Der ge­raub­te Arm
von
Vilhelm Bergsöe

 

 

Die ›Ge­spens­ter­no­vel­len‹ des dä­ni­schen Zoo­lo­gen und Schrift­stel­lers Vil­helm Bergsöe (1835-1911) er­schie­nen in der Über­set­zung Adolf Strodt­manns 1873 in Ber­lin, ein Jahr nach der dä­ni­schen Erst­aus­ga­be. Sie mach­ten den Na­men die­ses in sei­ner Hei­mat viel­ge­le­se­nen Au­tors auch in Deutsch­land be­kannt. Ei­ne Rei­he sei­ner Er­zäh­lun­gen und Ro­ma­ne spielt in Ita­li­en, wo Bergsöe lan­ge Zeit leb­te. ›Der ge­raub­te Arm‹ ist ei­ne sei­ner bes­ten Ge­spens­ter­no­vel­len, die sich durch ei­ne span­nen­de Hand­lung, den Reich­tum an in­ter­essan­ten Cha­rak­teren aus dem Stu­den­ten­mi­lieu und durch ef­fekt­voll wech­selnde, aben­teu­er­li­che und schau­ri­ge Sze­nen aus­zeich­nen.

 

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Es war Weih­nachts­abend. Drau­ßen auf den Fel­dern lag der Schnee dick und dicht in sanf­ten Wel­len­li­ni­en über der Er­de; er hing wie Sil­ber­tuch auf den schwar­zen Dorn­he­cken, von wel­chen dann und wann ein aus sei­ner Nachtru­he em­por­ge­scheuch­ter Vo­gel auf­flog, – em­por­ge­scheucht durch das Schel­len­ge­läut ei­nes Schlit­tens, der sich in ra­scher Fahrt dem Pfarr­hau­se nä­her­te, des­sen Fens­ter am En­de der Dorf­stra­ße blink­ten.

Im Pfarr­hau­se war al­les voll stil­ler Er­war­tung. Die Ju­gend war in der großen Gar­ten­stu­be ver­sam­melt, man hat­te um den Weih­nachts­baum ge­tanzt, man hat­te ihn ge­plün­dert und die Lich­ter aus­ge­löscht, man hat­te Vet­ter Ja­kobs sinn­rei­chen Ein­fall be­wun­dert, einen Kie­fern­zweig statt des Mi­stel­zwei­ges un­ter der De­cke an­zu­brin­gen, und man wür­de schon längst zu Tisch ge­gan­gen sein, wenn sich nicht das selt­sa­me, aber un­be­streit­ba­re Fak­tum er­eig­net hät­te, daß Dok­tor Siem­sen noch nicht ein­ge­trof­fen war. Das war mehr als selt­sam, – denn im Pfarr­hau­se ge­hör­te Dok­tor Siem­sen mit zum Weih­nachts­abend und war ein eben­so not­wen­di­ger Teil des­sel­ben wie der Weih­nachts­baum, die Pfef­fer­nüs­se, Ap­fel­ku­chen und der Punsch. Un­zäh­lig wa­ren da­her die Ver­mu­tun­gen über den Grund sei­nes Aus­blei­bens, in de­nen man sich er­ging, und Vet­ter Ja­kob stand schon im Be­griff, einen län­ge­ren Er­klä­rungs­vor­trag zu hal­ten, als man drau­ßen auf dem Ho­fe das­sel­be Schel­len­ge­läu­te ver­nahm, wel­ches die ein­zel­nen Vö­gel an der Land­stra­ße auf­ge­scheucht hat­te.

Es war ein pos­sier­li­ches Fuhr­werk, das in die­sem Au­gen­bli­cke auf dem Pfarr­hof ein­schwenk­te und vor der ehr­wür­di­gen al­ten Stein­trep­pe still hielt.

Zu­erst ein gel­ber nor­we­gi­scher Kiep­per, der miß­ver­gnügt den Kopf mit dem Schel­len­ge­läut und der ro­ten Hör­n­er­zier schüt­tel­te; so­dann et­was, das wie ein hoch­leh­ni­ger, alt­mo­di­scher Ses­sel aus­sah, oben mit ei­nem le­der­nen Kutsch­ver­deck und un­ten mit ei­nem rie­si­gen Fuß­sack, – das al­les auf ein Schlit­ten­ge­stell ge­setzt, wel­ches zum Über­flüs­se noch ei­ne Art von Komp­toir­bock trug, der als Sitz für den Kut­scher be­stimmt zu sein schi­en, wenn ein sol­cher von­nö­ten war.

Für die Be­woh­ner des Pfarr­hau­ses schi­en je­doch dies Ge­fährt nichts Neu­es oder Un­ge­wöhn­li­ches zu sein. Der Pfar­rer knöpf­te selbst den Fuß­sack auf, leg­te das Ver­deck zu­rück und zog un­ter herz­li­chen Will­komms­grü­ßen einen klei­nen Mann von dem hoch­leh­ni­gen Ses­sel her­ab, wäh­rend die Ju­gend auf der Stein­trep­pe mit lau­ter Stim­me den Re­frain des al­ten Lie­des in­to­nier­te: »Hur­ra, der Herr Dok­tor ist da!«

Es war wirk­lich Dok­tor Siem­sen, der lang er­war­te­te Gast, wel­cher sich jetzt der Ver­samm­lung als einen klei­nen be­hä­bi­gen, rot­bä­cki­gen Mann mit ei­nem klu­gen Ge­sicht und ei­nem ehr­wür­di­gen schwar­zen Samt­käpp­chen zu er­ken­nen gab, wohl­ge­merkt nach­dem er sich auf der Vor­die­le der ver­schie­de­nen Um­hül­lun­gen von See­hunds­fell-Müt­ze, Schafs­pelz und Pelz­stie­feln ent­le­digt hat­te, die ihm auf den ers­ten Blick das Aus­se­hen ei­nes Es­ki­mos oder Nord­pol­fah­rers ver­lie­hen hat­ten. Es war leicht zu se­hen, daß Dok­tor Siem­sen ein al­ter Be­kann­ter des Hau­ses war, und daß er we­nigs­tens heu­te abend nicht we­gen ei­nes Krank­heits- oder Ster­be­fal­les her­kam, so um­ju­bel­ten ihn die Kin­der, wäh­rend sie ihn im Tri­umph in das Spei­se­zim­mer zo­gen, wo er un­ter ei­ner wohl­ge­setz­ten Re­de Vet­ter Ja­kobs am Haupten­de des Ti­sches ne­ben dem Pfar­rer Platz neh­men muß­te.

Die Mahl­zeit war vor­über, Vet­ter Ja­kob hat­te mehr­mals Zeit ge­fun­den, die Be­deu­tung des Kie­fern­zwei­ges zu er­klä­ren und von sei­ner Rei­se nach Eng­land zu er­zäh­len, Dok­tor Siem­sen hat­te prak­tisch be­wie­sen, daß der­sel­be sich auch wirk­lich wie der bes­te Mi­stel­zweig be­nut­zen ließ, als der Pfar­rer plötz­lich frag­te: »Nun, Siem­sen, was ge­ben Sie uns denn am heu­ti­gen Weih­nachts­abend zum Bes­ten? Ha­ben Sie die Ge­schich­te mit­ge­bracht?«

»Ja, die Ge­schich­te, die Ge­schich­te, liebs­ter Dok­tor Siem­sen!« schri­en die Kin­der durch­ein­an­der. »Sie müs­sen uns Ih­re Ge­schich­te er­zäh­len!«

»Die Ge­schich­te?« wie­der­hol­te Dok­tor Siem­sen mit so ver­wun­der­ter Mie­ne, als sei die­se Zu­mu­tung et­was ganz Neu­es für ihn.

»Ja­wohl, ma­chen Sie kein so un­schul­di­ges Ge­sicht«, sag­te der Pfar­rer. »Seit fünf­zehn Jah­ren ha­ben Sie uns je­den Weih­nachts­abend ei­ne Ge­schich­te er­zählt, da müßte es doch wun­der­lich zu­ge­hen, wenn Sie heut abend kei­ne in pet­to hät­ten.«

»Man sagt, Sie er­sän­nen die­sel­ben, wenn Sie auf die Pra­xis fah­ren«, schal­te­te Ja­kob ein. »Sie sind ja der größte Mär­chen­dich­ter der Ge­gend. Sie müs­sen uns wirk­lich ei­ne Ge­schich­te er­zäh­len; denn als ich in Eng­land war …«

»Sei’s denn!« un­ter­brach ihn Dok­tor Siem­sen mit ei­nem fei­nen iro­ni­schen Lä­cheln, das Vet­ter Ja­kob nicht be­merk­te. »Was wün­schen Sie?«

»Ei­ne rech­te Weih­nachts­ge­schich­te«, rief Vet­ter Ja­kob, »et­was Ro­man­ti­sches, et­was Dä­mo­ni­sches á la Di­ckens.«

»Ja, ei­ne Spuk­ge­schich­te!« stimm­te der äl­tes­te Pfar­rers­kna­be ein. »Dann bla­sen wir die Lich­ter aus und schrau­ben die Lam­pe nie­der, und dann schreit Ka­ro­li­ne, wenn das Ge­spenst kommt.«

»Wie ab­scheu­lich du bist, Fritz!« schmoll­te Ka­ro­li­ne und ward blut­rot. »Das hab’ ich nur ein­mal ge­tan, und das sind über fünf Jah­re her. Jetzt will ich ge­ra­de ei­ne Spuk­ge­schich­te ha­ben.«

»Ach nein, nein, bes­ter Dok­tor Siem­sen!« rief ei­ne der Freun­din­nen aus der Stadt. »Er­zäh­len Sie lie­ber et­was Spaß­haf­tes aus Ih­rer Ju­gend­zeit, et­was aus dem Stu­den­ten­le­ben, das ver­ste­hen Sie so präch­tig.«

»Las­sen Sie ein we­nig Mo­ral dar­in ent­hal­ten sein«, be­merk­te der Pfar­rer, wel­cher eif­rig da­mit be­schäf­tigt war, ei­ne Pfei­fe für sei­nen al­ten Freund zu stop­fen und ein Glas Punsch zu be­rei­ten, das er auf den klei­nen Tisch ne­ben dem Lehn­ses­sel stell­te.

»Wohl­an«, sag­te der Dok­tor mit ei­nem schel­mi­schen Lä­cheln, »ich will ver­su­chen, das Ver­lan­gen al­ler Tei­le zu be­frie­di­gen, ob­schon mir das schwer ge­nug fal­len mag. Ich sprach un­ter­wegs bei Pe­ter Niel­sen vor, wel­cher ver­gan­ge­nes Jahr über­fah­ren wur­de und den rech­ten Arm brach. Das er­in­ner­te mich an ei­ne klei­ne Ge­schich­te aus mei­ner ers­ten Stu­den­ten­zeit, und auf der Fahrt hier­her hab’ ich über die Form nach­ge­dacht, wel­che man ihr ge­ben könn­te. Wol­len Sie sie hö­ren?«

Der Pfar­rer nick­te, die Kin­der hat­ten schon ih­re Stüh­le nä­her zu dem jo­via­len Dok­tor her­an­ge­rückt, wel­cher, nach­dem er von dem Punsch ge­nippt und sei­ne Pfei­fe an­ge­zün­det, fol­gen­der­ma­ßen be­gann:

»Es war in mei­nen jun­gen Ta­gen, das heißt«, füg­te Dok­tor Siem­sen lä­chelnd hin­zu, »ich zähl­te acht­zehn bis neun­zehn Jah­re, als Söl­ling mein Re­pe­tent in der Ana­to­mie war. Die­ser Söl­ling war ein treff­li­cher Bur­sche, stets vol­ler Spa­ße und scherz­haf­ter Ein­fäl­le und im­mer gleich lus­tig auf­ge­legt, ob er nun am Se­zier­ti­sche oder bei ei­ner Bow­le im al­ten Aka­de­mi­kum saß. Er hat­te nur einen Feh­ler, wenn man das über­haupt einen Feh­ler nen­nen kann, näm­lich sei­nen über­trie­be­nen An­spruch auf Pünkt­lich­keit. Kam man nur ei­ni­ge Mi­nu­ten zu spät, gleich brumm­te Söl­ling und wur­de an dem Abend nicht wie­der freund­lich ge­stimmt; er selbst kam nie­mals zu spät, we­nigs­tens nicht in un­se­rem Krei­se.

An ei­nem Mitt­woch­abend soll­te die klei­ne Schar sich, wie ge­wöhn­lich, prä­zi­se um sie­ben Uhr bei mir in der Re­genz{*} ver­sam­meln. Ich hat­te zu die­sem Zwe­cke die ge­wöhn­li­chen groß­ar­ti­gen Vor­be­rei­tun­gen ge­trof­fen; ich hat­te ein paar Stüh­le zu den mei­ni­gen ge­lie­hen; ich hat­te al­le mei­ne Pfei­fen ge­stopft und hat­te Hans da­zu be­wo­gen, das Früh­stücks­ge­schirr vom So­fa zu ent­fer­nen, wo­hin er es re­gel­mä­ßig stell­te, statt es auf den Kor­ri­dor hin­aus­zu­tra­gen. All­mäh­lich ver­sam­mel­te sich die Ge­sell­schaft, die Uhr schlug sie­ben, aber zu un­se­rer großen Ver­wun­de­rung sa­hen und hör­ten wir nichts von Söl­ling.

Die Uhr wies zwei, drei, ja fünf Mi­nu­ten nach sie­ben, ehe wir Söl­ling die Trep­pe her­auf­kom­men und in ge­wohn­ter Wei­se mit kur­z­en Schlä­gen an die Tür klop­fen hör­ten. Als er ein­trat, sah er so är­ger­lich und gleich­zei­tig so ver­stört aus, daß ich un­will­kür­lich aus­rief: »Was ist Ih­nen, Söl­ling? Man hat Sie doch nicht be­stoh­len?«

»Al­ler­dings hat man das«, er­wi­der­te Söl­ling ver­drieß­lich; »und es ist kein ge­wöhn­li­cher Dieb ge­we­sen«, füg­te er hin­zu, in­dem er sei­nen Ober­rock an den Tür­na­gel häng­te.

»Was ist Ih­nen denn fort­ge­kom­men?« frag­te mein Schlaf­ka­me­rad Nan­sen.

»Bei­de Ar­me mei­nes Ske­letts, das ich ge­ra­de vom all­ge­mei­nen Hos­pi­tal er­hal­ten hat­te«, sag­te Söl­ling mit ei­ner Mie­ne, als hät­te man ihm sei­nen letz­ten Pfen­nig ge­stoh­len. »Es ist rei­ner Van­da­lis­mus!«

Wir an­dern bra­chen in ein Ge­läch­ter über einen so ab­son­der­li­chen Dieb­stahl aus, aber Söl­ling fuhr fort:

»Kann je­mand von euch das be­grei­fen? Bei­de Ar­me futsch, ge­ra­de im Schul­ter­ge­lenk ab­ge­schnit­ten, und, was das Selt­sams­te ist, das­sel­be war bei mei­nem al­ten, räu­che­ri­gen Ske­lett der Fall, wel­ches drin­nen in mei­ner Schlaf­stu­be stand – nicht mehr Ar­me, als hier auf mei­ner fla­chen Hand!«

»Das ist schlimm«, be­merk­te ich; »wir soll­ten ja heu­te abend ge­ra­de die Ana­to­mie des Ar­mes durch­neh­men.«

»Os­teo­lo­gie!« ver­bes­ser­te Söl­ling ernst­haft. »Ho­le dein Ske­lett her­vor, klei­ner Siem­sen! Es ist nicht so gut wie meins, aber wir kön­nen uns im­mer­hin für heu­te da­mit be­hel­fen.

Ich schritt nach der Fens­te­r­e­cke, wo ich hin­ter ei­nem ein­fa­chen grü­nen Shir­ting-Vor­hang mei­ne ana­to­mi­schen Schät­ze – ›das Mu­se­um‹, wie Söl­ling es nann­te – ver­barg. Aber wer schil­dert mei­ne Ver­blüfft­heit, ja, mei­nen Schreck, als ich zwar mein Ske­lett auf sei­nem al­ten Plat­ze und, wie ge­wöhn­lich, mit der Stu­den­ten­uni­form, Tscha­ko, Sä­bel und Pa­tro­nen­ta­sche ge­schmückt fand, aber – oh­ne Ar­me.

»Zum Hen­ker!« schrie Söl­ling, »Das ist der­sel­be Dieb, der bei mir ge­we­sen ist; die Ar­me sind ganz auf die­sel­be Wei­se vom Schul­ter­blat­te ge­löst, wie in mei­ner Woh­nung. Das hast du selbst ge­tan, klei­ner Siem­sen!«

Ich be­teu­er­te mei­ne voll­kom­me­ne Un­schuld, wäh­rend ich mich gleich­zei­tig über die Miß­hand­lung mei­nes schö­nen Ske­letts är­ger­te; aber Nan­sen rief: »War­tet einen Au­gen­blick, ich bin gleich wie­der da.«

Mit die­sen Wor­ten schoß er in sein Zim­mer, kehr­te aber fast in dem­sel­ben Au­gen­blick blaß und ver­le­gen zu­rück. Das Ske­lett war noch da­ge­we­sen, aber die Ar­me wa­ren ver­schwun­den, ge­stoh­len, und die Schul­ter­bän­der ganz auf die­sel­be Art wie bei dem mei­nen zer­schnit­ten.

Die Sa­che, wel­che an und für sich rät­sel­haft war, be­gann jetzt un­heim­lich zu wer­den. Ver­ge­bens zer­bra­chen wir uns die Köp­fe mit Ver­mu­tun­gen und Er­klä­run­gen; wir ka­men da­durch nicht wei­ter und sand­ten zu­letzt je­man­den nach der an­de­ren Sei­te des Kor­ri­dors, wo der jun­ge Stu­dent Ravn wohn­te, der, wie ich wuß­te, von dem Por­tier des all­ge­mei­nen Hos­pi­tals ges­tern ein Ske­lett er­hal­ten hat­te. Hier zeig­te sich in­des ei­ne neue Schwie­rig­keit; Ravn war aus­ge­gan­gen und hat­te den Schlüs­sel mit­ge­nom­men. Hans konn­te die Tür nicht auf­ma­chen, ob­schon sie sonst wil­lig ge­nug war, und ein Bo­te, den wir nach dem Kor­ri­dor der Is­län­der hin­über schick­ten, kam mit dem Be­schei­de zu­rück, daß Bjö­vulf Skaf­te­son sei­nen Stu­ben­ge­nos­sen Ei­nar Skal­le­fan­ger mit dem ein­zi­gen dort vor­han­de­nen Ske­let­te sol­cher­ma­ßen ›ver­ar­bei­tet‹ ha­be, daß nur noch ein Paar zer­bro­che­ne Hüft­kno­chen üb­rig ge­blie­ben. Hier war gu­ter Rat teu­er. Kei­ner von uns be­griff den Zu­sam­men­hang. Söl­ling schalt und fluch­te ab­wech­selnd, und die Ge­sell­schaft stand im Be­griff auf­zu­bre­chen, als wir plötz­lich je­mand die Trep­pe her­auf­pol­tern hör­ten. Gleich dar­auf ward die Tür auf­ge­ris­sen, und her­ein trat ei­ne selt­sam ho­he und dür­re Ge­stalt. Es war Niels Daae, ein ält­li­cher Stu­dent, den wir da­mals al­le sehr gut kann­ten.

Er war ein schnur­ri­ger Ge­sell, die­ser Niels Daae, der ech­te Ty­pus ei­ner Ras­se, die jetzt fast aus­ge­stor­ben ist, die aber zu mei­ner Zeit nicht so sel­ten war. Er hat­te durch ein selt­sa­mes Spiel der Ver­hält­nis­se, wie er es selbst nann­te, fast al­le Fa­kul­tä­ten durch­ge­macht und konn­te Zeug­nis­se vor­le­gen, daß er na­he dar­an ge­we­sen war, nicht nur ein, son­dern drei gan­ze Ex­ami­na zu be­ste­hen.

Er hat­te als Theo­lo­ge be­gon­nen, aber die Er­klä­rung des Erb­schafts­ver­hält­nis­ses zwi­schen Ja­kob und Esau hat­te ihn zur Ju­rispru­denz hin­ge­führt. Als Ju­rist war er durch einen in­ter­essan­ten Gift­mi­scher­fall zu der Er­kennt­nis ge­langt, daß das me­di­zi­ni­sche Stu­di­um ein höchst not­wen­di­ges Ne­ben­fach sei, das kei­nes­falls ver­nach­läs­sigt wer­den dür­fe, und er hat­te sich des­halb mit sol­chem Ei­fer auf das­sel­be ge­wor­fen, daß er das Jus ver­ges­sen hat­te und der Er­war­tung le­ben durf­te, mit vier­zig Jah­ren sein Ex­amen zu be­ste­hen und im ge­setz­ten Al­ter ei­nes Fünf­zi­gers Pra­xis zu be­kom­men.

Niels Daae nahm die Sa­che, wel­che wir dis­ku­tier­ten, sehr ernst­haft. »Je­der Topf«, sag­te er, »hat zwei Hen­kel, je­de Wurst zwei Zip­fel, je­de Sa­che zwei Sei­ten, aus­ge­nom­men die vor­lie­gen­de, wel­che drei hat. (Bei­fall.) Vom ju­ris­ti­schen Stand­punk­te be­trach­tet, fällt sie un­zwei­fel­haft un­ter die Ka­te­go­rie Dieb­stahl, oder viel­mehr Ein­bruch, oder viel­mehr noch rich­ti­ger Ein­bruchs­dieb­stahl. In­des kann die Sa­che ei­ne Kol­li­si­on von Be­grif­fen und da­durch ei­ne Be­griffs­ver­wir­rung her­vor­ru­fen, was uns zur me­di­zi­ni­schen Sei­te der Sa­che hin­führt, wel­che deut­lich er­gibt, daß der Dieb in geis­tig un­zu­rech­nungs­fä­hi­gem Zu­stan­de ge­han­delt hat, sin­te­mal er nur Ar­me stahl, wo er eben­so­gut gan­ze Ske­let­te hät­te neh­men kön­nen. Ist er al­so von ju­ri­di­schem Stand­punk­te we­gen Dieb­stahls oder zum min­des­ten we­gen unge­setz­li­cher An­eig­nung frem­den Ei­gen­tums zu ver­ur­tei­len, so muß ich ihn von me­di­zi­ni­schem Stand­punk­te aus frei­spre­chen, weil er in un­zu­rech­nungs­fä­hi­gen Zu­stan­de war. Hier ge­ra­ten al­so zwei Fa­kul­tä­ten, rein fach­mä­ßig be­trach­tet, in Streit mit­ein­an­der, und das Recht ist un­ent­schie­den. – Aber jetzt«, fuhr Niels Daae fort, »ver­mitt­le ich die Streit­sa­che vom theo­lo­gi­schen Stand­punkt zu ei­ner hö­he­ren Ein­heit, wel­che auf das Uni­ver­sel­le hin­weist. Die Vor­se­hung hat näm­lich in Ge­stalt ei­nes Gön­ners in Jüt­land, des­sen Kin­dern ich die Früch­te der Weis­heit ein­ge­pfropft ha­be, mir zwei fet­te Gän­se und zwei ve­ri­ta­ble En­ten ge­schickt, wel­che heut abend bei Lars Ma­thie­sen ver­speist wer­den sol­len, wo­hin ich die ver­ehr­li­che Ge­sell­schaft ein­la­de, in­dem ich in dem Ver­schwin­den der Ar­me nur die all­wei­se Lei­tung der Vor­se­hung er­bli­cken kann, wel­che in ih­rer un­be­greif­li­chen Weis­heit sich der Weis­heit wi­der­setzt, die sonst von den Lip­pen mei­nes wür­di­gen Freun­des Söl­ling ge­flos­sen sein wür­de.«

Daaes et­was kon­fu­se Re­de wur­de mit Ge­läch­ter und Bei­fall­ru­fen auf­ge­nom­men, und nur Söl­ling er­hob ein paar schwa­che Ein­wen­dun­gen, wel­che in­des­sen bald in der Flut von Lus­tig­keit und scherz­haf­ten Ein­fäl­len er­stickt wur­den, die Niels Daaes plötz­li­ches Er­schei­nen her­vor­ge­ru­fen hat­te.

Ich ha­be oft Ge­le­gen­heit ge­habt, die Be­ob­ach­tung zu ma­chen, daß im­pro­vi­sier­te Ge­la­ge die hei­ters­ten sind, und so war es auch an je­nem Abend. Niels Daae re­ga­lierte uns mit den En­ten und mit sei­nen bes­ten Ein­fäl­len, Söl­ling sang sei­ne bes­ten Lie­der, der jo­via­le Lars Ma­thie­sen er­zähl­te sei­ne bes­ten Ge­schich­ten, und das Ban­kett war im schöns­ten Gan­ge, als wir drau­ßen auf der Stra­ße Ge­schrei und Ru­fen ver­schie­de­ner Stim­men ver­nah­men, dann ein dump­fes Ge­krach, be­glei­tet vom Klir­ren zer­bro­che­ner Schei­ben, mit ein paar gel­len­den Wehl­au­ten un­ter­mischt.

»Es ist ein Un­glück ge­sche­hen!« rief Söl­ling, wel­cher im Handum­dre­hen drau­ßen vor der Tü­re war, – und es ver­hielt sich wirk­lich so. Als wir auf Al­lee­ga­den hin­aus ka­men, sa­hen wir, daß ein Paar durch­ge­hen­de Pfer­de einen Ka­le­schwa­gen ge­gen die Bäu­me der Al­lee ge­schleu­dert hat­ten, und daß der Kut­scher bei die­ser Ge­le­gen­heit un­ters Rad ge­kom­men war, das sei­nen rech­ten Arm dicht am Schul­ter­ge­lenk zer­knickt hat­te. Im Nu war un­ser lus­ti­ger Ban­kett­saal in ein La­za­rett ver­wan­delt. Glä­ser und Tel­ler muß­ten Bin­den, Ban­da­gen und den blin­ken­den In­stru­men­ten der Ver­band­ta­schen Platz ma­chen, und un­se­re fröh­li­chen Lie­der wur­den von den lau­ten Weh­kla­gen des un­glück­li­chen Pa­ti­en­ten beim Ver­bin­den ab­ge­löst. Die Fest­stim­mung war da­hin und woll­te nicht mehr zu­rück­keh­ren, Söl­ling schüt­tel­te den Kopf und mach­te ei­ne be­deu­tungs­vol­le Ge­bär­de, als der un­glück­li­che Kut­scher nach dem Hos­pi­tal ge­fah­ren wur­de. Sein Aus­spruch lau­te­te da­hin, daß der Arm am­pu­tiert oder viel­mehr im Schul­ter­ge­lenk ab­ge­löst wer­den müs­se, ganz wie es bei un­sern Ske­let­ten ge­sche­hen war, – »ein ver­dammt son­der­ba­res Zu­sam­men­tref­fen«, sag­te er zu mir.

Schwei­gend und ver­stimmt wan­der­ten wir heim auf dem al­ten Kö­nigs­we­ge, und zum ers­ten Ma­le sah die ehr­wür­di­ge Re­genz ih­re Söh­ne von ei­nem fest­li­chen Ge­la­ge heim­keh­ren, ge­ra­de als der Nacht­wäch­ter in Kan­nike­strä­de sei­ne be­kann­te, bei den Stu­den­ten sehr be­lieb­te Va­ri­an­te an­stimm­te:

 

Hört, ihr Her­ren, und laßt euch sa­gen,

Uns­re Glock hat elf ge­schla­gen.

Elf ist der Apo­stel Zahl,

Ju­das kommt noch über­all.

 

»Elf!« rief Söl­ling aus. »Das ist zu früh, um zu Bett zu ge­hen, und zu spät, uns noch wei­ter her­um­zu­trei­ben. Laß uns zu dir hin­auf­ge­hen, klei­ner Siem­sen, und ver­su­chen, heu­te abend noch un­se­re Lek­ti­on nach­zu­ho­len. Du hast Lo­ders ana­to­mi­sche Ta­feln, mit de­nen müs­sen wir uns be­hel­fen, es wird schwer ge­nug hal­ten, daß wir bis Weih­nacht fer­tig wer­den. Es war auch ganz verwünscht, daß uns just heu­te abend die Ar­me ge­stoh­len wur­den!«

»Der Dok­tor kann sonst leicht ge­nug Ar­me und Bei­ne be­kom­men, mehr als der Dok­tor braucht«, grins­te Hans, der im sel­ben Au­gen­blick aus dem To­re der Re­genz her­vor­trat, wo er Söl­lings letz­te Wor­te auf­ge­fan­gen hat­te.

»Wie­so, Hans?« frag­te Söl­ling ver­wun­dert.

»Ih nun«, ant­wor­te­te Hans, »das kann der Dok­tor be­quem ge­nug ha­ben. Man hat ja das Plank­werk zwi­schen dem Tri­ni­ta­tis-Kirch­ho­fe und der Por­zel­l­an­fa­brik nie­der­ge­ris­sen und ei­ne Rin­ne ge­gra­ben, um ein neu­es zu set­zen. Das sah ich heu­te selbst, als ich durch den Kir­chen­gang kam; aber herr­je­ses, was für ei­ne Mas­se al­ter Ge­bei­ne sie da auf­ge­wühlt ha­ben. Es wa­ren Ar­me und Bei­ne und Köp­fe da­bei, mehr als der Dok­tor zeit­le­bens ge­braucht!«

»Das hilft uns lei­der nichts, Hans«, ent­geg­ne­te Söl­ling. »Der Kir­chen­gang wird ja um vier Uhr ge­schlos­sen, und es ist bald halb zwölf.«

»Frei­lich wird er das«, grins­te Hans aber­mals; »al­lein es gibt auch ei­ne an­de­re Ma­nier, hin­ein­zu­kom­men, als ge­ra­de auf die­sem We­ge. Wenn der Dok­tor durch das Tor der Por­zel­l­an­fa­brik ge­hen woll­te, so könn­te er über den Hof und die Müh­le in den so­ge­nann­ten vier­ten Hof ge­lan­gen, wel­cher nach Spring­ga­den hin­aus­führt. Dort ge­ra­de ha­ben sie das Plank­werk nie­der­ge­ris­sen, und von dort kann der Dok­tor be­quem nach dem Kirch­ho­fe ge­lan­gen.«

»Ja, Hans ist ein Ge­nie«, rief Söl­ling ver­gnügt, »das hab’ ich im­mer ge­sagt. Hör’, klei­ner Siem­sen, du kennst ja die Fa­brik von au­ßen und in­nen und be­suchst oft den Stu­den­ten Out­zen, wel­cher dort wohnt. Geh zu ihm hin­auf und lei­he von ihm den Schlüs­sel zur Quarz­müh­le. Du wirst schon den einen oder an­dern Arm fin­den, der nicht all­zu ver­mo­dert ist. Sei nur recht flink und kom­me bald zu­rück, dann wol­len wir an­dern dort oben auf dich war­ten.«

Ich muß ehr­lich ge­ste­hen, daß ich in die­sem Au­gen­blick kei­ne son­der­li­che Lust hat­te, auf den Vor­schlag Söl­lings ein­zu­ge­hen. Ich war in dem Al­ter, wo die Pie­tät vor Tod und Grab noch nicht ganz er­lo­schen ist, und der rät­sel­haf­te Vor­fall mit den ge­stoh­le­nen Ar­men spuk­te mir noch im Kopfe.

In­des­sen fürch­te­te ich Söl­lings iro­ni­sches Ge­sicht und das spöt­ti­sche Ge­läch­ter mei­ner Ka­me­ra­den fast eben­so­sehr, und nach kur­z­em Be­den­ken ging ich mit ei­ner Mie­ne fort, als soll­te ich nur vom Bu­di­ker ein Bund Zi­gar­ren ho­len. Mit vie­ler Mü­he schell­te ich den al­ten Pfört­ner aus sei­nem sü­ßen Schlum­mer em­por, un­ter dem Vor­ge­ben, daß ich ei­ne wich­ti­ge Be­stel­lung an Out­zen hät­te, und dann eil­te ich zu die­sem hin­auf, des­sen Fens­ter nach dem Kirch­ho­fe hin­aus­blick­ten. Out­zen war Theo­lo­ge und ein streng sitt­li­cher Cha­rak­ter; das wuß­te ich sehr wohl und war des­halb ziem­lich dar­auf vor­be­rei­tet, daß er mir den Schlüs­sel ver­wei­gern wür­de, der mir Zu­gang zum vier­ten Ho­fe und von dort aus zum Kirch­ho­fe ver­schaf­fen soll­te.

Out­zen nahm auch die Sa­che sehr ernst­haft. Er schob die he­bräi­sche Bi­bel, in der er bei mei­nem Ein­tritt ge­le­sen hat­te, zu­rück, schob die Lam­pe em­por und blick­te mich ver­wun­dert an, wäh­rend ich mei­ne Bit­te vor­brach­te.

»Es ist ein sünd­haf­tes Un­ter­neh­men, das du da vor­hast, lie­ber Siem­sen«, sag­te er ernst­haft, »und du tä­test am bes­ten, da­von ab­zu­las­sen. Von mir er­hältst du kei­nen Schlüs­sel zu sol­chem Zweck. Der Frie­de des Gra­bes ist hei­lig und un­ver­letz­lich; den darf nie­mand stö­ren.«

»Wie denkst du dann über den To­ten­grä­ber? Der legt je­den Tag neue Lei­chen zu den al­ten, und lebt dar­um nicht min­der.«

»Er tut nur sei­ne Pflicht«, ant­wor­te­te Out­zen ru­hig, »und kei­ner wird ihn darob schel­ten. Aber der, wel­cher aus über­mü­ti­ger Lau­ne und noch mit dem Punsch­damp­fe im Kopfe den Frie­den des Gra­bes stört, mit dem ist’s ein an­der Ding – er wird nicht der Stra­fe ent­ge­hen.«

Ich leug­ne nicht, daß Out­zens Wor­te mich reiz­ten; denn zu hö­ren, daß man im Be­griff ste­he, ei­ne ver­we­ge­ne Tat zu be­ge­hen, nur weil man be­trun­ken und über­mü­tig sei, ist et­was, das man sich nicht gern sa­gen läßt, zu­mal wenn man kaum zwan­zig Jah­re auf dem Rücken hat. Oh­ne ein Wort auf sei­ne Ein­wen­dun­gen zu er­wi­dern, riß ich da­her den großen, mir wohl­be­kann­ten Schlüs­sel vom Tür­pfos­ten und war in zwei Sprün­gen drau­ßen auf der Trep­pe, in­dem ich schwor, mir einen Arm zu ver­schaf­fen, kos­te es, was es wol­le, und da­durch so­wohl Out­zen als auch Söl­ling und al­len an­dern zu be­wei­sen, daß ich ein Teu­fels­kerl, so recht ein be­herz­ter Bur­sche sei.

Mit klop­fen­dem Her­zen schlich ich durch den lan­gen, fins­te­ren Gang, wel­cher, an den Über­res­ten des St. Cla­ra-Klos­ters vor­über, in den so­ge­nann­ten drit­ten Hof führt. Hier nahm ich ei­ne La­ter­ne aus der Kut­scher­kam­mer, zün­de­te sie an und ging, mit der La­ter­ne in der Hand, auf die mir wohl­be­kann­te Müh­le zu, wo der Quarz zer­malmt und ge­mah­len wird. Wie selt­sam sah sie doch bei der fla­ckern­den Be­leuch­tung des Talg­lichts in der La­ter­ne aus, mit ih­ren vie­len Kamm­rä­dern, Trie­b­rä­dern und Wal­zen, mit ih­ren Knet­ma­schi­nen und Stamp­fen, un­ter wel­chen die Stei­ne zer­malmt wer­den! Schon hier be­gann der Mut mir zu sin­ken, als ich die dump­fe, feuch­te Luft ein­at­me­te; aber ich er­mann­te mich, putz­te das Licht, und schloß die Tü­re zum vier­ten Hof mit dem Schlüs­sel auf, den ich so­dann wie­der zu mir steck­te. We­ni­ge Schrit­te, und ich be­fand mich im Ho­fe und stand einen Au­gen­blick spä­ter auf der Grenz­schei­de. Das gan­ze ho­he, schwar­ze Plank­werk war in sei­ner Län­ge nie­der­ge­ris­sen, und man hat­te die Er­de tief auf­ge­gra­ben, um fes­ten Halt für ei­ne neue Schei­de­mau­er zwi­schen Le­ben und Tod zu ge­win­nen. Die öde, un­heim­li­che Lee­re des Or­tes er­griff mich tief, und un­will­kür­lich stand ich still, um mich gleich­sam ge­gen die Si­tua­ti­on zu stäh­len.

Es war ein rau­her, kal­ter, stür­mi­scher Abend; die Wol­ken trie­ben schnell und in zer­ris­se­nen Fet­zen un­ter dem Mon­de hin, so daß der Kirch­hof mit sei­nen wei­ßen Kreu­zen und Lei­chen­stei­nen bald in vol­ler, bald in däm­mern­der Be­leuch­tung lag. Dann und wann fuhr der Wind mit hoh­lem, klap­pern­dem Ge­tö­se über die Grä­ber, saus­te durch die ent­blät­ter­ten Lin­den, pfiff mit kla­gen­dem Lau­te durch Ge­sträuch und Sta­ket, ver­fing sich in der Ecke bei der Kir­che, jag­te dann über das Kir­chen­dach und dreh­te die ros­ti­ge Wet­ter­fah­ne mit ei­nem knar­ren­den Laut, der ei­nem gel­lend in die Oh­ren schnitt. Ich schau­te zur Lin­ken – dort er­blick­te ich ein Paar selt­sa­me wei­ße Ge­stal­ten, die sich wel­len­för­mig im Mond­licht zu be­we­gen schie­nen. »La­ken«, sag­te ich bei mir selbst, »nichts an­ders als wei­ße La­ken! Ver­wünsch­te Un­sit­te, Wä­sche auf dem Kirch­ho­fe zu trock­nen, man soll­te einen Ar­ti­kel im ›Po­li­zei­freun­de‹ dar­über schrei­ben!« Ich blick­te zur Rech­ten, dort lag ein Hau­fen Kno­chen, nicht zwei Schritte von mir ent­fernt. Ich nä­her­te mich den­sel­ben mit der La­ter­ne in der lin­ken Hand; tas­tend streck­te ich die rech­te nach ih­nen aus, da ra­schel­te es in dem Hau­fen, er sank zu­sam­men, und et­was War­mes und Wei­ches be­rühr­te mei­ne Hand. Ich zuck­te zu­sam­men. »Rat­ten!« sag­te ich bei mir selbst, »Kirch­hofs­rat­ten, nichts als Kirch­hofs­rat­ten! Oh, mein Gott! Ich ängs­ti­ge mich so; aber nein, ich will mich nicht ängs­ti­gen, das ist ja lä­cher­lich, – al­bern – wo, zum Hen­ker, bleibt doch der Arm? Es ist ja kein ein­zi­ger hei­ler da!«

Mit fie­bern­der Hast und schlot­tern­den Kni­en durch­wühl­te ich einen Hau­fen nach dem an­dern. Das Talg­licht zit­ter­te und fla­cker­te im Win­de, plötz­lich er­losch es, und als der fet­te, stin­ken­de Un­schlitts­dunst mir ent­ge­gen­schlug, wur­de mir fast übel zu­mu­te. Mit ei­ner ge­wal­ti­gen Kraft­an­stren­gung faß­te ich mich wie­der, eil­te ein paar Schrit­te vor­wärts, und ge­wahr­te am En­de des Kirch­hofs einen Sarg, der, noch bei­na­he ganz er­hal­ten, aus der Er­de ge­ho­ben und un­ter ei­ne Hän­ge-Esche ge­stellt war. Ich nä­her­te mich dem­sel­ben und sah, daß er von alt­mo­di­scher Form, aus ziem­lich schwe­ren, aber jetzt halb ver­mo­der­ten Boh­len ge­zim­mert war, und daß er ei­ne Me­tall­plat­te mit ei­ner fast er­lo­sche­nen In­schrift auf dem De­ckel trug. An der einen Ecke hat­te der Zahn der Zeit so an den mor­schen Bret­tern ge­nagt, daß ich ihn mit An­wen­dung ei­nes Brech­ei­sens leicht muß­te öff­nen kön­nen. Ich schau­te mich um – ei­ne Haue lag auf der Er­de ne­ben ei­nem Paar Spa­ten; ich er­griff einen der letz­te­ren, stemm­te das Blatt zwi­schen die Bret­ter, und mit ei­nem dump­fen Krach spreng­te ich den De­ckel auf. Mit ab­ge­wand­tem Ge­sicht schob ich die Hand durch die Öff­nung, tas­te­te um­her und er­faß­te einen Arm des Ske­letts, den ich mit ei­nem kräf­ti­gen Ruck ab­riß. Da­durch lös­te sich der Kopf des Ske­let­tes und roll­te mir im sel­ben Au­gen­blick fast ge­ra­de vor die Fü­ße. Ich er­griff ihn und woll­te ihn wie­der in den Sarg le­gen, aber ich sah in sei­nen lee­ren Au­gen­höh­len einen grün­li­chen und phos­pho­res­zie­ren­den Glanz schim­mern, der ab­wech­selnd kam und ver­schwand; ein Fie­ber­grau­sen, ein fast wahn­wit­zi­ger Schreck er­griff mich. Ich zwang mich, in die Hö­he zu se­hen, und mein Blick fiel auf ein ein­zel­nes er­hell­tes Fens­ter in der Häu­ser­rei­he ge­gen­über. Dort saß ein halb­nack­tes, ge­schmink­tes Frau­en­zim­mer, im Halb­schlum­mer ni­ckend, bei ei­nem fast nie­der­ge­brann­ten Licht­stump­fe. Ich sah hin­ab – die lee­ren Au­gen­höh­len leuch­te­ten noch, aber mit ei­nem stär­ke­ren Glän­ze als vor­her. Ich muß­te Ge­wiß­heit ha­ben, ich muß­te ei­ne na­tür­li­che Er­klä­rung die­ses Phä­no­mens fin­den, wenn ich nicht wahn­sin­nig wer­den soll­te, – das fühl­te ich. Ich er­griff den Schä­del wie­der, aber nie ha­be ich einen so über­wäl­ti­gen­den Ein­druck von dem Ge­setz der Ver­gäng­lich­keit emp­fan­gen wie in die­sem Au­gen­blick. Hun­der­te je­ner ekel­haf­ten, feuch­ten In­sek­ten, wel­che man Holzwür­mer nennt, wim­mel­ten aus je­der Öff­nung, je­der Spal­te des Schä­dels her­vor, und ein paar der glän­zen­den, schlan­ge­n­ähn­li­chen Tau­send­füß­ler, wel­che die Na­tur­for­scher Geo­phi­len nen­nen, rin­gel­ten sich aus den Au­gen­höh­len. Un­will­kür­lich muß­te ich an Hei­nes Wor­te ge­den­ken, und fast wi­der­stre­bend, kämp­fend, als ver­möch­te ich nicht län­ger mei­nen ei­ge­nen Wil­len zu be­herr­schen, muß­te ich die furcht­ba­ren Zei­len wie­der­ho­len:

 

»Ich seh’ die To­ten,

Sie lie­gen un­ten in den schma­len Sär­gen,

Die Hand’ ge­fal­tet und die Au­gen of­fen,

Weiß das Ge­wand und weiß das An­ge­sicht,

Und durch die Lip­pen krie­chen gel­be Wür­mer.«

 

Kaum hör­te ich mei­ne ei­ge­nen Wor­te, als sie mich mit Ent­set­zen er­füll­ten. Ich schleu­der­te den Kopf in den Sarg zu­rück, sprang in zwei Sät­zen über die nächs­ten Kno­chen­hau­fen, oh­ne mir Zeit zu las­sen, die La­ter­ne mit­zuneh­men, schoß wie von Dä­mo­nen ge­jagt, durch die dunkle Müh­le, de­ren Stamp­fen und Rä­der ich zu hö­ren glaub­te, und mach­te erst Halt in dem großen Ho­frau­me der Fabrik, wo ich am Spring­brun­nen den mit­ge­brach­ten Arm wusch und mei­nen de­ran­gier­ten An­zug in Ord­nung brach­te. Dann schob ich mei­ne Beu­te un­ter mei­nen Pa­le­tot, nick­te dem Pfört­ner zu, der mich ver­drieß­lich brum­mend hinausließ, und trat bald dar­auf in mein Zim­mer mit ei­ner Miene, die ich für voll­kom­men ru­hig und furcht­los hielt.

»Was, zum Kuckuck, fehlt dir, klei­ner Siem­sen?« rief Söl­ling, als er mich ein­tre­ten sah. »Du hast doch kei­ne Ge­spens­ter ge­se­hen, oder lei­dest du viel­leicht an dem be­gin­nen­den Kat­zen­jam­mer? Du bist auch höl­lisch lan­ge fort­ge­blie­ben; die Uhr ist ja fast zwölf.«

»Siem­sen ist krank«, sag­te Nan­sen, »gebt ihm ein Glas Was­ser, ehe er ohn­mäch­tig wird.«

»Aber schenkt es nicht zu voll«, schrie ein an­de­rer. »Siem­sen ver­trägt heu­te abend nicht viel mehr.«

Jetzt war die Rei­he, zu tri­um­phie­ren, an mir. Rasch schlug ich den Pa­le­tot zu­rück und leg­te mei­ne Beu­te oh­ne ein Wort zu re­den mit­ten auf den Tisch.

»Tod und Teu­fel!« schrie Söl­ling in ana­to­mi­scher Be­geis­te­rung. »Was für einen Arm hast du da er­wi­scht? Ja, Siem­sen weiß, was er tut. Seht nur, was für einen al­ler­liebs­ten Mäd­chen­arm er uns da ge­bracht hat. Seht nur die­se Hand! Wie fein und klein, und wie vor­treff­lich kon­ser­viert! Ich bin über­zeugt, daß der Hand­schuh Num­mer sechs­ein­halb ihr pas­sen wird. Gott mag wis­sen, wer die ge­küßt und ge­strei­chelt hat.«

Der Arm wan­der­te un­ter all­ge­mei­ner Be­wun­de­rung von Hand zu Hand, und mit je­dem Wor­te, je­der Äu­ße­rung, die ich ver­nahm, stieg mein Ab­scheu und mein Ekel vor mir selbst. Ein Mäd­chen­arm! Was für ein Mäd­chen moch­te das ge­we­sen sein? Jung und schön ge­wiß, der Stolz ih­rer Brü­der und die Freu­de ih­rer El­tern. Früh war sie hin­ge­welkt, zärt­li­che Her­zen hat­ten sie ge­pflegt, lie­be­vol­le Ge­dan­ken und tröst­li­che Hoff­nung hat­ten ihr Kran­ken­la­ge­rer­wacht. Ru­hig und sanft war sie ent­schlum­mert, und den Frie­den, der sie im Le­ben be­glei­tet, hat­te man ihr im To­de mit­ge­ben wol­len, des­halb war der Sarg aus schwe­rem, dickem Ei­chen­hol­ze ge­zim­mert. Und die­se Hand, die so freund­lich zum Ab­schied und Le­be­wohl ge­winkt, die so man­chen treu­en Hän­de­druck emp­fan­gen, die man so ge­liebt und so ver­mißt hat­te, lag nun auf ei­nem Ana­to­mie­ti­sche, von Ta­baks­wol­ken um­wallt, von neu­gie­ri­gen Bli­cken be­glotzt, und ein Ge­gen­stand der ro­he­s­ten Spa­ße. O mein Gott, wie gräß­lich war das!

»Hör«, sag­te Söl­ling, als die all­ge­mei­ne Be­geis­te­rung sich ge­legt hat­te, »den Arm muß ich ha­ben! Wenn er mit Chlor­kalk ge­bleicht und ein we­nig mit Ko­pal­fir­nis be­stri­chen wird, so wird er ein aus­ge­zeich­ne­tes Prä­pa­rat, den neh­me ich mit!«

»Nein, das ge­be ich nicht zu. Es war un­recht von mir, ihn vom Kirch­ho­fe weg­zu­neh­men; ich ge­he gleich zu­rück und le­ge ihn wie­der hin.«

»Nein, hört nur!« schrie Söl­ling un­ter dem un­aus­lösch­li­chen Ge­läch­ter der an­dern. »Jetzt wird die Sa­che, mei­ner Treu’, ka­da­ver-ly­risch in des Wor­tes ei­gent­lichs­ter Be­deu­tung. Ich will den Arm ha­ben, was es auch kos­ten mag.«

»Nein«, rief Niels Daae, »da­zu bist du nicht be­rech­tigt. Er ist be­gra­ben und in der Er­de ge­fun­den, rei­nes Fund­gut, und wir an­dern ha­ben eben­so­viel Recht dar­an wie du.«

»Ja­wohl, je­der kann sei­nen Teil da­von neh­men«, schrie ei­ner von der Ge­sell­schaft.

»Dar­aus wird nichts«, rief Söl­ling. »Es wä­re ja der schänd­lichs­te Van­da­lis­mus, den Arm zu zer­split­tern. Was Gott zu­sam­men­ge­fügt hat, soll der Mensch nicht schei­den«, füg­te er pa­the­tisch hin­zu.

»Ver­stei­gert ihn!« schrie Nan­sen, »und laßt das Geld in die Kneip­kas­se wan­dern, die be­darf des­sen sehr.«

»Ja­wohl, der Arm soll ver­stei­gert wer­den«, rief Daae, in wel­chem plötz­lich der Ju­rist er­wacht war. »Stil­le, mei­ne Her­ren, il ne faut pas ri­re de la mort, wie Na­po­le­on sag­te. Ich bin Auk­tio­na­tor, und der Kirch­hofs­schlüs­sel soll den Ham­mer spie­len.«

Ein neu­es Ge­läch­ter er­folg­te, als Daae mit gra­vi­tä­ti­scher Wür­de am En­de des Ti­sches Platz nahm und mit nä­seln­der Stim­me und mo­no­to­ner Aus­spra­che los­schnarr­te:

»Hier­mit wird al­len kund und zu wis­sen ge­tan, daß am 25. No­vem­ber, Mit­ter­nachts prä­zi­se zwölf Uhr, auf dem Kor­ri­dor der Re­genz, Num­mer fünf, oh­ne Ab­hal­tung wei­te­rer Auk­tio­nen, zu ab­so­lu­tem Ver­lauf ein schö­ner und zier­li­cher Da­men­arm mit da­zu­ge­hö­ri­gem In­ven­tar von Hand­wur­zel­kno­chen und Zwi­schen­ge­len­ken samt Fin­ger­spit­zen in hei­lem und gu­tem Zu­stan­de aus­ge­bo­ten wird. Es wird be­merkt, daß das Ver­kauf­te un­mit­tel­bar nach der Auk­ti­on ab­zu­ho­len ist, in der Ver­fas­sung, in wel­cher es sich beim Zu­schla­ge be­fin­det, und wird zah­lungs­fä­hi­gen Käu­fern ein sechs­wö­chent­li­cher Kre­dit ge­währt. – Ein dä­ni­scher Schil­ling ist ge­bo­ten!«

»Ei­ne Mark!« rief Söl­ling spöt­tisch.

»Zwei Mark!« schrie ei­ner von der Ge­sell­schaft.

»Vier!« stei­ger­te Söl­ling. »Das ist er recht­schaf­fen wert. Bie­te mit, Siem­sen! Du siehst ja aus, als sä­ßest du in ei­ner Wasch­ball­je mit le­ben­di­gen Stich­lin­gen.«

Ich bot ge­zwun­gen ei­ne Mark mehr. Söl­ling bot einen Reichs­ta­ler; nie­mand ging hö­her, der Ham­mer fiel, und der Arm ge­hör­te Söl­ling.

»Sei so gut«, sag­te die­ser, in­dem er mir ein Mark­stück reich­te, »das hast du red­lich ver­dient. Das ist dein Hand­geld als Lei­chen­räu­ber. Den Rest sollst du nächs­tens er­hal­ten, falls du nicht vor­ziehst, ihn der Kneip­kas­se zu über­wei­sen.«

Mit die­sen Wor­ten wi­ckel­te Söl­ling den Arm in ein Zei­tungs­blatt. Al­le er­ho­ben sich, und gleich dar­auf pol­ter­te die lus­ti­ge Ge­sell­schaft die Trep­pe hin­ab, das Tor der Re­genz wur­de zu­ge­schla­gen, der Lärm ver­hall­te auf der Stra­ße, und al­les ward still wie das Grab.

Es war ein selt­sa­mer Über­gang. Ich stand halb be­täubt da und stier­te das in Emp­fang ge­nom­me­ne Mark­stück an, daß ich end­lich me­cha­nisch in die Wes­ten­ta­sche steck­te. Mei­ne Ge­dan­ken wa­ren noch in zu star­ker Be­we­gung, mein Ge­müt zu auf­ge­regt, als daß ich hät­te schla­fen kön­nen. Ich schob die Lam­pe so hoch wie mög­lich em­por und er­griff mein ana­to­mi­sches Kol­le­gien­heft nebst Lo­ders Ta­feln, um mich durch Lek­tü­re zu be­ru­hi­gen; aber das woll­te mir nicht ge­lin­gen, da­zu war die Un­ru­he mei­nes Ge­mü­tes zu groß. Plötz­lich hör­te ich einen Ton wie von ei­nem schwin­gen­den Per­pen­di­kel. Ich er­hob das Haupt und horch­te ge­spannt; denn we­der in mei­nem Zim­mer noch in dem Ne­ben­zim­mer be­fand sich ei­ne Uhr, aber der Ton dau­er­te fort; im sel­ben Au­gen­blick be­gann mei­ne Lam­pe zu fla­ckern, es fehl­te ihr of­fen­bar an Öl. Ge­ra­de als ich mich er­he­ben woll­te, um sie wie­der zu fül­len, fiel mein Blick auf den Tür­pfos­ten ge­ra­de ge­gen­über, und ganz lei­se, aber rhyth­misch und takt­mä­ßig, sah ich den Kirch­hofs­schlüs­sel, wel­chen ich dort­hin ge­hängt hat­te, sich in ab­ge­mes­se­nen Schwin­gun­gen hin und her be­we­gen. Zu­wei­len woll­ten die­se fast auf­hö­ren, aber dann er­hielt der Schlüs­sel einen Schlag wie von ei­ner un­sicht­ba­ren Hand, und die Schwin­gun­gen wur­den so stark, daß sie ihn fast im Krei­se her­um­zu­dre­hen schie­nen. Ich blieb einen Au­gen­blick mit of­fe­nem Mun­de und weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen ste­hen, aber der Schlüs­sel fuhr fort, sich so me­cha­nisch wie das Pen­del ei­ner Uhr zu schwin­gen. Ein eis­kal­ter Schau­er über­lief mei­nen Rücken, und der Angst­schweiß perl­te von mei­ner Stirn. End­lich ver­moch­te ich es nicht län­ger aus­zu­hal­ten; ich schoß zur Tü­re, er­griff den Schlüs­sel mit bei­den Hän­den, leg­te ihn auf mei­nen Schreib­tisch und be­deck­te ihn mit Lo­ders Ta­feln und ein paar an­de­ren Fo­li­an­ten. Erst dann schöpf­te ich wie­der Atem.

Die Lam­pe war im Be­griff zu er­lö­schen, und ich hat­te kein Öl mehr. Dann und wann blak­te die Flam­me hoch em­por und warf einen un­si­che­ren Flacker­schein über mein Ge­mach. Die Schat­ten wur­den bald lang, bald kurz; es war, als ob sie leb­ten und in schwan­ken­den Ge­stal­ten durch das Zim­mer husch­ten. Mit fie­bern­der Hast ent­klei­de­te ich mich, lösch­te die Lam­pe aus und sprang ins Bett, um mei­ne Vi­sio­nen zu er­sti­cken.

Aber hier schie­nen sie erst recht ins Le­ben zu er­wa­chen. Bald war es mir, als stün­de ich auf dem Kirch­ho­fe und hör­te die Wet­ter­fah­ne der Kir­che durch die Luft knar­ren. Dann be­fand ich mich in der Müh­le; ich sah ih­re vie­len Trieb- und Kamm­rä­der sich durch­ein­an­der­dre­hen und hat­te Mü­he, ih­nen aus­zu­wei­chen. Dann kam ich in einen end­los lan­gen, nied­ri­gen und stock­fins­tern Gang, wo mich et­was Un­be­stimm­tes ver­folg­te, und in wil­des­tem Ent­set­zen rann­te ich vor­wärts, bis ich in einen bo­den­lo­sen Ab­grund zu stür­zen schi­en, wäh­rend ei­ne rie­si­ge Last auf mir drück­te. Dann fuhr ich aus dem Halb­schlum­mer em­por, horch­te und späh­te um­her und ver­sank wie­der in einen un­ru­hi­gen Schlaf. Plötz­lich hör­te ich et­was von oben auf mei­ne De­cke her­ab­fal­len. Surr, surr, schnurr er­klang es über mei­nem Kopfe. Es war ei­ne große Brumm­flie­ge, wel­che in mei­ner Stu­be ihr Win­ter­quar­tier auf­ge­schla­gen und wel­che die star­ke Ofen­wär­me er­weckt hat­te, so daß sie jetzt in großen Krei­sen durch mein Zim­mer flog. Bald war sie dicht vor mei­nem Oh­re, bald hör­te ich sie in ei­ni­ger Ent­fer­nung, dann kam sie wie­der zu­rück, surr­te über mein Ge­sicht, schnurr­te un­ter der Zim­mer­de­cke hin, stieß an den Ka­chel­ofen, fiel auf die Die­le, wo sie im Stau­be her­um­schwirr­te, flog dann wie­der dicht über mir hin, surr, surr, schnurr – es war nicht mehr aus­zu­hal­ten. End­lich hör­te ich sie in ei­ne Tü­te mit Pu­der­zu­cker krie­chen, wel­che Hans auf der Fens­ter­schwel­le hat­te lie­gen las­sen; ich sprang auf, mach­te die Tü­te zu, aber sie schnurr­te drin­nen fast är­ger als zu­vor. Wie­der ging ich zu Bett und ver­such­te zu schla­fen, aber es woll­te nicht recht ge­lin­gen. Ich be­gann zu zäh­len, erst bis Hun­dert, dann bis Tau­send, und end­lich emp­fand ich je­nes Ge­fühl der Er­mat­tung, wel­ches dem ei­gent­li­chen Schla­fe vor­her­zu­ge­hen pflegt. Ich be­fand mich in ei­nem schö­nen Gar­ten; der Gold­re­gen schim­mer­te, die Sy­rin­gen duf­te­ten, und die zar­ten ro­sen­ro­ten Blät­ter der Ap­fel­blü­ten flat­ter­ten wie Schmet­ter­lin­ge durch die Luft, wenn der laue Früh­lings­wind sie her­ab­weh­te. Ne­ben mir ging ein schö­nes, jun­ges Mäd­chen; ich kann­te sie gut, und doch war es mir un­mög­lich, mich auf ih­ren Na­men oder auch nur dar­auf zu be­sin­nen, wie wir da­zu ge­kom­men sein, mit­ein­an­der um­her­zu­wan­dern. Dann und wann stand sie still, um ei­ne früh auf­ge­blüh­te Blu­me oder ein bun­tes Kä­fer­chen auf ei­nem Blat­te zu be­wun­dern. So schrit­ten wir ver­trau­ungs­voll wei­ter auf den kies­be­deck­ten Pfa­den, wo die Jo­han­nis­bee­ren und Sta­chel­bee­ren blüh­ten und wo ich deut­lich das Sum­men der Bie­nen ver­neh­men konn­te, wäh­rend sie um die Blu­men­kel­che gau­kel­ten. Plötz­lich fuhr ein kal­ter Zug­wind durch den Gar­ten, das jun­ge Mäd­chen er­beb­te, und ih­re Wan­gen erb­li­chen.

»Friert dich denn nicht?« sag­te sie zu mir.

»Mich friert! Merkst du nicht, daß Nacht und Tod her­an­na­hen?«

Ich woll­te ant­wor­ten; aber im sel­ben Au­gen­blick fuhr ein neu­er, stär­ke­rer, ei­si­ger Wind­hauch durch den Gar­ten. Die Blät­ter ver­welk­ten auf den Bäu­men, die Blu­men senk­ten ih­re Häup­ter, und die Bie­nen fie­len von den Jo­han­nis­beer­blü­ten tot zur Er­de.

»Er kommt!« flüs­ter­te sie schau­dernd. Ich woll­te sie an mei­ne Brust drücken, aber es war, als ver­blaß­te und ver­schwän­de ih­re Ge­stalt und stün­de un­deut­lich in der Luft. Da saus­te ein drit­ter, noch hef­ti­ge­rer Sturm durch den Gar­ten. Das Laub flog gelb und dürr in großen Hau­fen an der Er­de hin und wur­de dann wild in die Luft em­por­ge­wir­belt. Die blü­hen­den Sträu­cher wur­den im Nu schwarz und kahl, Kreu­ze und Grab­denk­mä­ler tra­ten un­ter den ent­blät­ter­ten Bäu­men her­vor; – ich stand wie­der auf dem Kirch­ho­fe, und die ros­ti­ge Wet­ter­fah­ne knarr­te schrill durch die Luft. Ne­ben mir stand ein star­ker, mes­sing­be­schla­ge­ner Sarg von Ei­chen­holz mit ei­ner Me­tall­plat­te auf dem De­ckel. Ich beug­te mich hin­ab, um die In­schrift zu le­sen. Da flog plötz­lich der De­ckel schwer zu­rück, und aus dem Sarg er­hob sich das jun­ge Mäd­chen, das ich im Sar­ge ge­se­hen. Ich woll­te ihr zu Hil­fe ei­len, und sie in mei­ne Ar­me schlie­ßen, da – o Grau­sen! – sah ich an den glä­ser­nen Au­gen, daß es je­nes ge­fal­le­ne Weib sei, das ich bei dem Licht­stump­fe im Fens­ter hat­te ni­cken se­hen. Wild um­schlang sie mich und zog mich in den Sarg hin­ab. Der Atem ver­ging mir, ich schrie laut um Hil­fe und – er­wach­te da­durch.

Mein Zim­mer kam mir un­ge­wöhn­lich hell vor, aber ich ent­sann mich, daß wir Mond­schein hät­ten, und dach­te nicht wei­ter dar­an. Üb­ri­gens schie­nen man­che Be­ge­ben­hei­ten mei­nes Trau­mes ih­re na­tür­li­che Er­klä­rung durch die Um­ge­bun­gen zu fin­den, in wel­chen ich ge­schla­fen hat­te. Die Flie­ge surr­te noch in der Tü­te wie ein gan­zer Bie­nen­schwarm; ei­nes der obe­ren Fens­ter war auf­ge­sprun­gen, und die Nacht­luft drang durch das­sel­be in mein Zim­mer. Ich stand auf, um es zu schlie­ßen, und be­merk­te erst jetzt, daß das star­ke, hel­le Licht, wel­ches mein Ge­mach er­füll­te, nicht vom Mon­de kam, son­dern gleich­sam von der Kir­che ge­gen­über aus­strahl­te. Im sel­ben Au­gen­blick be­gan­nen die Glo­cken zu läu­ten, erst ge­dämpft und wie in wei­ter Fer­ne, dann stär­ker und stär­ker, bis sie end­lich, mit dem Brau­sen der Or­gel ver­mischt, wie ein ge­wal­ti­ger Strom von Tö­nen an mein Fens­ter schlu­gen. Ich starr­te hin­aus und woll­te mei­nen ei­ge­nen Au­gen kaum glau­ben. Die Häu­ser in La­de­mär­ket wa­ren lau­ter klei­ne, ein­stö­cki­ge Ge­bäu­de mit Er­kern und höl­zer­nen Dach­rin­nen, die in ge­schnitz­te Dra­chen­köp­fe aus­lie­fen. Die meis­ten hat­ten Söl­ler oder Al­ta­ne mit ge­schnitz­tem Git­ter­werk, und den Ein­gang bil­de­ten ho­he Stein­trep­pen mit Mes­sing­ge­län­dern, de­ren blank po­lier­te Knäu­fe im Licht­glanze blink­ten. Aber was mich am meis­ten wun­der­nahm, war die Kir­che. Die­se lag nicht wie sonst; der run­de Turm war ge­gen Kjöb­ma­ger­ga­den und die Fassa­de der Kir­che mit den Stre­be­pfei­lern und spitz­bo­gi­gen Fens­tern ge­gen die Re­genz ge­kehrt. Die Kir­che war glän­zend er­hellt, und jetzt erst wur­de es mir ganz klar, daß der star­ke Licht­schim­mer, wel­cher mein Zim­mer er­füll­te, von drü­ben her­kam. Sprach­los blieb ich ste­hen; der Glo­cken­klang und das Brau­sen der Or­gel durch­beb­ten die Luft, und auf dem Mit­tel­gang der Kir­che sah ich einen großen Hoch­zeits­zug sich lang­sam zum Al­tar be­we­gen. All­mäh­lich ver­moch­te ich die ein­zel­nen Ge­stal­ten zu un­ter­schei­den. Al­le tru­gen die al­ten Trach­ten der Hol­berg­schen Zeit: Die Da­men Bro­kat- und At­las­ge­wän­der, mit Per­len­schnü­ren im hoch auf­ge­türm­ten, stark ge­pu­der­ten Haa­re; die Her­ren meist Uni­for­men mit Knie­ho­sen und De­gen, den Cha­peau­bas un­ter dem Ar­me. Vor al­lem je­doch zog die Braut mei­ne Auf­merk­sam­keit an. Sie war in wei­ßen At­las ge­klei­det, und auf den ge­pu­der­ten Lo­cken, die halb von dem her­ab­wal­len­den Schlei­er ver­deckt wur­den, lag ein wel­ker Myr­ten­kranz. Ihr zur Sei­te schritt der Bräu­ti­gam in ro­ter Uni­form und mit ei­nem Stern auf der Brust. Sie nä­her­ten sich dem Al­ta­re, wo ein Geist­li­cher im schwar­zen Or­nat und mit wei­ßer Al­lon­ge­pe­rücke sie er­war­te­te. Sie tra­ten vor ihn hin, und ich konn­te deut­lich wahr­neh­men, daß er ein Ri­tu­al oder ei­ne For­mel aus der Agen­de ver­las, die er in der Hand hielt, und de­ren Gold­schnitt im Lich­te fun­kel­te.

Ei­ner von dem Ge­fol­ge schritt her­an und schnall­te den De­gen des Bräu­ti­gams los, wel­cher dar­auf sei­ne rech­te Hand der Braut ent­ge­gen­streck­te.

Sie woll­te ihm die ih­re ge­ben, aber im sel­ben Au­gen­blick stürz­te sie ohn­mäch­tig nie­der. Das gan­ze Ge­fol­ge dräng­te sich um die Braut, wel­che be­wußt­los vor den Al­tar­stu­fen lag, – da er­lo­schen plötz­lich die Lich­ter, der Or­gel­klang ver­stumm­te, und die Ge­stal­ten zer­flos­sen wie blei­che Ne­bel­mas­sen.

Drau­ßen auf dem Plat­ze je­doch nahm die Hel­lig­keit zu, das Glo­cken­ge­läut dau­er­te fort, und plötz­lich öff­ne­ten sich weit die Flü­gel der Kir­chen­tür, und der­sel­be Hoch­zeits­zug be­weg­te sich über den Platz. Ich woll­te ent­flie­hen; aber es war mir nicht mög­lich, ei­ne Mus­kel zu re­gen. Starr und fest­ge­bannt muß­te ich auf die geis­ter­haf­ten Ge­stal­ten hin­ab­stie­ren, die nä­her und nä­her zu mir her­an­rück­ten. Zu­erst kam der Pre­di­ger, dann der Bräu­ti­gam mit der Braut, und als letz­te­re ih­re Au­gen er­hob und den Blick auf mich hef­te­te, er­kann­te ich, daß es das jun­ge Mäd­chen aus dem Gar­ten war. Es lag et­was so Schmerz­li­ches, so Weh­mü­ti­ges und so Fle­hen­des in die­sem Blick, daß ich ihn kaum zu er­tra­gen ver­moch­te; aber nim­mer ver­mag ich das er­schüt­tern­de Ge­fühl zu schil­dern, das mich durch­zuck­te, als ich plötz­lich wahr­nahm, daß der rech­te Är­mel ih­res wei­ßen At­las­ge­wan­des leer und schlaff her­un­ter­hing.

Ein ei­si­ges Grau­sen er­griff mich. Ich fühl­te, daß die Schar ei­ne be­stimm­te Missi­on hat­te; ich wuß­te, sie wer­den her­an­kom­men und Re­chen­schaft von mir for­dern, ob­schon die klaf­ter­di­cken Mau­ern der Re­genz zwi­schen ihr und mir la­gen. Schau­dernd blieb ich ste­hen, bis das letz­te Paar vom Plat­ze ver­schwun­den war. Da hör­te ich die Glo­cke der Re­genz er­schal­len, – nicht wie sonst mit lus­ti­gem, ver­gnüg­tem To­ne, son­dern mit ei­nem selt­sam hei­se­ren, tro­ckenen, ge­bors­te­nen Klan­ge, und gleich dar­auf knarr­te das Tor in sei­nen An­geln. Ich wand­te mich ge­gen die Tür, ich wuß­te, daß sie ver­schlos­sen sei, und doch wuß­te ich, daß mir das nichts nüt­zen wür­de, daß sie her­ein­kom­men wür­den, selbst wenn ei­ne ei­ser­ne Mau­er zwi­schen ih­nen und mir lä­ge. Selt­sam knis­ter­te und rausch­te es durch die Luft, bald wie Sei­de und At­las, die an den Trep­pen- und Tür­pfos­ten an­s­tie­ßen, bald wie das dür­re, ra­scheln­de Rohr, wenn der Win­ter­sturm durch das­sel­be hin­seufzt. Nä­her und nä­her ka­men die schreck­li­chen Ge­stal­ten; die Tür ging nicht auf, aber es war, als wür­de sie in ei­nem glä­ser­nen Ne­bel ver­wan­delt, aus wel­chem die blei­chen Ge­stal­ten her­vor­quol­len. Mehr, im­mer mehr dräng­ten sich her­ein, en­ger, im­mer be­eng­ter ward der Raum in mei­nem Zim­mer, aber da war es, als bö­ten die Mau­ern den dro­hen­den Geis­tern kein Hin­der­nis, als gä­be es für sie nichts Fes­tes, nichts Un­durch­dring­li­ches. Dich­ter und dich­ter schar­ten sie sich um mich her mit fins­tern, dräu­en­den Mie­nen; klei­ner und klei­ner ward der Zwi­schen­raum zwi­schen ih­nen und mir; mehr und mehr wur­de ich in mei­ne Ecke ge­drängt, bis sie fast wie ei­ne Bür­de auf mei­ner Brust las­te­ten und mich schier er­drück­ten. End­lich schie­nen kei­ne mehr im Ge­ma­che Platz zu fin­den. Die At­las- und Sei­den­ge­wän­der knis­ter­ten und ra­schel­ten nicht län­ger um mich her; ei­ne To­ten­stil­le ent­stand, und ich sah den Geist­li­chen mit der Agen­de in der Hand auf mich zu­schrei­ten.

»Was willst du?« hör­te ich es in mir spre­chen; ich fühl­te, daß mei­ne Lip­pen sich be­weg­ten, aber es war mir nicht mög­lich, einen Laut mit den­sel­ben her­vor­zu­brin­gen. Der Geist­li­che muß­te je­doch mei­ne Ge­dan­ken er­ra­ten kön­nen; denn er er­hob die Hand und sag­te mit ei­ner selt­sam tie­fen und doch klang­lo­sen Stim­me: »Das Grab ist hei­lig und unver­letz­lich; den Frie­den der To­ten darf nie­mand stö­ren.«

»Hei­lig und un­ver­letz­lich!« er­klang es durch die Schar, wie wenn ein un­deut­li­ches Echo sich zwi­schen den Baum­stäm­men ver­liert.

Mich schau­der­te in tiefs­ter See­le, ich emp­fand einen un­wi­der­steh­li­chen Drang, ei­ne bren­nen­de Lust, auf die Knie zu sin­ken und um Gna­de und Ver­ge­bung zu fle­hen; aber es war, als sä­ße ein be­tö­ren­der Dä­mon auf mei­ner Zun­ge, der mich zu ant­wor­ten zwang: »So ist es schlimm um den To­ten­grä­ber­be­stellt; er legt je­den Tag neue Lei­chen zu den al­ten, und lebt dar­um nicht min­der froh.«

»Er tut nur sei­ne Pflicht«, ant­wor­te­te der Geist­li­che, »und kei­ner wird ihn darob schel­ten; aber über­mü­ti­gen Frie­den des Gra­bes stört, der wird der Stra­fe nicht ent­ge­hen.«

»Er wird der Stra­fe nicht ent­ge­hen«, er­scholl es aber­mals aus der Schar mit Stim­men, wie wenn der sau­sen­de Herbst­wind das gel­be Laub über die Er­de jagt.

»Was wollt Ihr? Was ver­langt Ihr?« schrie ich in der höchs­ten Ver­zweif­lung der To­des­angst.

»Gib der Gruft zu­rück, was der Gruft ge­hört!« er­klang wie­der die­sel­be tie­fe Stim­me.

»Gib der Gruft zu­rück, was der Gruft ge­hört!« wie­der­hol­te die Schar, wel­che sich aber­mals dro­hend um mich dräng­te.

»Das ist un­mög­lich! Das kann ich nicht, ich ha­be ihn ver­kauft, ich ha­be ihn auf ei­ner Auk­ti­on ver­stei­gert«, schrie ich ver­zweif­lungs­voll. »Er war be­gra­ben und in der Er­de ge­fun­den; fünf Mark acht Schil­lin­ge! Ein Reichs­ta­ler! Bie­tet nie­mand mehr? Der Arm ge­hört Söl­ling!«

Ein Schrei, ein gel­len­der Ra­che- und Ver­zweif­lungs­schrei ging durch die Schar. Wie feuch­te Ne­bel dran­gen die Ge­stal­ten her­an und drück­ten mit ei­ner Ge­walt auf mich ein, als woll­ten sie mich er­sti­cken. Es fun­kel­te und blitz­te mir vor den Au­gen, und ich hör­te ein schwe­res, dump­fes Ge­pol­ter, wäh­rend ich mit die­sen Schat­ten rang, die kei­nen ma­te­ri­el­len Hal­te­punkt dar­bo­ten. Ganz au­ßer mir, stieß ich das Fens­ter auf, und in­dem ich ei­ne An­stren­gung mach­te, auf die Stra­ße hin­aus­zu­sprin­gen, schrie ich in der höchs­ten Angst der Ver­zweif­lung: »Hilfe! Mör­der! Man er­mor­det mich!«

Der Wi­der­hall mei­ner ei­ge­nen Stim­me, der noch durch mein Zim­mer klang, er­weck­te mich. Ich saß in bloßem Hem­de auf der Fens­ter­bank, das ei­ne Bein halb aus dem Fens­ter ge­streckt, und mit bei­den Hän­den krampf­haft den Fens­ter­pfos­ten um­klam­mernd. Drun­ten auf der Stra­ße stand der Nacht­wäch­ter in Holz­schu­hen, mit Mor­gens­tern und Ka­puz­man­tel, und stier­te mich ver­wun­dert an, wäh­rend die leich­ten Ne­bel­wol­ken, die furcht­ba­ren Vi­sio­nen der Nacht, wie ein weiß­li­cher Rauch durch das Fens­ter hin­aus­zo­gen. Drau­ßen brach der No­vem­ber­tag an, grau und feucht, und als die fri­sche Mor­gen­luft mei­ne Wan­gen kühl­te, kehr­te auch die Be­sin­nung zu­rück. Ich er­blick­te den Wäch­ter – Gott seg­ne ihn! Das war doch ein wirk­li­cher, hand­greif­li­cher Wäch­ter, und kei­nes der täu­schen­den Spuk­bil­der der Nacht. Ich blick­te auf den run­den Turm; wie mas­siv, ehr­wür­dig und un­ver­rück­bar sah er aus, als er dort grau in der grau­en Mor­gen­däm­me­rung stand! Ich blick­te nach Lan­de­mär­ket hin­über; es war Licht in dem Bäcker­la­den, und ein Torf­bau­er stand drau­ßen und band sei­nen Pfer­den die Fut­ter­sä­cke un­ters Maul. Ich schiel­te halb ängst­lich in mein Zim­mer, al­lein al­les war in ge­wohn­ter Ord­nung. Mein hoch­leh­ni­ger Arm­ses­sel, mein blin­der Ra­sier­spie­gel, mein gicht­brü­chi­ges al­tes So­fa, – al­les stand auf sei­nem Plat­ze, ja selbst die Tü­te mit dem Pu­der­zu­cker lag noch im Fens­ter, und die Flie­ge surr­te dar­in. Ich fühl­te, daß ich wach sei, und daß der Tag graue. Rasch sprang ich von der Fens­ter­bank her­ab und woll­te mich wie­der ins Bett le­gen, als mein Fuß an et­was Har­tes und Schar­fes stieß. Ich bück­te mich, um es auf­zu­he­ben, tas­te­te im Halb­dun­kel auf der Die­le um­her und er­faß­te einen lan­gen, dür­ren, halb ver­mo­der­ten Arm, des­sen stei­fe Fin­ger ein zu­sam­men­ge­roll­tes Blatt Pa­pier um­krampf­ten. Ich tas­te­te wei­ter und er­faß­te einen zwei­ten, der eben­falls ein zu­sam­men­ge­roll­tes Pa­pier zwi­schen den Fin­gern hielt. Jetzt be­gann ich an mei­nem Ver­stän­de zu zwei­feln. Ich wuß­te, daß, was ich ge­se­hen, ei­ne Fol­ge mei­ner er­hitz­ten Fan­ta­sie, ein Traum sei, der ge­gen sein En­de hin den Cha­rak­ter ei­ner Sin­nes­täu­schung an­ge­nom­men ha­be. Ich wuß­te, daß ich wach, daß das Gan­ze ei­ne Hal­lu­zi­na­ti­on sei, und doch la­gen hier fes­te, un­wi­der­leg­li­che Be­wei­se des Ge­gen­teils vor. Ich glaub­te wirk­lich, ich sei im Be­grif­fe, wahn­sin­nig zu wer­den, und mit fie­bern­der Hast öff­ne­te ich die Pa­pi­er­rol­le. Dort stand nur das Wort ›Söl­ling‹.

Ich er­griff das zwei­te Pa­pier und roll­te es auf; dort stand: ›Nan­sen‹.

Noch hat­te ich die Kraft, ein drit­tes zu er­grei­fen und zu öff­nen; dort stand: ›Siem­sen‹; aber im sel­ben Au­gen­bli­cke stürz­te ich schon wie be­sin­nungs­los zur Er­de.

Als ich wie­der zu mir kam, stand Niels Daae ne­ben mir mit ei­nem ge­leer­ten Wasch­gus­se, des­sen In­halt noch vom So­fa her­ab­troff, auf das er mich ge­legt hat­te.

»Hier, trin­ke das«, sag­te er mit schmei­cheln­dem To­ne, »dann kommst du schon wie­der auf die Bei­ne. Es ist ein vor­treff­li­cher Co­gnac; ich nahm sel­ber erst einen Schluck da­von.«

Ver­stört blick­te ich mich um und nipp­te an dem Gla­se, des­sen kräf­ti­ger In­halt schnell mei­ne Le­bens­geis­ter er­mun­ter­te.

»Was ist ge­sche­hen?« frag­te ich mit mat­ter Stim­me.

»Ach, ei­gent­lich nichts von Be­deu­tung«, er­wi­der­te Niels Daae. »Du bist nur im Be­griff ge­we­sen, dir selbst durch ei­ne klei­ne Koh­len­stoff­ver­gif­tung das Le­ben zu neh­men. Es sind auch ver­wünscht schlech­te Klap­pen, die hier an den al­ten Ka­chelö­fen auf der Re­genz sit­zen. Der Sturm heu­te nacht muß sie zu­ge­schla­gen ha­ben, wenn du nicht selbst so ge­ni­al ge­we­sen bist, sie zu schlie­ßen, ehe du zu Bett gingst. Wä­re ich ei­ne Stun­de spä­ter ge­kom­men, klei­ner Siem­sen, so wä­rest du so weit auf der Rei­se zu Sankt Pe­ter mit den Gold­schlüs­seln ge­we­sen, daß ein al­ter Co­gnac dich nicht mehr hät­te zu­rück­ru­fen kön­nen. Nimm noch einen klei­nen Schluck!«

»Wie bist du her­auf­ge­kom­men?« frag­te ich, mich auf­rich­tend.

»Auf die ein­fachs­te und na­tür­lichs­te Wei­se von der Welt«, ant­wor­te­te Niels Daae. »Ich hat­te die­se Nacht die Wa­che auf dem Hos­pi­ta­le; aber weil ich ziem­lich viel Punsch bei Lars Ma­thie­sen ge­trun­ken hat­te, schlief ich mehr, als ich wach­te, und fand es da­her pas­send, mich ge­gen die Mor­gen­stun­de fort­zu­schlei­chen. Als ich nach Krystal­ga­den heim­ging, kam ich an der Re­genz vor­bei und sah dich hier ritt­lings in bloßem Hem­de auf der Fens­ter­bank sit­zen und den Nacht­wäch­ter durch das Ge­schrei ›Feu­er, Mord­jo!‹ oder der­glei­chen alar­mie­ren. Es ge­lang mir end­lich, Jen­sen dort un­ten auf­zu­klop­fen, und durch sein Fens­ter kam ich in die Re­genz. Es ist auch ei­ne son­der­ba­re Ma­nier, sich in bloßem Hem­de mit­ten auf die Die­le zu le­gen!«

»Wo kom­men die Ar­me her?« frag­te ich, noch halb ver­stört.

»Ach, der Teu­fel ho­le die Ar­me!« rief Niels Daae; »sieh nur zu, daß du wie­der auf die Bei­ne kommst! Die Ar­me da? Das sind ja kei­ne an­dern als die, wel­che ich selbst ab­ge­schnit­ten ha­be. Es war ein aus­ge­zeich­net schlau­er Ein­fall. Du weißt ja, wie brum­mig Söl­ling wird, wenn er ein­mal ei­ne Re­pe­tier­stun­de aus­set­zen soll. Nun hat­te ich die Gän­se zu­ge­schickt er­hal­ten und woll­te euch ger­ne zu Lars Ma­thie­sen mit­ha­ben. Ich wuß­te, ihr soll­tet die Os­teo­lo­gie der Ar­me vor­neh­men, des­halb ging ich zu Söl­ling, mach­te die Tür mit sei­nem ei­ge­nen Schlüs­sel auf und stahl die Ar­me von sei­nen Ske­let­ten. Das­sel­be tat ich hier auf der Re­genz, und dei­nen maus­te ich, wäh­rend du un­ten im Le­se­zim­mer warst. Bist du so ge­ni­al ge­we­sen, sie vom Ge­stell her­ab­zu­rei­ßen und die Eti­ket­ten ab­zu­neh­men? Ich hat­te sie so schön mit Pa­pier­strei­fen be­zeich­net, da­mit je­der sein Ei­gen­tum wie­der er­hal­ten kön­ne.«

Oh­ne ein Wort zu re­den, klei­de­te ich mich an und ging bald mit Daae un­ter dem Ar­me in die fri­sche, küh­le Mor­gen­luft hin­aus.

In Krystal­ga­den trenn­ten wir uns, und ich wan­der­te un­ver­weilt nach dem Wes­ter­wal­le, wo Söl­ling wohn­te. Oh­ne der Ein­wen­dun­gen sei­ner al­ten Wir­tin zu ach­ten, ging ich in das Zim­mer, wo Söl­ling den Schlaf der Ge­rech­ten schlief. Dort nahm ich den Arm, der noch, in Pa­pier ge­wi­ckelt, auf sei­nem Schreib­ti­sche lag, leg­te das Mark­stück an sei­ne Stel­le und eil­te so rasch wie mög­lich auf den Kirch­hof zu­rück.

Wie selt­sam war al­les ver­än­dert, als ich wie­der dies Re­vier be­trat! Der Mor­gen­ne­bel hat­te sich ge­lich­tet und hing wie glän­zen­de Reif­per­len in den Zwei­gen der Bäu­me, wo die Sper­lin­ge zwit­scher­ten. Kei­ner der Ar­bei­ter war noch auf dem Kirch­ho­fe. Ich schritt zu der großen Hän­ge-Ei­che hin­über und stand wie­der vor dem schwe­ren Sar­ge von Ei­chen­holz. Be­hut­sam ließ ich den ge­raub­ten Arm in den­sel­ben hin­ab­glei­ten und klopf­te mit sorg­li­cher Hand die ros­ti­gen Nä­gel fest, ge­ra­de als die ers­ten Strah­len der blas­sen No­vem­ber­son­ne über den Kirch­hof spiel­ten.

Erst da ward es mir wie­der leicht ums Herz.

 

Dok­tor Siem­sen schwieg und schau­te fra­gen­den Blickes im Krei­se um­her. Drau­ßen er­klang das Schel­len­ge­läu­te des klei­nen isa­bell­far­be­nen nor­we­gi­schen Klep­pers, der un­ge­dul­dig den Kopf schüt­tel­te, und bald dar­auf saß der jo­via­le Dok­tor wie­der auf sei­nem hoch­leh­ni­gen Ses­sel mit Fuß­sack und Kutsch­ver­deck.

Aber im Pfarr­hau­se schlief man nicht all­zu­viel in die­ser Nacht, – selbst der Vet­ter Ja­kob war er­schüt­tert.