Altersstarrsinn
von
Robert Bloch
Der 1917 geborene amerikanische Schriftsteller und Drehbuchautor Robert Bloch braucht nicht extra vorgestellt zu werden. Mit seinem Skript zu Alfred Hitchcocks Horrorfilm ›Psycho‹ ist er weltberühmt geworden. Bloch hat auch die Drehbücher zu einigen anderen großen Horrorproduktionen geschrieben – seine eigentliche Stärke aber liegt, wie seine bravouröse Story ›Altersstarrsinn‹ aufs eindringlichste demonstriert, auf dem Gebiet der makabren Erzählung.
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Am Morgen nach seinem Tod kam Opa zum Frühstück runter.
Irgendwie komisch fanden wir das schon.
Ma guckte Pa an, Pa guckte Klein-Susie an, und Susie guckte mich an. Dann guckten wir alle Opa an.
»Was is’n los?«fragte er. »Warum gafft ihr so?«
Keiner sagte was, aber ich kannte den Grund ganz genau. War ja immerhin erst in dieser Nacht passiert, daß er seinen Herzanfall kriegte und direkt vor unseren Augen starb. Aber da stand er nun, fertig angezogen, putzmunter und streitbar wie eh und je.
»Was gibt’s denn zum Frühstück?« wollte er wissen.
Ma schluckte. »Sag bloß nicht, daß du essen willst?«
»Was ‘n sonst? Ich bin am Verhungern.«
Ma schaute zu Pa rüber, doch der rollte bloß mit den Augen. So ging sie zum Herd, nahm die Pfanne und klatschte ein paar Eier auf einen Teller.
»Na also, warum nicht gleich«, meinte Opa. »Aber sagt mal, hat’s da vorhin nicht nach Bratwurst gerochen?« Ma brachte Opa ein Stück Wurst. So wie er reinhieb, hatte sein Appetit jedenfalls nicht gelitten.
Bei der zweiten Portion merkte Opa, daß wir ihn immer noch anstarrten. »Warum ißt denn hier keiner?« fragte er.
»Wir haben keinen Hunger«, erklärte Pa, und das stimmte, als wär’s ein Satz aus der Bibel.
»Essen hält Leib und Seele zusammen«, belehrte ihn Opa. »Aber hör mal, müßtest du nicht längst in der Säge sein?«
»Mir ist heut’ nicht nach Arbeit zumute«, sagte Pa.
Opa betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Du hast dich ja richtig fein gemacht. Rasiert und ‘n Hemd wie am Sonntag. Kriegt ihr etwa Besuch?«
Ma warf einen Blick aus dem Küchenfenster und nickte Opa zu. »Du hast es erfaßt. Da kommt er schon.«
Und tatsächlich kam der alte Bixbee die Straße entlang gewetzt.
Ma lief durchs Wohnzimmer zur Vordertür – um ihn abzufangen, schätze ich – aber er wischte ihr eins aus und kam von hinten an. Pa schaltete nicht schnell genug, und so riß Bixbee erst die Küchentür und dann seinen Mund auf. Er bekam beides nicht mehr zu.
»Morgen, Jethro«, begann er mit seiner öligen Stimme. »Ein trauriger Morgen, tja! Ich wollte euch in eurem Schmerz auch nicht stören, aber bei der Hitze, die wir seit zwei Tagen haben …« Er zog ein Bandmaß aus der Tasche. »Ich schreib mir schon mal alles auf, damit wir gleich anfangen können. Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser, wenn du verstehst, was ich meine …«
»Tut mir leid«, sagte Pa und stellte sich so in die Tür, daß der alte Bixbee keinen Blick ins Zimmer werfen konnte, »aber du mußt später wiederkommen.«
»Wieviel später?«
»Kann ich nicht genau sagen. Wir sind noch ein wenig unschlüssig.«
»Schön, aber wartet nicht zu lange«, meinte Bixbee. »Mir geht das Eis aus.«
Er trollte sich erst, als Pa ihm die Tür vor der Nase zuknallte. Ma kam aus dem Wohnzimmer, und Pa legte warnend den Finger auf die Lippen, aber er hätte Opa besser kennen müssen.
»Was wollte er denn?«
»Ach, bloß ‘n kleiner Freundschaftsbesuch.«
»Von Bixbee?« Opa wirkte mißtrauisch. »Der hat doch keinen einzigen Freund hier. Spielt den vornehmen Pflanzer aus dem Süden. Dabei is’ er ‘n ganz ordinärer Leichenbestatter.«
»Klar, Opa«, warf Klein-Susie ein. »Der wollte dir auch ‘n Sarg anmessen.«
»Sarg!« Opa fuhr von seinem Stuhl hoch wie unser Eber, wenn er mal an den elektrischen Weidezaun stößt. »Wozu in Dreideibelsnamen brauch ich einen Sarg?«
»Weil du doch tot bist!«
Das sagte sie einfach so raus. Ma und Pa wollten beide über sie herfallen, aber Opa lachte sich halb kaputt.
»Du meine Güte, Kind, wie kommst du denn auf so was?«
Pa hatte den Gürtel aus der Hose geholt und ging damit drohend auf Susie zu, aber Ma schüttelte den Kopf. Sie baute sich vor Opa auf.
»Das stimmt schon. Du bist heute nacht gestorben: Weißt du das etwa nicht mehr?«
»Mein Gedächtnis ist tadellos«, erklärte Opa. »Ich hatte einen meiner Anfälle, mehr nicht.«
Ma seufzte tief. »Diesmal war es eben kein Anfall.«
»Etwa ‘n kleiner Schlag?«
»Noch schlimmer. Dir ging’s so elend, daß Pa zu Doc Snodgrass rüberlief und ihn aus seiner Praxis klingelte. Vermasselte ihm ein sauberes Pokerblatt. Hat aber alles nichts genützt. Als die beiden ankamen, warst du schon hinüber.«
»Ich bin aber nicht hinüber. Ich bin hier.«
An dieser Stelle mischte sich Pa ein. »Nun mach mal ‘n Punkt, Opa. Wir haben dich gesehn. Wir sind Zeugen.«
»Zeugen?« Opa zerrte an den Hosenträgern, ein sicheres Zeichen dafür, daß er in Wut geriet. »Was soll der Quatsch? Habt ihr vielleicht die Absicht, vor Gericht auszufechten, ob ich lebendig oder tot bin?«
»Aber, Opa …«
»Halt die Luft an, Sonny!« Opa erhob sich. »Keiner hat ‘n Recht nicht, mich untern Rasen zu buddeln, solang’ ich dagegen bin!«
»Wohin gehst du?« fragte Ma.
»Wohin schon?« entgegnete Opa. »Auf die Vorderveranda wie jeden Morgen. Gucken, was so los ist.«
Und damit ließ er uns in der Küche sitzen.
»Der bringt einen zur Weißglut!« Ma deutete zum Herd. »All das schöne Gemüse, das ich aus dem Garten geholt hab’, um nach der Beerdigung ein Opposum-Stew zu richten! Was sollen bloß die Nachbarn denken?«
»Nun hör schon zu jammern auf!« sagte Pa. »Vielleicht ist er echt noch nicht tot.«
Ma schnitt eine Grimasse. »Wir wissen es beide besser. Der spielt wieder mal stur.« Sie gab Pa einen Rippenstoß. »Da hilft nur eins. Du springst jetzt rüber zu Doc Snodgrass. Er soll herkommen und die Sache ein für allemal klarstellen.«
»Schätze, du hast recht«, brummte Pa und verschwand durch die Hintertür. Ma schaute mich und Klein-Susie an.
»Ihr Kinder geht raus auf die Veranda und leistet Opa Gesellschaft. Paßt auf, daß er sich nicht aus ‘m Staub macht, bis der Doc anrückt.«
»Ist gut«, sagte Susie, und wir verzogen uns nach draußen.
Und wirklich thronte Opa in voller Lebensgröße auf seinem Schaukelstuhl, blinzelte in die Sonne und freute sich über die Flüche der Autofahrer, die unseren Schweinen ausweichen mußten.
»Guckt euch das an!« sagte er und deutete auf die andere Straßenseite. »Der fette Kerl in seinem Hupmobil kam angeflitzt wie ‘n Höllenhund. Hatte leicht dreißig Meilen drauf. Ehe er sich’s versah, preschte Bessie aus dem Unkraut und schmiß ihm die Karre glatt in den Graben. Ich hab’ meiner Lebtag noch nie so was Komisches gesehn.«
Susie schüttelte den Kopf. »Du lebst ja auch gar nicht, Opa.«
»Nun fang nicht wieder damit an!« Opa warf ihr einen zornigen Blick zu, und Susie hielt den Mund.
Genau in diesem Moment fuhr Doc Snodgrass in seinem großen Essex vor und parkte genau neben Bessies Hinterteil. Doc und Pa stiegen aus und kamen zur Veranda geschlendert. Pa redete heftig auf Doc ein, und der schüttelte den Kopf, als wolle er nicht glauben, was Pa ihm da erzählte.
Dann entdeckte er Opa draußen und blieb wie angewurzelt stehen. Seine Augen quollen vor.
»Heiliger Antonius!« sagte er zu Opa. »Was machst denn du hier?«
»Was wohl?« entgegnete Opa. »Ist es vielleicht verboten, daß ein Bürger in Frieden auf seiner Veranda sitzt und schaukelt?«
»In Frieden unter der Erde ruhen, das solltest du von Rechts wegen!« polterte Doc. »Als ich dich letzte nacht untersuchte, warst du mausetot.«
»Oder du stockbesoffen«, erklärte Opa.
Pa nickte Doc zu. »Na, was hab’ ich gesagt?«
Doc beachtete ihn nicht. Er baute sich vor Opa auf. »Vielleicht bin ich doch ‘n klitzekleines Stückchen zu weit gegangen«, meinte er. »Was dagegen, wenn ich dich noch mal untersuche?«
»Nur immer zu.« Opa zahnte. »Ich hab’ Zeit.«
So klappte Doc seine kleine schwarze Tasche auf und hakte sich ein Stethoskop in die Ohren. Er klopfte Opas Brust ab und horchte. Seine Finger begannen zu zittern.
»Ich hör rein gar nichts«, sagte er.
»Ich bin ja auch kein Radio.«
»Laß die Witze!« fauchte Doc. »Angenommen, ich verrate dir, daß dein Herz nicht mehr schlägt?«
»Angenommen, ich verrate dir, daß dein Stethoskop im Eimer ist?«
Doc fing zu schwitzen an. Er kramte einen Spiegel hervor und hielt ihn Opa vor den Mund. Danach zitterten seine Finger noch viel schlimmer.
»Siehst du das?« fragte er. »Der Spiegel ist klar. Das bedeutet, daß du schon vor längerer Zeit deinen letzten Schnaufer getan hast.«
Opa schüttelte den Kopf. »Kümmere dich um deinen eigenen Schnaufer! Du hast eine Fahne, die das stärkste Muli umhaut.«
»Na warte, dir vergeht die Sturheit noch!« Doc holte einen Wisch aus der Tasche. »Da, sieh dir das an!«
»Was ist das?«
»Dein Totenschein.« Doc deutete mit dem Zeigefinger. »Lies mal, was in der Zeile da steht. Todesursache: Herzstillstands Und das ist amtlich. Das gilt vor Gericht!«
»Bitte – geh ruhig hin und versuch dein Glück!« spottete Opa. »Was meinst du wohl, wem der Richter mehr glaubt – mir oder deinem Fetzen Papier?«
Doc schluckte, und seine Augen traten noch ein Stück aus ‘m Kopf. Er schaffte es kaum, den Totenschein wegzustecken, so zitterten ihm die Hände.
»Ist Ihnen nicht ganz wohl?« fragte Pa.
»Ich fühl mich hundeelend«, stöhnte Doc. »Ich fahr jetzt zurück in die Praxis und leg mich ‘ne Weile hin.« Er packte seine Tasche und lief zum Auto, ohne sich noch ‘n einziges Mal umzudrehen.
»Bleib aber nicht zu lang liegen!« rief ihm Opa nach. »Sonst kommt einer und schreibt ‘n Wisch, wo drauf steht: Todesursache – Suff!‹«
Mittags hatte keiner von uns Appetit. Keiner außer Opa, wohlgemerkt.
Der setzte sich an den Tisch und verdrückte nacheinander Bohnen, Maisgrütze, zwei Portionen Kutteln und zwei Riesenstücke Rhabarberstrudel mit Vanillesoße.
Ma ist im allgemeinen mächtig stolz, wenn die Leute in ihr Essen reinhauen, aber Opa schien sie’s heute nicht zu gönnen. Sobald er fertig war und wieder raus auf die Veranda ging, stapelte sie das Geschirr auf der Anrichte und befahl uns, den Abwasch zu übernehmen. Sie verschwand kurz im Schlafzimmer und kam mit Umschlagtuch und Handtasche wieder.
»Was hast du denn vor?« wollte Pa wissen.
»Ich geh in die Kirche.«
»Am hellichten Donnerstag?«
»Bis Sonntag kann ich nicht warten«, erklärte Ma. »Vor allem nicht, wenn die Hitze weiter anhält. Du hast selber die Nase gerümpft, als Opa zum Essen reinkam.«
»Das war Opa?« Pa hob die Schultern. »Ich dachte, die Kutteln hätten einen leisen Stich.«
»Meine Kutteln? Nie und nimmer!«
»Und was hast du jetzt vor?«
»Es gibt nur noch eins – alles in die Hände des Herrn legen!«
Und weg war sie. Susie und ich machten uns an den Abwasch, während Pa mit einer mächtig düsteren Miene durch den Hinterausgang verschwand. Ich sah durchs Küchenfenster, wie er die Schweine fütterte. Man merkte genau, daß er mit seinen Gedanken ganz woanders war.
Susie und ich trollten uns auf die Veranda und behielten Opa im Auge.
Ma hatte recht mit der Hitze. Man kam sich vor wie in einem Höllenbackofen. Opa schien nichts zu merken, aber mir fiel auf, daß er ganz schön schier roch.
»Guck die vielen Fliegen, die um ihn rumschwirren!« sagte Susie zu mir.
»Bscht!«
Aber die Schmeißfliegen surrten so laut, daß wir kaum verstehen konnten, was Opa sagte. »He, Kinder!« rief er. »Kommt doch ‘n Weilchen her!«
»Die Sonne brennt so arg«, widersprach Susie.
»Find’ ich aber gar nicht.« Opa hatte nicht mal einen Schweißtropfen auf der Stirn.
»Und die Schmeißfliegen!«
»Die tun mir nix.« Ein dicker Brummer landete mitten auf seiner Nase, doch Opa zuckte nicht mal zusammen.
Susie machte ein ängstliches Gesicht. »Du, der ist wirklich tot«, flüsterte sie.
»Sprich lauter, Kind!« mahnte Opa. »Es gehört sich einfach nicht, so rumzunuscheln.«
In diesem Moment bog Ma mit Reverend Peabody im Schlepp von der Straße her zu unserm Haus ab. So heiß es war, sie hatte ganz schön Fahrt drauf. Der Hochwürden stöhnte und schnaufte, aber sie blieb erst dicht vor der Veranda stehen.
»Sieh an, der Herr Hochwürden!« rief Opa. »Wie geht’s immer?«
Reverend Peabody starrte ihn an. Er machte den Mund auf, brachte aber keinen Ton raus.
»Was ist?« fragte Opa. »Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« Der Reverend lächelte wie ein Stinktier, das eine Hummel verschluckt hat.
»Kann mir’s schon denken. Bei der Hitze kriegt man eine ausgedörrte Kehle.« Er wandte sich an Ma. »Los, Addie, hol dem Herrn Hochwürden eine kleine Erfrischung!«
Ma ging ins Haus.
»So«, sagte Opa, »nun machen Sie sich’s mal bequem.«
Der Reverend schluckte schwer. »Eigentlich bin ich nicht zu einem Plauderstündchen hier.«
»Weshalb nehmen Sie dann den langen Weg auf sich?«
Wieder schluckte der Reverend. »Nach allem, was ich von Addie und Doc hörte, mußte ich selbst nach dem Rechten sehen.« Er starrte wie gebannt auf die Fliegen, die Opa umschwirrten. »Aber jetzt wär’s mir lieber, ich hätt’ mich auf ihr Wort verlassen.«
»Was soll ‘n das heißen?«
»Das soll heißen, daß ein Mann in deinem Zustand nicht mehr das Recht hat, Fragen zu stellen. Wenn der Herr dich ruft, hast du ihm freudig zu folgen!«
»Ich hab’ kein Rufen gehört«, erklärte Opa. »Aber mein Gehör taugt auch nicht mehr viel.«
»Den Eindruck hatte auch der Doc. Du scheinst nämlich nicht zu merken, daß dein Herz zu schlagen aufgehört hat.«
»Vielleicht tickt es ‘ne Spur langsamer als früher. Aber das ist ganz natürlich, wenn man neunzig auf ‘m Buckel hat.«
»Und dir ist nie der Gedanke gekommen, daß diese neunzig ganz schön was darstellen? Du hast sehr lang gelebt, Opa. Findest du es nicht mal an der Zeit, den Löffel wegzulegen? Wie heißt es in der Bibel so trefflich? Der Herr gibt, und der Herr nimmt!«
Opa setzte wieder seine streitbare Miene auf. »Also, mich nimmt er jedenfalls nicht.«
Reverend Peabody kramte ein großes Taschentuch aus seinen Jeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Du fürchtest dich doch nicht etwa? Schöner kannst du’s gar nicht kriegen als da droben. Alle Sorgen und alle Mühsal werden von dir genommen. Ganz zu schweigen davon, daß du aus dieser Prügelhitze hier fortkommst.«
»Ich spür sie kaum.« Opa strich sich über den Schnauzer. »Ich spür überhaupt kaum was.«
Der Reverend musterte ihn scharf. »Fühlen sich deine Hände steif an?«
Opa nickte. »Und nicht nur die.«
»Dachte ich es mir doch! Weißt du auch, was das bedeutet? Rigor mortis!«
»Ich kenn kein Rigger Mortis«, erklärte Opa. »Das Rheuma sitzt mir in den Knochen, das ist alles.«
Wieder wischte sich der Reverend den Schweiß von der Stirn. »Bei dir braucht man vielleicht Überredungskünste!« stöhnte er. »Du scherst dich weder um die Ansicht eines gelehrten Doktors noch um das Wort des Herrn. Weißt du was? Du bist der sturste alte Hammel, den ich je erlebt hab’.«
»Tja, ich komm aus Missouri«, entgegnete Opa mit Würde. »Und die Leute da wollen handfeste Beweise sehn, bevor sie was glauben.«
Der Reverend steckte sein Tuch weg. Es war klatschnaß. Mit einem tiefen Seufzer schaute er Opa in die Augen.
»Manche Dinge muß man einfach so glauben!« sagte er. »Mir will auch nicht in den Schädel, daß du hier rumsitzt, anstatt dir die Gänseblümchen von unten zu begucken, und ich muß es trotzdem glauben. Ich schwöre dir, du hast überhaupt keinen Grund, hier ein Theater aufzuführen. Mag sein, daß du dich dagegen sperrst, im Grab zu liegen. Aber – Asche zu Asche, Staub zu Staub, das ist bloß so ein Spruch! Du brauchst dir das nicht so zu denken, daß du jetzt die ganze Ewigkeit unter der Erde liegst. Während deine Gebeine auf dem Friedhof ruhen, fliegt deine Seele davon. Jawohl, in die Höhe, geradewegs in die Arme des Herrn. Und das wird ein großer Moment, wenn du da oben schwebst, frei wie ein Vogel, inmitten der himmlischen Heerscharen, mit ‘ner achtzehnkarätigen Goldharfe und einem Halleluja auf den Lippen …«
»Ich war noch nie musikalisch«, widersprach Opa. »Und mir wird schon schwindlig, wenn ich auf ‘ner Leiter steh und das Dach von unserm Lokus neu teeren muß.« Er schüttelte den Kopf. »Ich will Ihnen mal was sagen, Hochwürden! Wenn Sie glauben, daß es da droben so verdammt schön ist, warum gehn Sie dann nicht selber rauf?«
In diesem Moment kam Ma wieder ins Freie. »Tut mir leid, uns ist das Zitronenwasser ausgegangen«, sagte sie. »Alles, was ich auftreiben konnte, war ‘n Schluck Whisky. Ich weiß ja, wie Sie über diese Dinge denken, Herr Hochwürden, aber …«
Der Reverend riß ihr die Flasche aus der Hand, setzte sie an und nahm einen kräftigen Zug. »Sie sind eine brave Frau«, sagte er dann zu Ma. »Der Herr wird es Ihnen vergelten.« Damit eilte er davon.
»He, halt!« rief Ma ihm nach. »Und was geschieht mit Opa?«
»Seien Sie ohne Furcht, Tochter«, antwortete der Reverend über die Schulter. »Wir müssen auf die Kraft des Gebets vertrauen.«
Dann war er am Ende der Straße verschwunden, und nur eine Staubfahne blieb zurück.
»Der hat doch glatt die Flasche mitgenommen!« murmelte Opa. »Wenn ihr mich fragt, so ist dem sein einziger Gott der Whisky.«
Ma schaute ihn an, dann brach sie in Tränen aus und stürzte ins Haus.
»Was hat sie nun schon wieder?« wollte Opa wissen.
»Laß sie mal!« entgegnete ich. »Susie, bleib hier bei Opa und verscheuch ihm die Fliegen! Ich muß was erledigen.«
Und das stimmte.
Noch bevor ich reinging, hatte ich einen Plan gefaßt. Ich konnte es einfach nicht mitansehn, wie Ma flennte. Sie stand in der Küche, klammerte sich an Pa und schluchzte: »Was sollen wir machen? Was sollen wir bloß machen?«
Pa tätschelte ihre Schulter. »Aber, Addie, nun fang dich wieder! Lange kann das nicht mehr dauern.«
»Lange halt ich das auch nicht mehr durch«, jammerte Ma. »Wenn Opa nicht bald Vernunft annimmt, sitzt er eines schönen Morgens als Skelett am Frühstückstisch. Und was werden die Nachbarn denken, wenn sie ein Gerippe auf meiner schönen Veranda entdecken? Richtig genieren muß man sich.«
»Laß nur, Ma«, warf ich ein. »Ich hab’ eine Idee.«
Ma hörte zu flennen auf. »Was für eine Idee?«
»Ich geh rüber in die Geisterschlucht.«
»In die Geisterschlucht?« Ma wurde so blaß, daß sogar ihre Sommersprossen verschwanden. »Kommt nicht in Frage, mein Junge …«
»Es ist unsere letzte Chance«, erklärte ich. »Und vielleicht hilft es was.«
Pa holte tief Luft. »Hast du denn gar keine Angst?«
»Nicht, solange es draußen hell bleibt«, sagte ich. »Nun macht euch mal keine Sorgen. Bis zum Abend bin ich längst zurück.«
Damit rannte ich durch den Hinterausgang.
Ich kletterte über den Zaun und flitzte zum Bach. Nur einmal hielt ich kurz an und holte mein Sparschwein aus dem unkrautüberwucherten Versteck zwischen den Uferfelsen. Dann watete ich durchs Wasser und lief weiter zum Hochwald.
Sobald ich die Tannen erreicht hatte, ließ ich ein wenig Dampf ab, um mich nicht zu verirren. Es gab keine Wege, weil hier selten einer vorbeikam. Die Leute machten sogar tagsüber einen großen Bogen um den Wald – er war einfach zu düster und einsam. Wie ausgestorben lag er da. Nichts bewegte sich im Unterholz, und sogar die Vögel schwiegen.
Aber ich kannte mich aus. Ich mußte bloß den Hügelkamm überqueren und den Hang auf der anderen Seite wieder runterlaufen. Ganz unten, an der finstersten, einsamsten Stelle lag die Geisterschlucht.
Und in der Geisterschlucht gab es eine Felshöhle.
Und in der Felshöhle wohnte die Waldhexe.
Wenigstens hatte ich gehört, daß sie da wohnte. Als ich mich jedoch auf Zehenspitzen an das große schwarze Loch ranpirschte, fand ich keine Menschenseele. Bloß die Schatten krochen von allen Seiten auf mich zu.
Ehrenwort, es war echt gruselig. Ich spürte ein Kribbeln in den Fußsohlen, aber ich blieb da.
Nach einer Weile rief ich: »He – Sie kriegen Besuch!«
»Wer da?«
»Ich bin’s – Jody Tolliver.«
»Weerr daa?«
Ich schaute auf und entdeckte eine mächtige Schreieule, die auf einem Ast neben der Höhle hockte und mich mit ihren Funkelaugen anglotzte.
Als ich mich wieder dem Felsloch zuwandte, stand sie plötzlich da – die Waldhexe.
Ich begegnete ihr zum erstenmal im Leben, aber ich wußte genau, daß sie die Waldhexe war. Zaundürr und verschrumpelt sah sie aus. Sie trug nur ‘n paar Lumpen, und ihr Gesicht unter der altmodischen Haube war schwarz wie ein Klumpen Kohle.
Quatsch, sag ich zu mir, denk dir nix – das ist ‘ne nette alte Lady, mehr nicht!
Dann schaute sie mich an, und ihre Augen waren viel größer als die von der Eule. Sie funkelten auch doppelt so wild.
Ich spürte schon wieder dieses Kribbeln in den Fußsohlen, aber ich guckte nicht weg.
»Tag, Waldhexe«, sagte ich.
»Weerr daa?« kreischte die Eule.
»Der junge Tolliver«, rief ihr die Waldhexe zu. »Du hast wohl Wachs in den Ohren, was? Und nun sei so gut und quatsch nicht ständig dazwischen!«
Die Eule warf ihr einen bösen Blick zu und flatterte davon. Die Waldhexe kam ganz aus ihrer Höhle hervor.
»Kümmere dich nicht um Ambrose«, meinte sie. »Der ist Besucher nicht gewöhnt. Tagein, tagaus sieht er bloß mich und die Fledermäuse.«
»Was für Fledermäuse?«
»Ach, die hängen drinnen in der Höhle.« Die Waldhexe strich ihr Kleid glatt. »Ich tat dich ja gern reinbitten, aber bei mir geht’s drunter und drüber. Ich nehm mir immer vor, mal richtig aufzuräumen, doch meist kommt was dazwischen – erst der verdammte Weltkrieg, dann die Prohibition, und so fort. Ich schaff’s einfach nicht.«
»Aber ich bitte Sie!« sagte ich weltmännisch. »Es geht sowieso um geschäftliche Angelegenheiten.«
»Dachte ich mir fast.«
»Hier – ich hab’ Ihnen auch was Hübsches mitgebracht.«
»Was denn?«
»Mein Sparschwein«, erklärte ich und reichte es ihr.
»Da dank ich dir aber sehr«, sagte die Waldhexe.
»Schlagen Sie’s ruhig kaputt«, forderte ich sie auf.
Sie schmetterte es an einen Stein, und die Münzen rollten auf den Boden. Flink sammelte sie alle ein.
»Wieviel ist es denn?« fragte ich. »Ich hab’ immerhin fast zwei Jahre gespart.«
»Siebenundachtzig Cents, ‘n alter Nickel und ‘ne Plakette zum Anstecken.« Sie zahnte. »Die ist besonders hübsch. Was steht ‘n da drauf?«
»Keep cool with Coolidge!«
»Na, wenn das kein guter Rat ist!« Die Waldhexe schob das Geld ein und machte die Anstecknadel an ihrem Kleid fest. »So, junger Mann – Schönheit, wem Schönheit gebührt. Und was kann ich für dich tun?«
»Es ist wegen meinem Opa«, sagte ich. »Titus Tolliver heißt er.«
»Titus Tolliver? Aber den kenn ich doch! Hatte eine Brennerei in der Holzhütte drunten am Bach. Ist ‘n stattlicher Mann, mit ‘m schwarzen Vollbart, was?«
»War er vielleicht mal«, widersprach ich. »Inzwischen ist er ganz verhutzelt, und der Rheumatismus plagt ihn. Außerdem sieht er schlecht. Und seine Ohren taugen gar nichts mehr.«
»Jammerschade, so was«, meinte die Waldhexe. »Aber früher oder später geht es mit uns allen bergab. Und wenn’s soweit ist, muß man eben den Löffel wegschmeißen.«
»Genau deshalb bin ich hier. Er will nicht.«
»Was will er nicht?«
»Er ist tot und will das nicht einsehen.«
Die Waldhexe musterte mich scharf. »Also, das möcht ich genauer wissen.«
Na, und da redete ich los. Erzählte ihr die ganze miese Geschichte von Anfang an.
Sie hörte mir zu und sagte kein Wort. Als ich fertig war, starrte sie mich an, bis ich ‘n ganz kribbeliges Gefühl bekam.
»Ich weiß schon, daß Sie mir nicht glauben«, sagte ich. »Aber ich schwör’s, es ist die reine Wahrheit.«
Die Waldhexe schüttelte den Kopf. »Ich glaub dir schon, mein Junge. Wie gesagt, ich kenn deinen Opa von früher. War schon damals ein verdammt sturer Teufel, und das ist er wohl geblieben. Dem sein Leiden nennt man Starrsinn in Potenz.«
»Kann sein«, meinte ich. »Aber da können wir nix dagegen tun, und der Doc und der Herr Hochwürden auch nicht.«
Die Waldhexe rümpfte die Nase. »Ach, die beiden! Was wissen die schon?«
»Eben drum bin ich hergekommen. Vielleicht können Sie uns weiterhelfen.«
»Na, dann laß mich mal nachdenken.«
Die Waldhexe zog eine Maiskolbenpfeife aus der Tasche und steckte sie an. Ich weiß nicht, was für ein Kraut sie rauchte, aber der Gestank bog einem Christenmenschen fast die Zehennägel auf. Mir war ganz komisch zumute, und am liebsten hätte ich mich verkrümelt. Der Wald wirkte schummerig, und ein kalter Wind raschelte in den Blättern.
»Irgendwas gibt’s doch sicher«, drängte ich. »Einen Talisman oder einen Zauberspruch …«
Sie schüttelte den Kopf. »Alles kalter Kaffee. Das hier ist eine von diesen neumodischen Sachen, wo sich im Kopf abspielen, und da brauchen wir auch neumodische Mittel. Dein Opa, der lacht sich schief, wenn den einer verhexen will. Wie er selber sagt – er stammt aus Missouri. Dem muß bloß einer beweisen, daß er tot ist.«
»Aber wie?«
Die Waldhexe kicherte trocken. »Ich hab’s!« Sie blinzelte mir zu. »Klar, mein Sohn, genau das ist es! Renn nicht davon, ich bin gleich wieder da!« Und sie huschte zurück in ihre Höhle.
Ich stand da, spürte, wie mir der Wind in den Nacken blies, und hörte auf das Rascheln der Blätter. Ich wollte gar nicht so genau verstehen, was sie da wisperten.
Dann kam sie wieder ins Freie. Sie hielt etwas in der Hand.
»Nimm das mit!« sagte sie.
»Was ist ‘n das?«
Sie verriet es mir und sagte auch, was ich damit tun sollte.
»Und Sie glauben echt, daß wir es so schaffen?«
»Es ist die einzige Chance.«
Also schob ich das Ding in die Hosentasche, und sie gab mir einen kleinen Klaps. »So, junger Mann, und nun wetz los, damit du noch vor dem Abendessen daheim bist!«
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, wo der eisige Wind so in den Bäumen stöhnte und wimmerte und die Dunkelheit immer näher an mich rankroch.
Ich murmelte ein Vergeltsgott und büchste los. Als ich noch einmal umschaute, stand die Waldhexe am Eingang ihrer Höhle und polierte die Coolidge-Plakette mit einem Stück Efeuwurzel.
Ich rannte durch den Wald, den Hügel rauf und auf der anderen Seite wieder runter. Als ich die Felder erreichte, war alles stockdunkel, und im Bach spiegelte sich der Mond. Ein Habicht, der vor einem Mauseloch auf der Lauer saß, flog erschrocken auf, aber das war mir egal. Ich lief im Zickzack zum Zaun, setzte darüber und riß die Küchentür auf.
Ma stand mit einem Topf am Herd, während Pa seine Suppe löffelte.
»Gott sei Dank!« sagte Ma. »Grad wollt ich dir Pa hinterherschicken.«
»Ich bin gerannt, was ich konnte.«
»Ist ja gut«, warf Pa ein. »Wenn der Zirkus nicht bald aufhört, verlieren wir noch alle den Verstand.«
»Welcher Zirkus denn?«
»Na, es fing an mit Miß Francy. Die Leute im Ort hatten ihr erzählt, daß Opa tot ist, und da wollte sie uns was Gutes tun und ‘n Stew vorbeibringen. Also, sie rauscht an in ihrem Sonntagsstaat, hat ihr schönstes Beileidsgesicht aufgesetzt und trägt die Terrine vor sich her. Und ausgerechnet da sieht sie Opa, der auf der Veranda sitzt und sie durch die Fliegenschwärme so ein bißchen schief angrinst.
In ihrem Schreck reißt sie die Terrine hoch, alles schwappt raus, und ihr teures Kostüm ist über und über mit Grünzeug garniert.
Ich sag dir, die drehte sich um und rannte los, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Dazu kreischte sie, daß der Klobalken zitterte.«
»Schlimm«, meinte ich.
»Es kommt noch schlimmer«, entgegnete Pa. »Als nächster tauchte Bixbee auf. Er hupte draußen. Traute sich nicht an Opa ran. Ich mußte zu ihm runtergehen, wo er in seinem Leichenwagen saß.«
»Was wollte er denn?«
»Sagte, er käme die sterblichen Überreste holen. Und wenn wir sie nicht bald rausrückten, wollte er am nächsten Morgen in die Kreisstadt fahren und sich ‘ne richterliche Verfügung holen.«
Ma sah aus, als wollte sie gleich wieder losflennen. »Er meinte, es sei ein Skandal und eine Schande, Opa so rumsitzen zu lassen. Bei der Hitze und den Fliegen. Sogar beim Gesundheitsamt will er das melden, hat er gedroht. Dann kämen wir in Qua-ran-täne.«
»Und was sagte Opa dazu?«
»Keinen Pieps. Schaukelte einfach weiter, bis Bixbee mit seiner Leichenkutsche abgebraust war. Susie kam kurz rein, als die Sonne unterging. Opa ist brettsteif, sagt sie, aber das kümmert ihn überhaupt nicht. Er fragt bloß dauernd, wann es was zu essen gibt.«
»Das ist gut«, sagte ich. »Dafür hab’ ich genau das Richtige von der Waldhexe gekriegt.«
»Doch nicht etwa Gift?« Pa warf mir einen besorgten Blick zu. »Du weißt, ich bin ein gottesfürchtiger Mann und mag mit so was nichts zu schaffen haben. Außerdem – wie soll man einen vergiften, der schon tot ist?«
»Quatsch«, erwiderte ich. »Das hier hat sie mir mitgegeben.«
Ich zog das Ding aus meiner Hosentasche und hielt es hoch.
»Und was im Namen des Allmächtigen soll das sein?« fragte Ma.
Ich sagte es ihr und erklärte dann, was man damit tun mußte.
»So ‘n Blödsinn hab’ ich meiner Lebtag noch nicht gehört!« meinte Ma.
Pa machte ein düsteres Gesicht. »Ich hätt’s nie zulassen sollen, daß du zur Geisterschlucht gehst. Die Waldhexe muß ihren letzten Funken Verstand verloren haben, wenn sie dir mit so was kommt.«
»Ich schätze, die ist mit allen Wassern gewaschen«, sagte ich. »Und ich hab’ immerhin was bezahlt für den Rat – siebenundachtzig Cents, einen Nickel und die Coolidge-Plakette!«
»Ach, pfeif auf die Plakette!« tröstete mich Pa. »Die hab’ ich einem Yankee abgerissen – einem von diesen Steuerschnüfflern.« Er kratzte sich am Kinn. »Aber bares Geld, das ist was anderes. Vielleicht sollten wir’s doch versuchen.«
»Pa …«, begann Ma.
»Weißt du was Besseres?« Pa schüttelte den Kopf. »So wie ich das seh, haben wir morgen das Gesundheitsamt am Hals. Es wird höchste Zeit, daß wir was unternehmen.«
Ma ließ einen Seufzer los, der so richtig aus der Tiefe kam.
»Na schön, Jody«, sagte sie zu mir. »Wir machen es genauso, wie die Waldhexe gesagt hat. Pa, hol mal Susie und Opa rein. Ich trag inzwischen auf.«
»Glaubst du, daß es damit klappen wird?« fragte Pa und warf einen Blick auf das Ding, das ich in der Hand hielt.
»Es muß«, erklärte ich. »Was anderes haben wir nicht.«
Also ging Pa raus, und ich trat an den Eßtisch, um den Plan der Waldhexe in die Tat umzusetzen.
Kurz drauf kam Pa mit Susie zurück.
»Wo bleibt Opa?« fragte Ma.
»Der geht ganz langsam«, erklärte Susie. »Muß wohl dieser Rigger Mortis sein.«
»Quatsch!« Opa erschien im Eingang und stakte in die Küche wie ‘ne Schabe, die über eine heiße Herdplatte läuft. »Ein bißchen steif fühl ich mich, das ist alles.«
»Steif wie ‘n Brett«, widersprach ihm Pa. »Von Rechts wegen solltest du droben in deinem Bett liegen, mit ‘ner Lilie zwischen den Händen.«
»Nun fang nicht schon wieder an!« fauchte Opa. »Ich hab’ dir gesagt, daß ich noch lang nicht tot bin, wenn ich mal blau anlauf!«
»Mal ist gut«, sagte Susie. »Du siehst so blau aus, daß es blauer gar nicht geht.«
Und das stimmte. Er war blau und irgendwie aufgedunsen, aber das wollte er einfach nicht wahrhaben. Mir fiel ein, was Ma wegen dem Skelett gesagt hatte, und ich wünschte mir ganz fest, daß die Waldhexe recht behalten würde. Sie mußte recht behalten, denn Opa wurde mit jeder Minute toter.
Aber das hätte keiner geglaubt, als er auf das Abendbrot losstürmte.
»Hmm«,sagte er. »Heut hast du dich selber übertroffen, Addie. Mein Lieblingsgericht – Grünkohl mit Fischköpfen!« Er war schon dran, sich eine Portion aufzuladen, als er das Ding neben seinem Teller entdeckte.
»Ja, zum Henker, was soll ‘n das?« polterte er.
»Das ist eine ganz normale Serviette«, erklärte ich.
»Ganz normal?« Opa riß die Augen auf. »Ich hab’ noch nie im Leben eine schwarze Serviette gesehen.«
Pa guckte Ma an. »Wir dachten, es sei ein besonderer Anlaß«, sagte er. »Wenn du verstehst, was ich meine …«
Opa schnaufte verächtlich, »‘ne schwarze Serviette? Ich weiß genau, was du andeuten willst, aber mir ist das schietegal.«
Und er schaufelte sich den Teller voll und hieb rein.
Wir anderen saßen einfach da und guckten uns an.
»Was hab’ ich dir gesagt?« flüsterte mir Pa verärgert zu.
Ich schüttelte den Kopf. »Wart’s ab!«
»Langt zu!« ermahnte uns Opa. »Sonst räum ich allein ab.«
Und das tat er. Seine Arme waren steif, die Finger hatten Mühe mit der Gabel, und die Kiefermuskeln wollten nicht so recht – aber er aß. Und redete.
»Ich und tot? Hätte nie geglaubt, daß mal jemand wagen würde, mir so was ins Gesicht zu sagen! Und dann ausgerechnet die Familie! Ich geb ja zu, daß ich hin und wieder stur bin, aber ich hab’s noch nie zu weit getrieben. Wenn ich positiv wüßte, daß mich der Sensenmann geholt hat, war ich der letzte, der sich dagegen sträuben würde. Ich leg keinem was in den Weg, schon gar nicht den eigenen Leuten. Bloß beweisen müßt ihr mir, daß ich nicht mehr lebe. Das ist alles, was ich verlang – einen winzigen Beweis.«
»Du, Opa …«, unterbrach ich ihn.
»Was gibt’s Junge?«
»Entschuldige, aber dir tropft der ganze Grünkohl übers Kinn.«
Opa legte die Gabel weg. »Tatsächlich. Danke, mein Junge.«
Und ehe er so recht merkte, was er tat, wischte sich Opa den Mund mit der Serviette ab.
Als er fertig war, warf er einen Blick drauf. Er guckte einmal und dann noch einmal. Schließlich legte er ganz sacht die Serviette auf den Tisch, stand auf und ging zur Treppe.
»Lebt wohl«, sagte er.
Wir hörten, wie er mit schweren Schritten die Treppe rauf und den Korridor entlang zu seinem Zimmer tappte. Die Matratze quietschte, als er sich ins Bett legte.
Dann war alles still.
Nach einer Weile schob Pa den Stuhl zurück und ging nach oben. Keiner sagte ein Wort, bis er wiederkam.
»Na?« Ma guckte ihn an.
»Alles in Ordnung«, erklärte Pa. »Er hat den Löffel für immer weggelegt. Ist jetzt droben, wo er’s schöner hat. Amen.«
»Gelobt sei der Herr!« murmelte Ma. Dann schaute sie mich an und deutete auf die Serviette. »Tu das Ding bitte weg!«
Ich nahm sie mit spitzen Fingern. Susie schaute uns erstaunt an. »Sagt einem hier keiner, was los ist?«
Ich gab keine Antwort, sondern trug die Serviette raus und warf sie in den Bach. Hatte wenig Sinn, die Angelegenheit rumzuposaunen. Aber die Waldhexe hatte recht behalten, als sie sagte, Opa würde seinen Beweis kriegen, sobald er sich den Mund abwischte.
Auf so ‘ner schwarzen Serviette sieht man nämlich die kleinen weißen Maden am allerbesten.