Al­ter­s­starr­sinn
von
Robert Bloch

 

 

Der 1917 ge­bo­re­ne ame­ri­ka­ni­sche Schrift­stel­ler und Dreh­buch­au­tor Ro­bert Bloch braucht nicht ex­tra vor­ge­stellt zu wer­den. Mit sei­nem Skript zu Al­fred Hit­ch­cocks Hor­ror­film ›Psy­cho‹ ist er welt­be­rühmt ge­wor­den. Bloch hat auch die Dreh­bü­cher zu ei­ni­gen an­de­ren großen Hor­ror­pro­duk­tio­nen ge­schrie­ben – sei­ne ei­gent­li­che Stär­ke aber liegt, wie sei­ne bra­vou­rö­se Sto­ry ›Al­ter­s­starr­sinn‹ aufs ein­dring­lichs­te de­mons­triert, auf dem Ge­biet der ma­ka­b­ren Er­zäh­lung.

 

——————————

 

Am Mor­gen nach sei­nem Tod kam Opa zum Früh­stück run­ter.

Ir­gend­wie ko­misch fan­den wir das schon.

Ma guck­te Pa an, Pa guck­te Klein-Su­sie an, und Su­sie guck­te mich an. Dann guck­ten wir al­le Opa an.

»Was is’n los?«frag­te er. »Warum gafft ihr so?«

Kei­ner sag­te was, aber ich kann­te den Grund ganz ge­nau. War ja im­mer­hin erst in die­ser Nacht pas­siert, daß er sei­nen Herz­an­fall krieg­te und di­rekt vor un­se­ren Au­gen starb. Aber da stand er nun, fer­tig an­ge­zo­gen, putz­mun­ter und streit­bar wie eh und je.

»Was gibt’s denn zum Früh­stück?« woll­te er wis­sen.

Ma schluck­te. »Sag bloß nicht, daß du es­sen willst?«

»Was ‘n sonst? Ich bin am Ver­hun­gern.«

Ma schau­te zu Pa rü­ber, doch der roll­te bloß mit den Au­gen. So ging sie zum Herd, nahm die Pfan­ne und klatsch­te ein paar Ei­er auf einen Tel­ler.

»Na al­so, warum nicht gleich«, mein­te Opa. »Aber sagt mal, hat’s da vor­hin nicht nach Brat­wurst ge­ro­chen?« Ma brach­te Opa ein Stück Wurst. So wie er rein­hieb, hat­te sein Ap­pe­tit je­den­falls nicht ge­lit­ten.

Bei der zwei­ten Por­ti­on merk­te Opa, daß wir ihn im­mer noch an­starr­ten. »Warum ißt denn hier kei­ner?« frag­te er.

»Wir ha­ben kei­nen Hun­ger«, er­klär­te Pa, und das stimm­te, als wär’s ein Satz aus der Bi­bel.

»Es­sen hält Leib und See­le zu­sam­men«, be­lehr­te ihn Opa. »Aber hör mal, müß­test du nicht längst in der Sä­ge sein?«

»Mir ist heut’ nicht nach Ar­beit zu­mu­te«, sag­te Pa.

Opa be­trach­te­te ihn mit zu­sam­men­ge­knif­fe­nen Au­gen. »Du hast dich ja rich­tig fein ge­macht. Ra­siert und ‘n Hemd wie am Sonn­tag. Kriegt ihr et­wa Be­such?«

Ma warf einen Blick aus dem Kü­chen­fens­ter und nick­te Opa zu. »Du hast es er­faßt. Da kommt er schon.«

Und tat­säch­lich kam der al­te Bix­bee die Stra­ße ent­lang ge­wetzt.

Ma lief durchs Wohn­zim­mer zur Vor­der­tür – um ihn ab­zu­fan­gen, schät­ze ich – aber er wisch­te ihr eins aus und kam von hin­ten an. Pa schal­te­te nicht schnell ge­nug, und so riß Bix­bee erst die Kü­chen­tür und dann sei­nen Mund auf. Er be­kam bei­des nicht mehr zu.

»Mor­gen, Je­thro«, be­gann er mit sei­ner öli­gen Stim­me. »Ein trau­ri­ger Mor­gen, tja! Ich woll­te euch in eu­rem Schmerz auch nicht stö­ren, aber bei der Hit­ze, die wir seit zwei Ta­gen ha­ben …« Er zog ein Band­maß aus der Ta­sche. »Ich schreib mir schon mal al­les auf, da­mit wir gleich an­fan­gen kön­nen. Je eher wir es hin­ter uns brin­gen, de­sto bes­ser, wenn du ver­stehst, was ich mei­ne …«

»Tut mir leid«, sag­te Pa und stell­te sich so in die Tür, daß der al­te Bix­bee kei­nen Blick ins Zim­mer wer­fen konn­te, »aber du mußt spä­ter wie­der­kom­men.«

»Wie­viel spä­ter?«

»Kann ich nicht ge­nau sa­gen. Wir sind noch ein we­nig un­schlüs­sig.«

»Schön, aber war­tet nicht zu lan­ge«, mein­te Bix­bee. »Mir geht das Eis aus.«

Er troll­te sich erst, als Pa ihm die Tür vor der Na­se zu­knall­te. Ma kam aus dem Wohn­zim­mer, und Pa leg­te war­nend den Fin­ger auf die Lip­pen, aber er hät­te Opa bes­ser ken­nen müs­sen.

»Was woll­te er denn?«

»Ach, bloß ‘n klei­ner Freund­schafts­be­such.«

»Von Bix­bee?« Opa wirk­te miß­trau­isch. »Der hat doch kei­nen ein­zi­gen Freund hier. Spielt den vor­neh­men Pflan­zer aus dem Sü­den. Da­bei is’ er ‘n ganz or­di­närer Lei­chen­be­stat­ter.«

»Klar, Opa«, warf Klein-Su­sie ein. »Der woll­te dir auch ‘n Sarg an­mes­sen.«

»Sarg!« Opa fuhr von sei­nem Stuhl hoch wie un­ser Eber, wenn er mal an den elek­tri­schen Wei­de­zaun stößt. »Wo­zu in Dreid­ei­bels­na­men brauch ich einen Sarg

»Weil du doch tot bist!«

Das sag­te sie ein­fach so raus. Ma und Pa woll­ten bei­de über sie her­fal­len, aber Opa lach­te sich halb ka­putt.

»Du mei­ne Gü­te, Kind, wie kommst du denn auf so was?«

Pa hat­te den Gür­tel aus der Ho­se ge­holt und ging da­mit dro­hend auf Su­sie zu, aber Ma schüt­tel­te den Kopf. Sie bau­te sich vor Opa auf.

»Das stimmt schon. Du bist heu­te nacht ge­stor­ben: Weißt du das et­wa nicht mehr?«

»Mein Ge­dächt­nis ist ta­del­los«, er­klär­te Opa. »Ich hatte einen mei­ner An­fäl­le, mehr nicht.«

Ma seufz­te tief. »Dies­mal war es eben kein An­fall.«

»Et­wa ‘n klei­ner Schlag?«

»Noch schlim­mer. Dir ging’s so elend, daß Pa zu Doc Snod­grass rü­ber­lief und ihn aus sei­ner Pra­xis klin­gel­te. Ver­mas­sel­te ihm ein sau­be­res Po­ker­blatt. Hat aber al­les nichts genützt. Als die bei­den an­ka­men, warst du schon hin­über.«

»Ich bin aber nicht hin­über. Ich bin hier.«

An die­ser Stel­le misch­te sich Pa ein. »Nun mach mal ‘n Punkt, Opa. Wir ha­ben dich ge­sehn. Wir sind Zeu­gen.«

»Zeu­gen?« Opa zerr­te an den Ho­sen­trä­gern, ein si­che­res Zei­chen da­für, daß er in Wut ge­riet. »Was soll der Quatsch? Habt ihr viel­leicht die Ab­sicht, vor Ge­richt aus­zu­fech­ten, ob ich le­ben­dig oder tot bin?«

»Aber, Opa …«

»Halt die Luft an, Son­ny!« Opa er­hob sich. »Kei­ner hat ‘n Recht nicht, mich un­tern Ra­sen zu bud­deln, so­lang’ ich da­ge­gen bin!«

»Wo­hin gehst du?« frag­te Ma.

»Wo­hin schon?« ent­geg­ne­te Opa. »Auf die Vor­der­ve­ran­da wie je­den Mor­gen. Gu­cken, was so los ist.«

Und da­mit ließ er uns in der Kü­che sit­zen.

»Der bringt einen zur Weiß­glut!« Ma deu­te­te zum Herd. »All das schö­ne Ge­mü­se, das ich aus dem Gar­ten ge­holt hab’, um nach der Be­er­di­gung ein Op­po­sum-Stew zu rich­ten! Was sol­len bloß die Nach­barn den­ken?«

»Nun hör schon zu jam­mern auf!« sag­te Pa. »Viel­leicht ist er echt noch nicht tot.«

Ma schnitt ei­ne Gri­mas­se. »Wir wis­sen es bei­de besser. Der spielt wie­der mal stur.« Sie gab Pa einen Rip­pen­stoß. »Da hilft nur eins. Du springst jetzt rü­ber zu Doc Snod­grass. Er soll her­kom­men und die Sa­che ein für al­le­mal klar­stel­len.«

»Schät­ze, du hast recht«, brumm­te Pa und ver­schwand durch die Hin­ter­tür. Ma schau­te mich und Klein-Su­sie an.

»Ihr Kin­der geht raus auf die Ve­ran­da und leis­tet Opa Ge­sell­schaft. Paßt auf, daß er sich nicht aus ‘m Staub macht, bis der Doc an­rückt.«

»Ist gut«, sag­te Su­sie, und wir ver­zo­gen uns nach drau­ßen.

Und wirk­lich thron­te Opa in vol­ler Le­bens­grö­ße auf sei­nem Schau­kel­stuhl, blin­zel­te in die Son­ne und freu­te sich über die Flü­che der Au­to­fah­rer, die un­se­ren Schwei­nen aus­wei­chen muß­ten.

»Guckt euch das an!« sag­te er und deu­te­te auf die an­de­re Stra­ßen­sei­te. »Der fet­te Kerl in sei­nem Hup­mo­bil kam an­ge­flitzt wie ‘n Höl­len­hund. Hat­te leicht drei­ßig Mei­len drauf. Ehe er sich’s ver­sah, presch­te Bes­sie aus dem Un­kraut und schmiß ihm die Kar­re glatt in den Gra­ben. Ich hab’ mei­ner Leb­tag noch nie so was Ko­mi­sches ge­sehn.«

Su­sie schüt­tel­te den Kopf. »Du lebst ja auch gar nicht, Opa.«

»Nun fang nicht wie­der da­mit an!« Opa warf ihr einen zor­ni­gen Blick zu, und Su­sie hielt den Mund.

Ge­nau in die­sem Mo­ment fuhr Doc Snod­grass in sei­nem großen Es­sex vor und park­te ge­nau ne­ben Bes­sies Hin­ter­teil. Doc und Pa stie­gen aus und ka­men zur Ve­ran­da ge­schlen­dert. Pa re­de­te hef­tig auf Doc ein, und der schüt­tel­te den Kopf, als wol­le er nicht glau­ben, was Pa ihm da er­zähl­te.

Dann ent­deck­te er Opa drau­ßen und blieb wie an­ge­wur­zelt ste­hen. Sei­ne Au­gen quol­len vor.

»Hei­li­ger An­to­ni­us!« sag­te er zu Opa. »Was machst denn du hier?«

»Was wohl?« ent­geg­ne­te Opa. »Ist es viel­leicht ver­bo­ten, daß ein Bür­ger in Frie­den auf sei­ner Ve­ran­da sitzt und schau­kelt?«

»In Frie­den un­ter der Er­de ru­hen, das soll­test du von Rechts we­gen!« pol­ter­te Doc. »Als ich dich letz­te nacht un­ter­such­te, warst du mau­se­tot.«

»Oder du stock­be­sof­fen«, er­klär­te Opa.

Pa nick­te Doc zu. »Na, was hab’ ich ge­sagt?«

Doc be­ach­te­te ihn nicht. Er bau­te sich vor Opa auf. »Viel­leicht bin ich doch ‘n klit­ze­klei­nes Stück­chen zu weit ge­gan­gen«, mein­te er. »Was da­ge­gen, wenn ich dich noch mal un­ter­su­che?«

»Nur im­mer zu.« Opa zahn­te. »Ich hab’ Zeit.«

So klapp­te Doc sei­ne klei­ne schwar­ze Ta­sche auf und hak­te sich ein Stetho­skop in die Oh­ren. Er klopf­te Opas Brust ab und horch­te. Sei­ne Fin­ger be­gan­nen zu zit­tern.

»Ich hör rein gar nichts«, sag­te er.

»Ich bin ja auch kein Ra­dio.«

»Laß die Wit­ze!« fauch­te Doc. »An­ge­nom­men, ich ver­ra­te dir, daß dein Herz nicht mehr schlägt?«

»An­ge­nom­men, ich ver­ra­te dir, daß dein Stetho­skop im Ei­mer ist?«

Doc fing zu schwit­zen an. Er kram­te einen Spie­gel her­vor und hielt ihn Opa vor den Mund. Da­nach zit­ter­ten sei­ne Fin­ger noch viel schlim­mer.

»Siehst du das?« frag­te er. »Der Spie­gel ist klar. Das be­deu­tet, daß du schon vor län­ge­rer Zeit dei­nen letz­ten Schnau­fer ge­tan hast.«

Opa schüt­tel­te den Kopf. »Küm­me­re dich um dei­nen ei­ge­nen Schnau­fer! Du hast ei­ne Fah­ne, die das stärks­te Mu­li um­haut.«

»Na war­te, dir ver­geht die Stur­heit noch!« Doc hol­te einen Wisch aus der Ta­sche. »Da, sieh dir das an!«

»Was ist das?«

»Dein To­ten­schein.« Doc deu­te­te mit dem Zei­ge­fin­ger. »Lies mal, was in der Zei­le da steht. To­des­ur­sa­che: Herz­still­stands Und das ist amt­lich. Das gilt vor Ge­richt!«

»Bit­te – geh ru­hig hin und ver­such dein Glück!« spot­te­te Opa. »Was meinst du wohl, wem der Rich­ter mehr glaubt – mir oder dei­nem Fet­zen Pa­pier?«

Doc schluck­te, und sei­ne Au­gen tra­ten noch ein Stück aus ‘m Kopf. Er schaff­te es kaum, den To­ten­schein weg­zu­ste­cken, so zit­ter­ten ihm die Hän­de.

»Ist Ih­nen nicht ganz wohl?« frag­te Pa.

»Ich fühl mich hun­de­elend«, stöhn­te Doc. »Ich fahr jetzt zu­rück in die Pra­xis und leg mich ‘ne Wei­le hin.« Er pack­te sei­ne Ta­sche und lief zum Au­to, oh­ne sich noch ‘n ein­zi­ges Mal um­zu­dre­hen.

»Bleib aber nicht zu lang lie­gen!« rief ihm Opa nach. »Sonst kommt ei­ner und schreibt ‘n Wisch, wo drauf steht: To­des­ur­sa­che – Suff!‹«

 

Mit­tags hat­te kei­ner von uns Ap­pe­tit. Kei­ner au­ßer Opa, wohl­ge­merkt.

Der setz­te sich an den Tisch und ver­drück­te nach­ein­an­der Boh­nen, Mais­grüt­ze, zwei Por­tio­nen Kut­teln und zwei Rie­sen­stücke Rha­bar­ber­stru­del mit Va­nil­le­so­ße.

Ma ist im all­ge­mei­nen mäch­tig stolz, wenn die Leu­te in ihr Es­sen rein­hau­en, aber Opa schi­en sie’s heu­te nicht zu gön­nen. So­bald er fer­tig war und wie­der raus auf die Ve­ran­da ging, sta­pel­te sie das Ge­schirr auf der An­rich­te und be­fahl uns, den Ab­wasch zu über­neh­men. Sie ver­schwand kurz im Schlaf­zim­mer und kam mit Um­schlag­tuch und Hand­ta­sche wie­der.

»Was hast du denn vor?« woll­te Pa wis­sen.

»Ich geh in die Kir­che.«

»Am hel­lich­ten Don­ners­tag?«

»Bis Sonn­tag kann ich nicht war­ten«, er­klär­te Ma. »Vor al­lem nicht, wenn die Hit­ze wei­ter an­hält. Du hast sel­ber die Na­se ge­rümpft, als Opa zum Es­sen rein­kam.«

»Das war Opa?« Pa hob die Schul­tern. »Ich dach­te, die Kut­teln hät­ten einen lei­sen Stich.«

»Mei­ne Kut­teln? Nie und nim­mer!«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Es gibt nur noch eins – al­les in die Hän­de des Herrn le­gen!«

Und weg war sie. Su­sie und ich mach­ten uns an den Ab­wasch, wäh­rend Pa mit ei­ner mäch­tig düs­te­ren Mie­ne durch den Hin­ter­aus­gang ver­schwand. Ich sah durchs Kü­chen­fens­ter, wie er die Schwei­ne füt­ter­te. Man merk­te ge­nau, daß er mit sei­nen Ge­dan­ken ganz wo­an­ders war.

Su­sie und ich troll­ten uns auf die Ve­ran­da und be­hiel­ten Opa im Au­ge.

Ma hat­te recht mit der Hit­ze. Man kam sich vor wie in ei­nem Höl­len­back­ofen. Opa schi­en nichts zu mer­ken, aber mir fiel auf, daß er ganz schön schier roch.

»Guck die vie­len Flie­gen, die um ihn rum­schwir­ren!« sag­te Su­sie zu mir.

»Bscht!«

Aber die Schmeiß­flie­gen surr­ten so laut, daß wir kaum ver­ste­hen konn­ten, was Opa sag­te. »He, Kin­der!« rief er. »Kommt doch ‘n Weil­chen her!«

»Die Son­ne brennt so arg«, wi­der­sprach Su­sie.

»Find’ ich aber gar nicht.« Opa hat­te nicht mal einen Schweiß­trop­fen auf der Stirn.

»Und die Schmeiß­flie­gen!«

»Die tun mir nix.« Ein di­cker Brum­mer lan­de­te mit­ten auf sei­ner Na­se, doch Opa zuck­te nicht mal zu­sam­men.

Su­sie mach­te ein ängst­li­ches Ge­sicht. »Du, der ist wirk­lich tot«, flüs­ter­te sie.

»Sprich lau­ter, Kind!« mahn­te Opa. »Es ge­hört sich ein­fach nicht, so rum­zu­nu­scheln.«

In die­sem Mo­ment bog Ma mit Re­ve­rend Pea­bo­dy im Schlepp von der Stra­ße her zu un­serm Haus ab. So heiß es war, sie hat­te ganz schön Fahrt drauf. Der Hoch­wür­den stöhn­te und schnauf­te, aber sie blieb erst dicht vor der Ve­ran­da ste­hen.

»Sieh an, der Herr Hoch­wür­den!« rief Opa. »Wie geht’s im­mer?«

Re­ve­rend Pea­bo­dy starr­te ihn an. Er mach­te den Mund auf, brach­te aber kei­nen Ton raus.

»Was ist?« frag­te Opa. »Hat es Ih­nen die Spra­che ver­schla­gen?« Der Re­ve­rend lä­chel­te wie ein Stink­tier, das ei­ne Hum­mel ver­schluckt hat.

»Kann mir’s schon den­ken. Bei der Hit­ze kriegt man ei­ne aus­ge­dörr­te Keh­le.« Er wand­te sich an Ma. »Los, Ad­die, hol dem Herrn Hoch­wür­den ei­ne klei­ne Er­fri­schung!«

Ma ging ins Haus.

»So«, sag­te Opa, »nun ma­chen Sie sich’s mal be­quem.«

Der Re­ve­rend schluck­te schwer. »Ei­gent­lich bin ich nicht zu ei­nem Plau­der­stünd­chen hier.«

»Wes­halb neh­men Sie dann den lan­gen Weg auf sich?«

Wie­der schluck­te der Re­ve­rend. »Nach al­lem, was ich von Ad­die und Doc hör­te, muß­te ich selbst nach dem Rech­ten se­hen.« Er starr­te wie ge­bannt auf die Flie­gen, die Opa um­schwirr­ten. »Aber jetzt wär’s mir lie­ber, ich hätt’ mich auf ihr Wort ver­las­sen.«

»Was soll ‘n das hei­ßen?«

»Das soll hei­ßen, daß ein Mann in dei­nem Zu­stand nicht mehr das Recht hat, Fra­gen zu stel­len. Wenn der Herr dich ruft, hast du ihm freu­dig zu fol­gen!«

»Ich hab’ kein Ru­fen ge­hört«, er­klär­te Opa. »Aber mein Ge­hör taugt auch nicht mehr viel.«

»Den Ein­druck hat­te auch der Doc. Du scheinst näm­lich nicht zu mer­ken, daß dein Herz zu schla­gen auf­ge­hört hat.«

»Viel­leicht tickt es ‘ne Spur lang­sa­mer als frü­her. Aber das ist ganz na­tür­lich, wenn man neun­zig auf ‘m Bu­ckel hat.«

»Und dir ist nie der Ge­dan­ke ge­kom­men, daß die­se neun­zig ganz schön was dar­stel­len? Du hast sehr lang ge­lebt, Opa. Fin­dest du es nicht mal an der Zeit, den Löf­fel weg­zu­le­gen? Wie heißt es in der Bi­bel so treff­lich? Der Herr gibt, und der Herr nimmt!«

Opa setz­te wie­der sei­ne streit­ba­re Mie­ne auf. »Al­so, mich nimmt er je­den­falls nicht.«

Re­ve­rend Pea­bo­dy kram­te ein großes Ta­schen­tuch aus sei­nen Jeans und wisch­te sich den Schweiß von der Stirn. »Du fürch­test dich doch nicht et­wa? Schö­ner kannst du’s gar nicht krie­gen als da dro­ben. Al­le Sor­gen und al­le Müh­sal wer­den von dir ge­nom­men. Ganz zu schwei­gen da­von, daß du aus die­ser Prü­gel­hit­ze hier fort­kommst.«

»Ich spür sie kaum.« Opa strich sich über den Schnau­zer. »Ich spür über­haupt kaum was.«

Der Re­ve­rend mus­ter­te ihn scharf. »Füh­len sich dei­ne Hän­de steif an?«

Opa nick­te. »Und nicht nur die.«

»Dach­te ich es mir doch! Weißt du auch, was das be­deu­tet? Ri­gor mor­tis!«

»Ich kenn kein Rig­ger Mor­tis«, er­klär­te Opa. »Das Rheu­ma sitzt mir in den Kno­chen, das ist al­les.«

Wie­der wisch­te sich der Re­ve­rend den Schweiß von der Stirn. »Bei dir braucht man viel­leicht Über­re­dungs­küns­te!« stöhn­te er. »Du scherst dich we­der um die An­sicht ei­nes ge­lehr­ten Dok­tors noch um das Wort des Herrn. Weißt du was? Du bist der sturs­te al­te Ham­mel, den ich je er­lebt hab’.«

»Tja, ich komm aus Miss­ou­ri«, ent­geg­ne­te Opa mit Wür­de. »Und die Leu­te da wol­len hand­fes­te Be­wei­se sehn, be­vor sie was glau­ben.«

Der Re­ve­rend steck­te sein Tuch weg. Es war klatsch­naß. Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer schau­te er Opa in die Au­gen.

»Man­che Din­ge muß man ein­fach so glau­ben!« sag­te er. »Mir will auch nicht in den Schä­del, daß du hier rum­sitzt, an­statt dir die Gän­se­blüm­chen von un­ten zu be­gu­cken, und ich muß es trotz­dem glau­ben. Ich schwö­re dir, du hast über­haupt kei­nen Grund, hier ein Thea­ter auf­zu­füh­ren. Mag sein, daß du dich da­ge­gen sperrst, im Grab zu lie­gen. Aber – Asche zu Asche, Staub zu Staub, das ist bloß so ein Spruch! Du brauchst dir das nicht so zu den­ken, daß du jetzt die gan­ze Ewig­keit un­ter der Er­de liegst. Wäh­rend dei­ne Ge­bei­ne auf dem Fried­hof ru­hen, fliegt dei­ne See­le da­von. Ja­wohl, in die Hö­he, ge­ra­de­wegs in die Ar­me des Herrn. Und das wird ein großer Mo­ment, wenn du da oben schwebst, frei wie ein Vo­gel, in­mit­ten der himm­li­schen Heer­scha­ren, mit ‘ner acht­zehn­ka­rä­ti­gen Gold­har­fe und ei­nem Hal­le­lu­ja auf den Lip­pen …«

»Ich war noch nie mu­si­ka­lisch«, wi­der­sprach Opa. »Und mir wird schon schwind­lig, wenn ich auf ‘ner Leiter steh und das Dach von un­serm Lo­kus neu tee­ren muß.« Er schüt­tel­te den Kopf. »Ich will Ih­nen mal was sa­gen, Hoch­wür­den! Wenn Sie glau­ben, daß es da dro­ben so ver­dammt schön ist, warum gehn Sie dann nicht sel­ber rauf?«

In die­sem Mo­ment kam Ma wie­der ins Freie. »Tut mir leid, uns ist das Zi­tro­nen­was­ser aus­ge­gan­gen«, sag­te sie. »Al­les, was ich auf­trei­ben konn­te, war ‘n Schluck Whis­ky. Ich weiß ja, wie Sie über die­se Din­ge den­ken, Herr Hoch­wür­den, aber …«

Der Re­ve­rend riß ihr die Fla­sche aus der Hand, setz­te sie an und nahm einen kräf­ti­gen Zug. »Sie sind ei­ne brave Frau«, sag­te er dann zu Ma. »Der Herr wird es Ih­nen ver­gel­ten.« Da­mit eil­te er da­von.

»He, halt!« rief Ma ihm nach. »Und was ge­schieht mit Opa?«

»Sei­en Sie oh­ne Furcht, Toch­ter«, ant­wor­te­te der Re­ve­rend über die Schul­ter. »Wir müs­sen auf die Kraft des Ge­bets ver­trau­en.«

Dann war er am En­de der Stra­ße ver­schwun­den, und nur ei­ne Staub­fah­ne blieb zu­rück.

»Der hat doch glatt die Fla­sche mit­ge­nom­men!« mur­mel­te Opa. »Wenn ihr mich fragt, so ist dem sein ein­zi­ger Gott der Whis­ky.«

Ma schau­te ihn an, dann brach sie in Trä­nen aus und stürz­te ins Haus.

»Was hat sie nun schon wie­der?« woll­te Opa wis­sen.

»Laß sie mal!« ent­geg­ne­te ich. »Su­sie, bleib hier bei Opa und ver­scheuch ihm die Flie­gen! Ich muß was er­le­di­gen.«

Und das stimm­te.

Noch be­vor ich rein­ging, hat­te ich einen Plan ge­faßt. Ich konn­te es ein­fach nicht mit­an­sehn, wie Ma flenn­te. Sie stand in der Kü­che, klam­mer­te sich an Pa und schluchz­te: »Was sol­len wir ma­chen? Was sol­len wir bloß ma­chen?«

Pa tät­schel­te ih­re Schul­ter. »Aber, Ad­die, nun fang dich wie­der! Lan­ge kann das nicht mehr dau­ern.«

»Lan­ge halt ich das auch nicht mehr durch«, jam­mer­te Ma. »Wenn Opa nicht bald Ver­nunft an­nimmt, sitzt er ei­nes schö­nen Mor­gens als Ske­lett am Früh­stücks­tisch. Und was wer­den die Nach­barn den­ken, wenn sie ein Ge­rip­pe auf mei­ner schö­nen Ve­ran­da ent­de­cken? Rich­tig ge­nie­ren muß man sich.«

»Laß nur, Ma«, warf ich ein. »Ich hab’ ei­ne Idee.«

Ma hör­te zu flen­nen auf. »Was für ei­ne Idee?«

»Ich geh rü­ber in die Geis­ter­schlucht.«

»In die Geis­ter­schlucht?« Ma wur­de so blaß, daß so­gar ih­re Som­mer­spros­sen ver­schwan­den. »Kommt nicht in Fra­ge, mein Jun­ge …«

»Es ist un­se­re letz­te Chan­ce«, er­klär­te ich. »Und viel­leicht hilft es was.«

Pa hol­te tief Luft. »Hast du denn gar kei­ne Angst?«

»Nicht, so­lan­ge es drau­ßen hell bleibt«, sag­te ich. »Nun macht euch mal kei­ne Sor­gen. Bis zum Abend bin ich längst zu­rück.«

Da­mit rann­te ich durch den Hin­ter­aus­gang.

Ich klet­ter­te über den Zaun und flitz­te zum Bach. Nur ein­mal hielt ich kurz an und hol­te mein Spar­schwein aus dem un­kraut­über­wu­cher­ten Ver­steck zwi­schen den Ufer­fel­sen. Dann wa­te­te ich durchs Was­ser und lief wei­ter zum Hoch­wald.

So­bald ich die Tan­nen er­reicht hat­te, ließ ich ein we­nig Dampf ab, um mich nicht zu ver­ir­ren. Es gab kei­ne We­ge, weil hier sel­ten ei­ner vor­bei­kam. Die Leu­te mach­ten so­gar tags­über einen großen Bo­gen um den Wald – er war ein­fach zu düs­ter und ein­sam. Wie aus­ge­stor­ben lag er da. Nichts be­weg­te sich im Un­ter­holz, und so­gar die Vö­gel schwie­gen.

Aber ich kann­te mich aus. Ich muß­te bloß den Hü­gel­kamm über­que­ren und den Hang auf der an­de­ren Sei­te wie­der run­ter­lau­fen. Ganz un­ten, an der fins­ters­ten, ein­sams­ten Stel­le lag die Geis­ter­schlucht.

Und in der Geis­ter­schlucht gab es ei­ne Fels­höh­le.

Und in der Fels­höh­le wohn­te die Wald­he­xe.

We­nigs­tens hat­te ich ge­hört, daß sie da wohn­te. Als ich mich je­doch auf Ze­hen­spit­zen an das große schwar­ze Loch ran­pirsch­te, fand ich kei­ne Men­schen­see­le. Bloß die Schat­ten kro­chen von al­len Sei­ten auf mich zu.

Eh­ren­wort, es war echt gru­se­lig. Ich spür­te ein Krib­beln in den Fuß­soh­len, aber ich blieb da.

Nach ei­ner Wei­le rief ich: »He – Sie krie­gen Be­such!«

»Wer da?«

»Ich bin’s – Jo­dy Tol­li­ver.«

»Weerr daa?«

Ich schau­te auf und ent­deck­te ei­ne mäch­ti­ge Schrei­eule, die auf ei­nem Ast ne­ben der Höh­le hock­te und mich mit ih­ren Fun­kelau­gen anglotz­te.

Als ich mich wie­der dem Fels­loch zu­wand­te, stand sie plötz­lich da – die Wald­he­xe.

Ich be­geg­ne­te ihr zum ers­ten­mal im Le­ben, aber ich wuß­te ge­nau, daß sie die Wald­he­xe war. Zaun­dürr und ver­schrum­pelt sah sie aus. Sie trug nur ‘n paar Lum­pen, und ihr Ge­sicht un­ter der alt­mo­di­schen Hau­be war schwarz wie ein Klum­pen Koh­le.

Quatsch, sag ich zu mir, denk dir nix – das ist ‘ne net­te al­te La­dy, mehr nicht!

Dann schau­te sie mich an, und ih­re Au­gen wa­ren viel grö­ßer als die von der Eu­le. Sie fun­kel­ten auch dop­pelt so wild.

Ich spür­te schon wie­der die­ses Krib­beln in den Fuß­soh­len, aber ich guck­te nicht weg.

»Tag, Wald­he­xe«, sag­te ich.

»Weerr daa?« kreisch­te die Eu­le.

»Der jun­ge Tol­li­ver«, rief ihr die Wald­he­xe zu. »Du hast wohl Wachs in den Oh­ren, was? Und nun sei so gut und quatsch nicht stän­dig da­zwi­schen!«

Die Eu­le warf ihr einen bö­sen Blick zu und flat­ter­te da­von. Die Wald­he­xe kam ganz aus ih­rer Höh­le her­vor.

»Küm­me­re dich nicht um Am­bro­se«, mein­te sie. »Der ist Be­su­cher nicht ge­wöhnt. Tagein, tag­aus sieht er bloß mich und die Fle­der­mäu­se.«

»Was für Fle­der­mäu­se?«

»Ach, die hän­gen drin­nen in der Höh­le.« Die Wald­he­xe strich ihr Kleid glatt. »Ich tat dich ja gern rein­bit­ten, aber bei mir geht’s drun­ter und drü­ber. Ich nehm mir im­mer vor, mal rich­tig auf­zuräu­men, doch meist kommt was da­zwi­schen – erst der ver­damm­te Welt­krieg, dann die Pro­hi­bi­ti­on, und so fort. Ich schaff’s ein­fach nicht.«

»Aber ich bit­te Sie!« sag­te ich welt­män­nisch. »Es geht so­wie­so um ge­schäft­li­che An­ge­le­gen­hei­ten.«

»Dach­te ich mir fast.«

»Hier – ich hab’ Ih­nen auch was Hüb­sches mit­ge­bracht.«

»Was denn?«

»Mein Spar­schwein«, er­klär­te ich und reich­te es ihr.

»Da dank ich dir aber sehr«, sag­te die Wald­he­xe.

»Schla­gen Sie’s ru­hig ka­putt«, for­der­te ich sie auf.

Sie schmet­ter­te es an einen Stein, und die Mün­zen roll­ten auf den Bo­den. Flink sam­mel­te sie al­le ein.

»Wie­viel ist es denn?« frag­te ich. »Ich hab’ im­mer­hin fast zwei Jah­re ge­spart.«

»Sie­ben­un­dacht­zig Cents, ‘n al­ter Ni­ckel und ‘ne Pla­ket­te zum An­ste­cken.« Sie zahn­te. »Die ist be­son­ders hübsch. Was steht ‘n da drauf?«

»Keep cool with Coo­lid­ge!«

»Na, wenn das kein gu­ter Rat ist!« Die Wald­he­xe schob das Geld ein und mach­te die An­steck­na­del an ih­rem Kleid fest. »So, jun­ger Mann – Schön­heit, wem Schön­heit ge­bührt. Und was kann ich für dich tun?«

»Es ist we­gen mei­nem Opa«, sag­te ich. »Ti­tus Tol­li­ver heißt er.«

»Ti­tus Tol­li­ver? Aber den kenn ich doch! Hat­te ei­ne Bren­ne­rei in der Holz­hüt­te drun­ten am Bach. Ist ‘n statt­li­cher Mann, mit ‘m schwar­zen Voll­bart, was?«

»War er viel­leicht mal«, wi­der­sprach ich. »In­zwi­schen ist er ganz ver­hut­zelt, und der Rheu­ma­tis­mus plagt ihn. Au­ßer­dem sieht er schlecht. Und sei­ne Oh­ren tau­gen gar nichts mehr.«

»Jam­mer­scha­de, so was«, mein­te die Wald­he­xe. »Aber frü­her oder spä­ter geht es mit uns al­len bergab. Und wenn’s so­weit ist, muß man eben den Löf­fel weg­schmei­ßen.«

»Ge­nau des­halb bin ich hier. Er will nicht.«

»Was will er nicht?«

»Er ist tot und will das nicht ein­se­hen.«

Die Wald­he­xe mus­ter­te mich scharf. »Al­so, das möcht ich ge­nau­er wis­sen.«

Na, und da re­de­te ich los. Er­zähl­te ihr die gan­ze mie­se Ge­schich­te von An­fang an.

Sie hör­te mir zu und sag­te kein Wort. Als ich fer­tig war, starr­te sie mich an, bis ich ‘n ganz krib­be­li­ges Ge­fühl be­kam.

»Ich weiß schon, daß Sie mir nicht glau­ben«, sag­te ich. »Aber ich schwör’s, es ist die rei­ne Wahr­heit.«

Die Wald­he­xe schüt­tel­te den Kopf. »Ich glaub dir schon, mein Jun­ge. Wie ge­sagt, ich kenn dei­nen Opa von frü­her. War schon da­mals ein ver­dammt stur­er Teu­fel, und das ist er wohl ge­blie­ben. Dem sein Lei­den nennt man Starr­sinn in Po­tenz.«

»Kann sein«, mein­te ich. »Aber da kön­nen wir nix da­ge­gen tun, und der Doc und der Herr Hoch­wür­den auch nicht.«

Die Wald­he­xe rümpf­te die Na­se. »Ach, die bei­den! Was wis­sen die schon?«

»Eben drum bin ich her­ge­kom­men. Viel­leicht kön­nen Sie uns wei­ter­hel­fen.«

»Na, dann laß mich mal nach­den­ken.«

Die Wald­he­xe zog ei­ne Mais­kol­ben­pfei­fe aus der Ta­sche und steck­te sie an. Ich weiß nicht, was für ein Kraut sie rauch­te, aber der Ge­stank bog ei­nem Chris­ten­menschen fast die Ze­hen­nä­gel auf. Mir war ganz ko­misch zu­mu­te, und am liebs­ten hät­te ich mich ver­krü­melt. Der Wald wirk­te schum­me­rig, und ein kal­ter Wind ra­schel­te in den Blät­tern.

»Ir­gend­was gibt’s doch si­cher«, dräng­te ich. »Einen Ta­lis­man oder einen Zau­ber­spruch …«

Sie schüt­tel­te den Kopf. »Al­les kal­ter Kaf­fee. Das hier ist ei­ne von die­sen neu­mo­di­schen Sa­chen, wo sich im Kopf ab­spie­len, und da brau­chen wir auch neu­mo­di­sche Mit­tel. Dein Opa, der lacht sich schief, wenn den ei­ner ver­he­xen will. Wie er sel­ber sagt – er stammt aus Miss­ou­ri. Dem muß bloß ei­ner be­wei­sen, daß er tot ist.«

»Aber wie?«

Die Wald­he­xe ki­cher­te tro­cken. »Ich hab’s!« Sie blin­zel­te mir zu. »Klar, mein Sohn, ge­nau das ist es! Renn nicht da­von, ich bin gleich wie­der da!« Und sie husch­te zu­rück in ih­re Höh­le.

Ich stand da, spür­te, wie mir der Wind in den Nacken blies, und hör­te auf das Ra­scheln der Blät­ter. Ich woll­te gar nicht so ge­nau ver­ste­hen, was sie da wis­per­ten.

Dann kam sie wie­der ins Freie. Sie hielt et­was in der Hand.

»Nimm das mit!« sag­te sie.

»Was ist ‘n das?«

Sie ver­riet es mir und sag­te auch, was ich da­mit tun soll­te.

»Und Sie glau­ben echt, daß wir es so schaf­fen?«

»Es ist die ein­zi­ge Chan­ce.«

Al­so schob ich das Ding in die Ho­sen­ta­sche, und sie gab mir einen klei­nen Klaps. »So, jun­ger Mann, und nun wetz los, da­mit du noch vor dem Abendes­sen da­heim bist!«

Das ließ ich mir nicht zwei­mal sa­gen, wo der ei­si­ge Wind so in den Bäu­men stöhn­te und wim­mer­te und die Dun­kel­heit im­mer nä­her an mich rankroch.

Ich mur­mel­te ein Ver­gelts­gott und büchs­te los. Als ich noch ein­mal um­schau­te, stand die Wald­he­xe am Ein­gang ih­rer Höh­le und po­lier­te die Coo­lid­ge-Pla­ket­te mit ei­nem Stück Efeu­wur­zel.

Ich rann­te durch den Wald, den Hü­gel rauf und auf der an­de­ren Sei­te wie­der run­ter. Als ich die Fel­der er­reich­te, war al­les stock­dun­kel, und im Bach spie­gel­te sich der Mond. Ein Ha­bicht, der vor ei­nem Mau­se­loch auf der Lau­er saß, flog er­schro­cken auf, aber das war mir egal. Ich lief im Zick­zack zum Zaun, setz­te dar­über und riß die Kü­chen­tür auf.

Ma stand mit ei­nem Topf am Herd, wäh­rend Pa sei­ne Sup­pe löf­fel­te.

»Gott sei Dank!« sag­te Ma. »Grad wollt ich dir Pa hin­ter­her­schi­cken.«

»Ich bin ge­rannt, was ich konn­te.«

»Ist ja gut«, warf Pa ein. »Wenn der Zir­kus nicht bald auf­hört, ver­lie­ren wir noch al­le den Ver­stand.«

»Wel­cher Zir­kus denn?«

»Na, es fing an mit Miß Fran­cy. Die Leu­te im Ort hat­ten ihr er­zählt, daß Opa tot ist, und da woll­te sie uns was Gu­tes tun und ‘n Stew vor­bei­brin­gen. Al­so, sie rauscht an in ih­rem Sonn­tags­staat, hat ihr schöns­tes Bei­leids­ge­sicht auf­ge­setzt und trägt die Ter­ri­ne vor sich her. Und aus­ge­rech­net da sieht sie Opa, der auf der Ve­ran­da sitzt und sie durch die Flie­gen­schwär­me so ein biß­chen schief an­grinst.

In ih­rem Schreck reißt sie die Ter­ri­ne hoch, al­les schwappt raus, und ihr teu­res Ko­stüm ist über und über mit Grün­zeug gar­niert.

Ich sag dir, die dreh­te sich um und rann­te los, als sei der Leib­haf­ti­ge hin­ter ihr her. Da­zu kreisch­te sie, daß der Klo­bal­ken zit­ter­te.«

»Schlimm«, mein­te ich.

»Es kommt noch schlim­mer«, ent­geg­ne­te Pa. »Als nächs­ter tauch­te Bix­bee auf. Er hup­te drau­ßen. Trau­te sich nicht an Opa ran. Ich muß­te zu ihm run­ter­ge­hen, wo er in sei­nem Lei­chen­wa­gen saß.«

»Was woll­te er denn?«

»Sag­te, er käme die sterb­li­chen Über­res­te ho­len. Und wenn wir sie nicht bald raus­rück­ten, woll­te er am nächs­ten Mor­gen in die Kreis­stadt fah­ren und sich ‘ne rich­ter­li­che Ver­fü­gung ho­len.«

Ma sah aus, als woll­te sie gleich wie­der los­flen­nen. »Er mein­te, es sei ein Skan­dal und ei­ne Schan­de, Opa so rum­sit­zen zu las­sen. Bei der Hit­ze und den Flie­gen. So­gar beim Ge­sund­heits­amt will er das mel­den, hat er ge­droht. Dann kämen wir in Qua-ran-tä­ne.«

»Und was sag­te Opa da­zu?«

»Kei­nen Pieps. Schau­kel­te ein­fach wei­ter, bis Bix­bee mit sei­ner Lei­chen­kut­sche ab­ge­braust war. Su­sie kam kurz rein, als die Son­ne un­ter­ging. Opa ist brett­steif, sagt sie, aber das küm­mert ihn über­haupt nicht. Er fragt bloß dau­ernd, wann es was zu es­sen gibt.«

»Das ist gut«, sag­te ich. »Da­für hab’ ich ge­nau das Rich­ti­ge von der Wald­he­xe ge­kriegt.«

»Doch nicht et­wa Gift?« Pa warf mir einen be­sorg­ten Blick zu. »Du weißt, ich bin ein got­tes­fürch­ti­ger Mann und mag mit so was nichts zu schaf­fen ha­ben. Au­ßer­dem – wie soll man einen ver­gif­ten, der schon tot ist?«

»Quatsch«, er­wi­der­te ich. »Das hier hat sie mir mit­ge­ge­ben.«

Ich zog das Ding aus mei­ner Ho­sen­ta­sche und hielt es hoch.

»Und was im Na­men des All­mäch­ti­gen soll das sein?« frag­te Ma.

Ich sag­te es ihr und er­klär­te dann, was man da­mit tun muß­te.

»So ‘n Blöd­sinn hab’ ich mei­ner Leb­tag noch nicht ge­hört!« mein­te Ma.

Pa mach­te ein düs­te­res Ge­sicht. »Ich hätt’s nie zu­las­sen sol­len, daß du zur Geis­ter­schlucht gehst. Die Wald­he­xe muß ih­ren letz­ten Fun­ken Ver­stand ver­lo­ren ha­ben, wenn sie dir mit so was kommt.«

»Ich schät­ze, die ist mit al­len Was­sern ge­wa­schen«, sag­te ich. »Und ich hab’ im­mer­hin was be­zahlt für den Rat – sie­ben­un­dacht­zig Cents, einen Ni­ckel und die Coo­lid­ge-Pla­ket­te!«

»Ach, pfeif auf die Pla­ket­te!« trös­te­te mich Pa. »Die hab’ ich ei­nem Yan­kee ab­ge­ris­sen – ei­nem von die­sen Steu­er­schnüff­lern.« Er kratz­te sich am Kinn. »Aber ba­res Geld, das ist was an­de­res. Viel­leicht soll­ten wir’s doch ver­su­chen.«

»Pa …«, be­gann Ma.

»Weißt du was Bes­se­res?« Pa schüt­tel­te den Kopf. »So wie ich das seh, ha­ben wir mor­gen das Ge­sund­heits­amt am Hals. Es wird höchs­te Zeit, daß wir was un­ter­neh­men.«

Ma ließ einen Seuf­zer los, der so rich­tig aus der Tie­fe kam.

»Na schön, Jo­dy«, sag­te sie zu mir. »Wir ma­chen es ge­nau­so, wie die Wald­he­xe ge­sagt hat. Pa, hol mal Su­sie und Opa rein. Ich trag in­zwi­schen auf.«

»Glaubst du, daß es da­mit klap­pen wird?« frag­te Pa und warf einen Blick auf das Ding, das ich in der Hand hielt.

»Es muß«, er­klär­te ich. »Was an­de­res ha­ben wir nicht.«

Al­so ging Pa raus, und ich trat an den Eß­tisch, um den Plan der Wald­he­xe in die Tat um­zu­set­zen.

Kurz drauf kam Pa mit Su­sie zu­rück.

»Wo bleibt Opa?« frag­te Ma.

»Der geht ganz lang­sam«, er­klär­te Su­sie. »Muß wohl die­ser Rig­ger Mor­tis sein.«

»Quatsch!« Opa er­schi­en im Ein­gang und stak­te in die Kü­che wie ‘ne Scha­be, die über ei­ne hei­ße Herd­plat­te läuft. »Ein biß­chen steif fühl ich mich, das ist al­les.«

»Steif wie ‘n Brett«, wi­der­sprach ihm Pa. »Von Rechts we­gen soll­test du dro­ben in dei­nem Bett lie­gen, mit ‘ner Li­lie zwi­schen den Hän­den.«

»Nun fang nicht schon wie­der an!« fauch­te Opa. »Ich hab’ dir ge­sagt, daß ich noch lang nicht tot bin, wenn ich mal blau an­lauf!«

»Mal ist gut«, sag­te Su­sie. »Du siehst so blau aus, daß es blau­er gar nicht geht.«

Und das stimm­te. Er war blau und ir­gend­wie auf­ge­dun­sen, aber das woll­te er ein­fach nicht wahr­ha­ben. Mir fiel ein, was Ma we­gen dem Ske­lett ge­sagt hat­te, und ich wünsch­te mir ganz fest, daß die Wald­he­xe recht be­hal­ten wür­de. Sie muß­te recht be­hal­ten, denn Opa wur­de mit je­der Mi­nu­te to­ter.

Aber das hät­te kei­ner ge­glaubt, als er auf das Abend­brot los­stürm­te.

»Hmm«,sag­te er. »Heut hast du dich sel­ber über­trof­fen, Ad­die. Mein Lieb­lings­ge­richt – Grün­kohl mit Fisch­köp­fen!« Er war schon dran, sich ei­ne Por­ti­on auf­zu­la­den, als er das Ding ne­ben sei­nem Tel­ler ent­deck­te.

»Ja, zum Hen­ker, was soll ‘n das?« pol­ter­te er.

»Das ist ei­ne ganz nor­ma­le Ser­vi­et­te«, er­klär­te ich.

»Ganz nor­mal?« Opa riß die Au­gen auf. »Ich hab’ noch nie im Le­ben ei­ne schwar­ze Ser­vi­et­te ge­se­hen.«

Pa guck­te Ma an. »Wir dach­ten, es sei ein be­son­de­rer An­laß«, sag­te er. »Wenn du ver­stehst, was ich mei­ne …«

Opa schnauf­te ver­ächt­lich, »‘ne schwar­ze Ser­vi­et­te? Ich weiß ge­nau, was du an­deu­ten willst, aber mir ist das schie­te­gal.«

Und er schau­fel­te sich den Tel­ler voll und hieb rein.

Wir an­de­ren sa­ßen ein­fach da und guck­ten uns an.

»Was hab’ ich dir ge­sagt?« flüs­ter­te mir Pa ver­är­gert zu.

Ich schüt­tel­te den Kopf. »Wart’s ab!«

»Langt zu!« er­mahn­te uns Opa. »Sonst rä­um ich al­lein ab.«

Und das tat er. Sei­ne Ar­me wa­ren steif, die Fin­ger hat­ten Mü­he mit der Ga­bel, und die Kie­fer­mus­keln woll­ten nicht so recht – aber er aß. Und re­de­te.

»Ich und tot? Hät­te nie ge­glaubt, daß mal je­mand wa­gen wür­de, mir so was ins Ge­sicht zu sa­gen! Und dann aus­ge­rech­net die Fa­mi­lie! Ich geb ja zu, daß ich hin und wie­der stur bin, aber ich hab’s noch nie zu weit ge­trie­ben. Wenn ich po­si­tiv wüß­te, daß mich der Sen­sen­mann ge­holt hat, war ich der letz­te, der sich da­ge­gen sträu­ben wür­de. Ich leg kei­nem was in den Weg, schon gar nicht den ei­ge­nen Leu­ten. Bloß be­wei­sen müßt ihr mir, daß ich nicht mehr le­be. Das ist al­les, was ich ver­lang – einen win­zi­gen Be­weis.«

»Du, Opa …«, un­ter­brach ich ihn.

»Was gibt’s Jun­ge?«

»Ent­schul­di­ge, aber dir tropft der gan­ze Grün­kohl übers Kinn.«

Opa leg­te die Ga­bel weg. »Tat­säch­lich. Dan­ke, mein Jun­ge.«

Und ehe er so recht merk­te, was er tat, wisch­te sich Opa den Mund mit der Ser­vi­et­te ab.

Als er fer­tig war, warf er einen Blick drauf. Er guck­te ein­mal und dann noch ein­mal. Schließ­lich leg­te er ganz sacht die Ser­vi­et­te auf den Tisch, stand auf und ging zur Trep­pe.

»Lebt wohl«, sag­te er.

Wir hör­ten, wie er mit schwe­ren Schrit­ten die Trep­pe rauf und den Kor­ri­dor ent­lang zu sei­nem Zim­mer tapp­te. Die Ma­trat­ze quietsch­te, als er sich ins Bett leg­te.

Dann war al­les still.

Nach ei­ner Wei­le schob Pa den Stuhl zu­rück und ging nach oben. Kei­ner sag­te ein Wort, bis er wie­der­kam.

»Na?« Ma guck­te ihn an.

»Al­les in Ord­nung«, er­klär­te Pa. »Er hat den Löf­fel für im­mer weg­ge­legt. Ist jetzt dro­ben, wo er’s schö­ner hat. Amen.«

»Ge­lobt sei der Herr!« mur­mel­te Ma. Dann schau­te sie mich an und deu­te­te auf die Ser­vi­et­te. »Tu das Ding bit­te weg!«

Ich nahm sie mit spit­zen Fin­gern. Su­sie schau­te uns er­staunt an. »Sagt ei­nem hier kei­ner, was los ist?«

Ich gab kei­ne Ant­wort, son­dern trug die Ser­vi­et­te raus und warf sie in den Bach. Hat­te we­nig Sinn, die An­ge­le­gen­heit rum­zu­po­sau­nen. Aber die Wald­he­xe hat­te recht be­hal­ten, als sie sag­te, Opa wür­de sei­nen Be­weis krie­gen, so­bald er sich den Mund ab­wisch­te.

Auf so ‘ner schwar­zen Ser­vi­et­te sieht man näm­lich die klei­nen wei­ßen Ma­den am al­ler­bes­ten.