlichen Gelächter der andern. »Jetzt wird die Sache, meiner Treu’, kadaver-lyrisch in des Wortes eigentlichster Bedeutung. Ich will den Arm haben, was es auch kosten mag.«
»Nein«, rief Niels Daae, »dazu bist du nicht berechtigt. Er ist begraben und in der Erde gefunden, reines Fundgut, und wir andern haben ebensoviel Recht daran wie du.«
»Jawohl, jeder kann seinen Teil davon nehmen«, schrie einer von der Gesellschaft.
»Daraus wird nichts«, rief Sölling. »Es wäre ja der schändlichste Vandalismus, den Arm zu zersplittern. Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden«, fügte er pathetisch hinzu.
»Versteigert ihn!« schrie Nansen, »und laßt das Geld in die Kneipkasse wandern, die bedarf dessen sehr.«
»Jawohl, der Arm soll versteigert werden«, rief Daae, in welchem plötzlich der Jurist erwacht war. »Stille, meine Herren, il ne faut pas rire de la mort, wie Napoleon sagte. Ich bin Auktionator, und der Kirchhofsschlüssel soll den Hammer spielen.«
Ein neues Gelächter erfolgte, als Daae mit gravitätischer Würde am Ende des Tisches Platz nahm und mit näselnder Stimme und monotoner Aussprache losschnarrte:
»Hiermit wird allen kund und zu wissen getan, daß am 25. November, Mitternachts präzise zwölf Uhr, auf dem Korridor der Regenz, Nummer fünf, ohne Abhaltung weiterer Auktionen, zu absolutem Verlauf ein schöner und zierlicher Damenarm mit dazugehörigem Inventar von Handwurzelknochen und Zwischengelenken samt Fingerspitzen in heilem und gutem Zustande ausgeboten wird. Es wird bemerkt, daß das Verkaufte unmittelbar nach der Auktion abzuholen ist, in der Verfassung, in welcher es sich beim Zuschlage befindet, und wird zahlungsfähigen Käufern ein sechswöchentlicher Kredit gewährt. – Ein dänischer Schilling ist geboten!«
»Eine Mark!« rief Sölling spöttisch.
»Zwei Mark!« schrie einer von der Gesellschaft.
»Vier!« steigerte Sölling. »Das ist er rechtschaffen wert. Biete mit, Siemsen! Du siehst ja aus, als säßest du in einer Waschballje mit lebendigen Stichlingen.«
Ich bot gezwungen eine Mark mehr. Sölling bot einen Reichstaler; niemand ging höher, der Hammer fiel, und der Arm gehörte Sölling.
»Sei so gut«, sagte dieser, indem er mir ein Markstück reichte, »das hast du redlich verdient. Das ist dein Handgeld als Leichenräuber. Den Rest sollst du nächstens erhalten, falls du nicht vorziehst, ihn der Kneipkasse zu überweisen.«
Mit diesen Worten wickelte Sölling den Arm in ein Zeitungsblatt. Alle erhoben sich, und gleich darauf polterte die lustige Gesellschaft die Treppe hinab, das Tor der Regenz wurde zugeschlagen, der Lärm verhallte auf der Straße, und alles ward still wie das Grab.
Es war ein seltsamer Übergang. Ich stand halb betäubt da und stierte das in Empfang genommene Markstück an, daß ich endlich mechanisch in die Westentasche steckte. Meine Gedanken waren noch in zu starker Bewegung, mein Gemüt zu aufgeregt, als daß ich hätte schlafen können. Ich schob die Lampe so hoch wie möglich empor und ergriff mein anatomisches Kollegienheft nebst Loders Tafeln, um mich durch Lektüre zu beruhigen; aber das wollte mir nicht gelingen, dazu war die Unruhe meines Gemütes zu groß. Plötzlich hörte ich einen Ton wie von einem schwingenden Perpendikel. Ich erhob das Haupt und horchte gespannt; denn weder in meinem Zimmer noch in dem Nebenzimmer befand sich eine Uhr, aber der Ton dauerte fort; im selben Augenblick begann meine Lampe zu flackern, es fehlte ihr offenbar an Öl. Gerade als ich mich erheben wollte, um sie wieder zu füllen, fiel mein Blick auf den Türpfosten gerade gegenüber, und ganz leise, aber rhythmisch und taktmäßig, sah ich den Kirchhofsschlüssel, welchen ich dorthin gehängt hatte, sich in abgemessenen Schwingungen hin und her bewegen. Zuweilen wollten diese fast aufhören, aber dann erhielt der Schlüssel einen Schlag wie von einer unsichtbaren Hand, und die Schwingungen wurden so stark, daß sie ihn fast im Kreise herumzudrehen schienen. Ich blieb einen Augenblick mit offenem Munde und weit aufgerissenen Augen stehen, aber der Schlüssel fuhr fort, sich so mechanisch wie das Pendel einer Uhr zu schwingen. Ein eiskalter Schauer überlief meinen Rücken, und der Angstschweiß perlte von meiner Stirn. Endlich vermochte ich es nicht länger auszuhalten; ich schoß zur Türe, ergriff den Schlüssel mit beiden Händen, legte ihn auf meinen Schreibtisch und bedeckte ihn mit Loders Tafeln und ein paar anderen Folianten. Erst dann schöpfte ich wieder Atem.
Die Lampe war im Begriff zu erlöschen, und ich hatte kein Öl mehr. Dann und wann blakte die Flamme hoch empor und warf einen unsicheren Flackerschein über mein Gemach. Die Schatten wurden bald lang, bald kurz; es war, als ob sie lebten und in schwankenden Gestalten durch das Zimmer huschten. Mit fiebernder Hast entkleidete ich mich, löschte die Lampe aus und sprang ins Bett, um meine Visionen zu ersticken.
Aber hier schienen sie erst recht ins Leben zu erwachen. Bald war es mir, als stünde ich auf dem Kirchhofe und hörte die Wetterfahne der Kirche durch die Luft knarren. Dann befand ich mich in der Mühle; ich sah ihre vielen Trieb- und Kammräder sich durcheinanderdrehen und hatte Mühe, ihnen auszuweichen. Dann kam ich in einen endlos langen, niedrigen und stockfinstern Gang, wo mich etwas Unbestimmtes verfolgte, und in wildestem Entsetzen rannte ich vorwärts, bis ich in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen schien, während eine riesige Last auf mir drückte. Dann fuhr ich aus dem Halbschlummer empor, horchte und spähte umher und versank wieder in einen unruhigen Schlaf. Plötzlich hörte ich etwas von oben auf meine Decke herabfallen. Surr, surr, schnurr erklang es über meinem Kopfe. Es war eine große Brummfliege, welche in meiner Stube ihr Winterquartier aufgeschlagen und welche die starke Ofenwärme erweckt hatte, so daß sie jetzt in großen Kreisen durch mein Zimmer flog. Bald war sie dicht vor meinem Ohre, bald hörte ich sie in einiger Entfernung, dann kam sie wieder zurück, surrte über mein Gesicht, schnurrte unter der Zimmerdecke hin, stieß an den Kachelofen, fiel auf die Diele, wo sie im Staube herumschwirrte, flog dann wieder dicht über mir hin, surr, surr, schnurr – es war nicht mehr auszuhalten. Endlich hörte ich sie in eine Tüte mit Puderzucker kriechen, welche Hans auf der Fensterschwelle hatte liegen lassen; ich sprang auf, machte die Tüte zu, aber sie schnurrte drinnen fast ärger als zuvor. Wieder ging ich zu Bett und versuchte zu schlafen, aber es wollte nicht recht gelingen. Ich begann zu zählen, erst bis Hundert, dann bis Tausend, und endlich empfand ich jenes Gefühl der Ermattung, welches dem eigentlichen Schlafe vorherzugehen pflegt. Ich befand mich in einem schönen Garten; der Goldregen schimmerte, die Syringen dufteten, und die zarten rosenroten Blätter der Apfelblüten flatterten wie Schmetterlinge durch die Luft, wenn der laue Frühlingswind sie herabwehte. Neben mir ging ein schönes, junges Mädchen; ich kannte sie gut, und doch war es mir unmöglich, mich auf ihren Namen oder auch nur darauf zu besinnen, wie wir dazu gekommen sein, miteinander umherzuwandern. Dann und wann stand sie still, um eine früh aufgeblühte Blume oder ein buntes Käferchen auf einem Blatte zu bewundern. So schritten wir vertrauungsvoll weiter auf den kiesbedeckten Pfaden, wo die Johannisbeeren und Stachelbeeren blühten und wo ich deutlich das Summen der Bienen vernehmen konnte, während sie um die Blumenkelche gaukelten. Plötzlich fuhr ein kalter Zugwind durch den Garten, das junge Mädchen erbebte, und ihre Wangen erblichen.
»Friert dich denn nicht?« sagte sie zu mir.
»Mich friert! Merkst du nicht, daß Nacht und Tod herannahen?«
Ich wollte antworten; aber im selben Augenblick fuhr ein neuer, stärkerer, eisiger Windhauch durch den Garten. Die Blätter verwelkten auf den Bäumen, die Blumen senkten ihre Häupter, und die Bienen fielen von den Johannisbeerblüten tot zur Erde.
»Er kommt!« flüsterte sie schaudernd. Ich wollte sie an meine Brust drücken, aber es war, als verblaßte und verschwände ihre Gestalt und stünde undeutlich in der Luft. Da sauste ein dritter, noch heftigerer Sturm durch den Garten. Das Laub flog gelb und dürr in großen Haufen an der Erde hin und wurde dann wild in die Luft emporgewirbelt. Die blühenden Sträucher wurden im Nu schwarz und kahl, Kreuze und Grabdenkmäler traten unter den entblätterten Bäumen hervor; – ich stand wieder auf dem Kirchhofe, und die rostige Wetterfahne knarrte schrill durch die Luft. Neben mir stand ein starker, messingbeschlagener Sarg von Eichenholz mit einer Metallplatte auf dem Deckel. Ich beugte mich hinab, um die Inschrift zu lesen. Da flog plötzlich der Deckel schwer zurück, und aus dem Sarg erhob sich das junge Mädchen, das ich im Sarge gesehen. Ich wollte ihr zu Hilfe eilen, und sie in meine Arme schließen, da – o Grausen! – sah ich an den gläsernen Augen, daß es jenes gefallene Weib sei, das ich bei dem Lichtstumpfe im Fenster hatte nicken sehen. Wild umschlang sie mich und zog mich in den Sarg hinab. Der Atem verging mir, ich schrie laut um Hilfe und – erwachte dadurch.
Mein Zimmer kam mir ungewöhnlich hell vor, aber ich entsann mich, daß wir Mondschein hätten, und dachte nicht weiter daran. Übrigens schienen manche Begebenheiten meines Traumes ihre natürliche Erklärung durch die Umgebungen zu finden, in welchen ich geschlafen hatte. Die Fliege surrte noch in der Tüte wie ein ganzer Bienenschwarm; eines der oberen Fenster war aufgesprungen, und die Nachtluft drang durch dasselbe in mein Zimmer. Ich stand auf, um es zu schließen, und bemerkte erst jetzt, daß das starke, helle Licht, welches mein Gemach erfüllte, nicht vom Monde kam, sondern gleichsam von der Kirche gegenüber ausstrahlte. Im selben Augenblick begannen die Glocken zu läuten, erst gedämpft und wie in weiter Ferne, dann stärker und stärker, bis sie endlich, mit dem Brausen der Orgel vermischt, wie ein gewaltiger Strom von Tönen an mein Fenster schlugen. Ich starrte hinaus und wollte meinen eigenen Augen kaum glauben. Die Häuser in Lademärket waren lauter kleine, einstöckige Gebäude mit Erkern und hölzernen Dachrinnen, die in geschnitzte Drachenköpfe ausliefen. Die meisten hatten Söller oder Altane mit geschnitztem Gitterwerk, und den Eingang bildeten hohe Steintreppen mit Messinggeländern, deren blank polierte Knäufe im Lichtglanze blinkten. Aber was mich am meisten wundernahm, war die Kirche. Diese lag nicht wie sonst; der runde Turm war gegen Kjöbmagergaden und die Fassade der Kirche mit den Strebepfeilern und spitzbogigen Fenstern gegen die Regenz gekehrt. Die Kirche war glänzend erhellt, und jetzt erst wurde es mir ganz klar, daß der starke Lichtschimmer, welcher mein Zimmer erfüllte, von drüben herkam. Sprachlos blieb ich stehen; der Glockenklang und das Brausen der Orgel durchbebten die Luft, und auf dem Mittelgang der Kirche sah ich einen großen Hochzeitszug sich langsam zum Altar bewegen. Allmählich vermochte ich die einzelnen Gestalten zu unterscheiden. Alle trugen die alten Trachten der Holbergschen Zeit: Die Damen Brokat- und Atlasgewänder, mit Perlenschnüren im hoch aufgetürmten, stark gepuderten Haare; die Herren meist Uniformen mit Kniehosen und Degen, den Chapeaubas unter dem Arme. Vor allem jedoch zog die Braut meine Aufmerksamkeit an. Sie war in weißen Atlas gekleidet, und auf den gepuderten Locken, die halb von dem herabwallenden Schleier verdeckt wurden, lag ein welker Myrtenkranz. Ihr zur Seite schritt der Bräutigam in roter Uniform und mit einem Stern auf der Brust. Sie näherten sich dem Altare, wo ein Geistlicher im schwarzen Ornat und mit weißer Allongeperücke sie erwartete. Sie traten vor ihn hin, und ich konnte deutlich wahrnehmen, daß er ein Ritual oder eine Formel aus der Agende verlas, die er in der Hand hielt, und deren Goldschnitt im Lichte funkelte.
Einer von dem Gefolge schritt heran und schnallte den Degen des Bräutigams los, welcher darauf seine rechte Hand der Braut entgegenstreckte.
Sie wollte ihm die ihre geben, aber im selben Augenblick stürzte sie ohnmächtig nieder. Das ganze Gefolge drängte sich um die Braut, welche bewußtlos vor den Altarstufen lag, – da erloschen plötzlich die Lichter, der Orgelklang verstummte, und die Gestalten zerflossen wie bleiche Nebelmassen.
Draußen auf dem Platze jedoch nahm die Helligkeit zu, das Glockengeläut dauerte fort, und plötzlich öffneten sich weit die Flügel der Kirchentür, und derselbe Hochzeitszug bewegte sich über den Platz. Ich wollte entfliehen; aber es war mir nicht möglich, eine Muskel zu regen. Starr und festgebannt mußte ich auf die geisterhaften Gestalten hinabstieren, die näher und näher zu mir heranrückten. Zuerst kam der Prediger, dann der Bräutigam mit der Braut, und als letztere ihre Augen erhob und den Blick auf mich heftete, erkannte ich, daß es das junge Mädchen aus dem Garten war. Es lag etwas so Schmerzliches, so Wehmütiges und so Flehendes in diesem Blick, daß ich ihn kaum zu ertragen vermochte; aber nimmer vermag ich das erschütternde Gefühl zu schildern, das mich durchzuckte, als ich plötzlich wahrnahm, daß der rechte Ärmel ihres weißen Atlasgewandes leer und schlaff herunterhing.
Ein eisiges Grausen ergriff mich. Ich fühlte, daß die Schar eine bestimmte Mission hatte; ich wußte, sie werden herankommen und Rechenschaft von mir fordern, obschon die klafterdicken Mauern der Regenz zwischen ihr und mir lagen. Schaudernd blieb ich stehen, bis das letzte Paar vom Platze verschwunden war. Da hörte ich die Glocke der Regenz erschallen, – nicht wie sonst mit lustigem, vergnügtem Tone, sondern mit einem seltsam heiseren, trockenen, geborstenen Klange, und gleich darauf knarrte das Tor in seinen Angeln. Ich wandte mich gegen die Tür, ich wußte, daß sie verschlossen sei, und doch wußte ich, daß mir das nichts nützen würde, daß sie hereinkommen würden, selbst wenn eine eiserne Mauer zwischen ihnen und mir läge. Seltsam knisterte und rauschte es durch die Luft, bald wie Seide und Atlas, die an den Treppen- und Türpfosten anstießen, bald wie das dürre, raschelnde Rohr, wenn der Wintersturm durch dasselbe hinseufzt. Näher und näher kamen die schrecklichen Gestalten; die Tür ging nicht auf, aber es war, als würde sie in einem gläsernen Nebel verwandelt, aus welchem die bleichen Gestalten hervorquollen. Mehr, immer mehr drängten sich herein, enger, immer beengter ward der Raum in meinem Zimmer, aber da war es, als böten die Mauern den drohenden Geistern kein Hindernis, als gäbe es für sie nichts Festes, nichts Undurchdringliches. Dichter und dichter scharten sie sich um mich her mit finstern, dräuenden Mienen; kleiner und kleiner ward der Zwischenraum zwischen ihnen und mir; mehr und mehr wurde ich in meine Ecke gedrängt, bis sie fast wie eine Bürde auf meiner Brust lasteten und mich schier erdrückten. Endlich schienen keine mehr im Gemache Platz zu finden. Die Atlas- und Seidengewänder knisterten und raschelten nicht länger um mich her; eine Totenstille entstand, und ich sah den Geistlichen mit der Agende in der Hand auf mich zuschreiten.
»Was willst du?« hörte ich es in mir sprechen; ich fühlte, daß meine Lippen sich bewegten, aber es war mir nicht möglich, einen Laut mit denselben hervorzubringen. Der Geistliche mußte jedoch meine Gedanken erraten können; denn er erhob die Hand und sagte mit einer seltsam tiefen und doch klanglosen Stimme: »Das Grab ist heilig und unverletzlich; den Frieden der Toten darf niemand stören.«
»Heilig und unverletzlich!« erklang es durch die Schar, wie wenn ein undeutliches Echo sich zwischen den Baumstämmen verliert.
Mich schauderte in tiefster Seele, ich empfand einen unwiderstehlichen Drang, eine brennende Lust, auf die Knie zu sinken und um Gnade und Vergebung zu flehen; aber es war, als säße ein betörender Dämon auf meiner Zunge, der mich zu antworten zwang: »So ist es schlimm um den Totengräberbestellt; er legt jeden Tag neue Leichen zu den alten, und lebt darum nicht minder froh.«
»Er tut nur seine Pflicht«, antwortete der Geistliche, »und keiner wird ihn darob schelten; aber übermütigen Frieden des Grabes stört, der wird der Strafe nicht entgehen.«
»Er wird der Strafe nicht entgehen«, erscholl es abermals aus der Schar mit Stimmen, wie wenn der sausende Herbstwind das gelbe Laub über die Erde jagt.
»Was wollt Ihr? Was verlangt Ihr?« schrie ich in der höchsten Verzweiflung der Todesangst.
»Gib der Gruft zurück, was der Gruft gehört!« erklang wieder dieselbe tiefe Stimme.
»Gib der Gruft zurück, was der Gruft gehört!« wiederholte die Schar, welche sich abermals drohend um mich drängte.
»Das ist unmöglich! Das kann ich nicht, ich habe ihn verkauft, ich habe ihn auf einer Auktion versteigert«, schrie ich verzweiflungsvoll. »Er war begraben und in der Erde gefunden; fünf Mark acht Schillinge! Ein Reichstaler! Bietet niemand mehr? Der Arm gehört Sölling!«
Ein Schrei, ein gellender Rache- und Verzweiflungsschrei ging durch die Schar. Wie feuchte Nebel drangen die Gestalten heran und drückten mit einer Gewalt auf mich ein, als wollten sie mich ersticken. Es funkelte und blitzte mir vor den Augen, und ich hörte ein schweres, dumpfes Gepolter, während ich mit diesen Schatten rang, die keinen materiellen Haltepunkt darboten. Ganz außer mir, stieß ich das Fenster auf, und indem ich eine Anstrengung machte, auf die Straße hinauszuspringen, schrie ich in der höchsten Angst der Verzweiflung: »Hilfe! Mörder! Man ermordet mich!«
Der Widerhall meiner eigenen Stimme, der noch durch mein Zimmer klang, erweckte mich. Ich saß in bloßem Hemde auf der Fensterbank, das eine Bein halb aus dem Fenster gestreckt, und mit beiden Händen krampfhaft den Fensterpfosten umklammernd. Drunten auf der Straße stand der Nachtwächter in Holzschuhen, mit Morgenstern und Kapuzmantel, und stierte mich verwundert an, während die leichten Nebelwolken, die furchtbaren Visionen der Nacht, wie ein weißlicher Rauch durch das Fenster hinauszogen. Draußen brach der Novembertag an, grau und feucht, und als die frische Morgenluft meine Wangen kühlte, kehrte auch die Besinnung zurück. Ich erblickte den Wächter – Gott segne ihn! Das war doch ein wirklicher, handgreiflicher Wächter, und keines der täuschenden Spukbilder der Nacht. Ich blickte auf den runden Turm; wie massiv, ehrwürdig und unverrückbar sah er aus, als er dort grau in der grauen Morgendämmerung stand! Ich blickte nach Landemärket hinüber; es war Licht in dem Bäckerladen, und ein Torfbauer stand draußen und band seinen Pferden die Futtersäcke unters Maul. Ich schielte halb ängstlich in mein Zimmer, allein alles war in gewohnter Ordnung. Mein hochlehniger Armsessel, mein blinder Rasierspiegel, mein gichtbrüchiges altes Sofa, – alles stand auf seinem Platze, ja selbst die Tüte mit dem Puderzucker lag noch im Fenster, und die Fliege surrte darin. Ich fühlte, daß ich wach sei, und daß der Tag graue. Rasch sprang ich von der Fensterbank herab und wollte mich wieder ins Bett legen, als mein Fuß an etwas Hartes und Scharfes stieß. Ich bückte mich, um es aufzuheben, tastete im Halbdunkel auf der Diele umher und erfaßte einen langen, dürren, halb vermoderten Arm, dessen steife Finger ein zusammengerolltes Blatt Papier umkrampften. Ich tastete weiter und erfaßte einen zweiten, der ebenfalls ein zusammengerolltes Papier zwischen den Fingern hielt. Jetzt begann ich an meinem Verstände zu zweifeln. Ich wußte, daß, was ich gesehen, eine Folge meiner erhitzten Fantasie, ein Traum sei, der gegen sein Ende hin den Charakter einer Sinnestäuschung angenommen habe. Ich wußte, daß ich wach, daß das Ganze eine Halluzination sei, und doch lagen hier feste, unwiderlegliche Beweise des Gegenteils vor. Ich glaubte wirklich, ich sei im Begriffe, wahnsinnig zu werden, und mit fiebernder Hast öffnete ich die Papierrolle. Dort stand nur das Wort ›Sölling‹.
Ich ergriff das zweite Papier und rollte es auf; dort stand: ›Nansen‹.
Noch hatte ich die Kraft, ein drittes zu ergreifen und zu öffnen; dort stand: ›Siemsen‹; aber im selben Augenblicke stürzte ich schon wie besinnungslos zur Erde.
Als ich wieder zu mir kam, stand Niels Daae neben mir mit einem geleerten Waschgusse, dessen Inhalt noch vom Sofa herabtroff, auf das er mich gelegt hatte.
»Hier, trinke das«, sagte er mit schmeichelndem Tone, »dann kommst du schon wieder auf die Beine. Es ist ein vortrefflicher Cognac; ich nahm selber erst einen Schluck davon.«
Verstört blickte ich mich um und nippte an dem Glase, dessen kräftiger Inhalt schnell meine Lebensgeister ermunterte.
»Was ist geschehen?« fragte ich mit matter Stimme.
»Ach, eigentlich nichts von Bedeutung«, erwiderte Niels Daae. »Du bist nur im Begriff gewesen, dir selbst durch eine kleine Kohlenstoffvergiftung das Leben zu nehmen. Es sind auch verwünscht schlechte Klappen, die hier an den alten Kachelöfen auf der Regenz sitzen. Der Sturm heute nacht muß sie zugeschlagen haben, wenn du nicht selbst so genial gewesen bist, sie zu schließen, ehe du zu Bett gingst. Wäre ich eine Stunde später gekommen, kleiner Siemsen, so wärest du so weit auf der Reise zu Sankt Peter mit den Goldschlüsseln gewesen, daß ein alter Cognac dich nicht mehr hätte zurückrufen können. Nimm noch einen kleinen Schluck!«
»Wie bist du heraufgekommen?« fragte ich, mich aufrichtend.
»Auf die einfachste und natürlichste Weise von der Welt«, antwortete Niels Daae. »Ich hatte diese Nacht die Wache auf dem Hospitale; aber weil ich ziemlich viel Punsch bei Lars Mathiesen getrunken hatte, schlief ich mehr, als ich wachte, und fand es daher passend, mich gegen die Morgenstunde fortzuschleichen. Als ich nach Krystalgaden heimging, kam ich an der Regenz vorbei und sah dich hier rittlings in bloßem Hemde auf der Fensterbank sitzen und den Nachtwächter durch das Geschrei ›Feuer, Mordjo!‹ oder dergleichen alarmieren. Es gelang mir endlich, Jensen dort unten aufzuklopfen, und durch sein Fenster kam ich in die Regenz. Es ist auch eine sonderbare Manier, sich in bloßem Hemde mitten auf die Diele zu legen!«
»Wo kommen die Arme her?« fragte ich, noch halb verstört.
»Ach, der Teufel hole die Arme!« rief Niels Daae; »sieh nur zu, daß du wieder auf die Beine kommst! Die Arme da? Das sind ja keine andern als die, welche ich selbst abgeschnitten habe. Es war ein ausgezeichnet schlauer Einfall. Du weißt ja, wie brummig Sölling wird, wenn er einmal eine Repetierstunde aussetzen soll. Nun hatte ich die Gänse zugeschickt erhalten und wollte euch gerne zu Lars Mathiesen mithaben. Ich wußte, ihr solltet die Osteologie der Arme vornehmen, deshalb ging ich zu Sölling, machte die Tür mit seinem eigenen Schlüssel auf und stahl die Arme von seinen Skeletten. Dasselbe tat ich hier auf der Regenz, und deinen mauste ich, während du unten im Lesezimmer warst. Bist du so genial gewesen, sie vom Gestell herabzureißen und die Etiketten abzunehmen? Ich hatte sie so schön mit Papierstreifen bezeichnet, damit jeder sein Eigentum wieder erhalten könne.«
Ohne ein Wort zu reden, kleidete ich mich an und ging bald mit Daae unter dem Arme in die frische, kühle Morgenluft hinaus.
In Krystalgaden trennten wir uns, und ich wanderte unverweilt nach dem Westerwalle, wo Sölling wohnte. Ohne der Einwendungen seiner alten Wirtin zu achten, ging ich in das Zimmer, wo Sölling den Schlaf der Gerechten schlief. Dort nahm ich den Arm, der noch, in Papier gewickelt, auf seinem Schreibtische lag, legte das Markstück an seine Stelle und eilte so rasch wie möglich auf den Kirchhof zurück.
Wie seltsam war alles verändert, als ich wieder dies Revier betrat! Der Morgennebel hatte sich gelichtet und hing wie glänzende Reifperlen in den Zweigen der Bäume, wo die Sperlinge zwitscherten. Keiner der Arbeiter war noch auf dem Kirchhofe. Ich schritt zu der großen Hänge-Eiche hinüber und stand wieder vor dem schweren Sarge von Eichenholz. Behutsam ließ ich den geraubten Arm in denselben hinabgleiten und klopfte mit sorglicher Hand die rostigen Nägel fest, gerade als die ersten Strahlen der blassen Novembersonne über den Kirchhof spielten.
Erst da ward es mir wieder leicht ums Herz.
Doktor Siemsen schwieg und schaute fragenden Blickes im Kreise umher. Draußen erklang das Schellengeläute des kleinen isabellfarbenen norwegischen Kleppers, der ungeduldig den Kopf schüttelte, und bald darauf saß der joviale Doktor wieder auf seinem hochlehnigen Sessel mit Fußsack und Kutschverdeck.
Aber im Pfarrhause schlief man nicht allzuviel in dieser Nacht, – selbst der Vetter Jakob war erschüttert.