Die Kleinodien
des Tormento
von
Paul Busson
Der österreichische Schriftsteller Paul Busson, 1873 in Innsbruck geboren und 1924 in Wien gestorben, war Offizier, dann Redakteur. Er schrieb Gedichte, Novellen, Romane sowie Jagd- und Tiergeschichten. Eine echte Trouvaille ist seine fantastische Geschichte ›Die Kleinodien von Tormento‹, die 1905 in der österreichischen Rundschau erschien.
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Mit einem heftigen Ruck hielt die Droschke vor einem großen, vornehmen Hause. Der junge Arzt stieg eilig aus und lief am Portier vorbei die breite Treppe hinauf. Im ersten Stock, in der halbgeöffneten Wohnungstüre, wartete der Diener, der ihn soeben telefonisch aus dem Kaffeehaus gerufen hatte. Auf dem kleinen Messingschild stand der Name: Jerome Kerdac.
Der Diener schloß sofort die Türe hinter dem Eingetretenen, nahm ihm Hut und Mantel ab und schob ihn mit zitternden Händen in ein großes, halbdunkles Zimmer; der Hebel klappte – helles Licht strahlte von einem venezianischen Glaslüster aus.
Dr. Klaar schritt auf das breite Bett zu, in dem der Kranke lag. Im Licht kreiste noch eine dünne Wolke bläulichen Pulverdampfes. Es roch nach versengtem Leinen. Des Doktors Fuß stieß an einen harten Gegenstand – es war der Revolver, mit dem Kerdac sich angeschossen hatte.
Der Mann im Bett hielt die Augen geschlossen. Sein weißes Gesicht war mager und unbeweglich, und er atmete ganz schwach. Der Arzt beugte sich über ihn und hob die emporgezogene Bettdecke. Unter der linken Brust war der Revolver angesetzt worden. Ein rundes, kleines Loch mit dunklen Rändern, ein paar feine Blutspritzer auf dem Hemd neben den verkohlten Stellen, die den Kugelriß im Hemd umgaben, das war alles. Vorsichtig glitt des Arztes Hand über den Rücken des Bewußtlosen. Die Kugel befand sich noch im Körper. Das Herz schien verletzt zu sein. Viel war jedenfalls nicht mehr zu machen.
Dr. Klaar ließ sich noch einmal kurz informieren. Der Diener sprach schluckend und stotternd; er hatte sich von seinem Schreck offenbar noch nicht erholt. Sein Herr sei schon seit einiger Zeit hochgradig nervös und melancholisch gewesen; ohne eigentlich krank zu sein, wollte er oft wochenlang das Bett nicht verlassen, auch habe er Tage hindurch keine Nahrung zu sich genommen. Manchmal hätte er, wie es schien, Fieber gehabt, irre geredet und Schreckbilder gesehen, die ihn bedrohten. Besonders nachts hätte er häufig laut gestöhnt und aufgeschrien, so daß er, der Diener, mehrmals zu Tode erschrocken ins Zimmer geeilt wäre, um seinem Herrn beizustehen. Der Herr habe ihm aber solches stets sehr barsch untersagt und ein für allemal verboten, nachts bei ihm einzutreten, wenn nicht geklingelt würde. Heute habe der Herr einen besonders schlimmen Tag gehabt, sehr viel geächzt und gejammert und keinen Bissen gegessen. Um halb sechs Uhr abends hätte er geläutet und ihn mit einer Kommission beauftragt, für die beiläufig eine Stunde erforderlich war. Er wäre aber mit seiner Arbeit nicht gleich fertig geworden, hätte sich um ungefähr zwanzig Minuten verspätet, als im Schlafzimmer ein dumpfer Knall erfolgte. Und als er sah, daß sein Herr auf sich geschossen, wäre er augenblicklich zum Telefon gelaufen und hätte ins Cafe Zentral telefoniert, wo, wie er zufällig wußte, die Herren von der Klinik ihre Zeitung lasen. Das sei aber schon vor einer Viertelstunde geschehen.
»Gut«, sagte der Doktor, »Sie werden mir Papier und Tinte geben und dann mit dem, was ich aufschreibe, sofort ins Polizeigebäude gehen. Es ist meine Pflicht, gleich die Anzeige zu erstatten.«
Im selben Augenblick bemerkte der Arzt, daß Kerdac die Augen weit geöffnet hatte und die Lippen bewegte. Er eilte hin und beugte sich über den Schweratmenden.
»Schicken Sie den Diener in sein Zimmer«, flüsterte Kerdac, »ich möchte mit Ihnen sprechen.«
Dr. Klaar bat ihn, sich ruhig zu verhalten; er wolle nur etwas aufschreiben und in die Apotheke senden.
»Apotheke – nicht wahr?« stöhnte der Kranke. »Ich habe alles gehört, was gesprochen wurde. Wozu die Polizei? Es wird sehr bald aus sein. Ich möchte Ihnen Wichtiges mitteilen.«
Er brach ab und begann auf der Decke zu fingern. Sein Gesicht verfiel rasch und die Nase wurde spitzig.
Das hippokratische Gesicht – dachte der Arzt und dann fiel ihm ein, daß es in diesem Falle wohl gleichgültig und ganz und gar seine Sache sei, wenn die Polizei die Meldung um zehn Minuten später erhielt.
Er beschloß, den Willen des Sterbenden zu erfüllen, wies den Diener an, sich in seinem Zimmer bereit zu halten und setzte sich dicht neben den Kranken, der dankbar lächelnd die Oberlippe emporzog. Es widerstrebte ihm, den Armen noch mit der Untersuchung durch die Sonde zu quälen. Seiner Schätzung nach steckte das Blei im unteren Teil des Herzbeutels. Wie durch ein Wunder vermochte das Organ noch auszuhalten. Mühsam pumpte es noch einige Zeit das Blut durch den Körper – mit immer schwereren Schlägen.
»Greifen Sie unter mein Kopfkissen«, murmelte Kerdac. Der Arzt erfüllte seinen Wunsch und zog ein schmales Kästchen aus rotbraunem Maroquinleder hervor. Auf dem durch die Zeit glänzend poliertem Deckel war ein Wappen in Reliefpressung: eine geflügelte Schlange mit einem Frauenkopf. Darunter stand in lateinischen Buchstaben A Tormento.
»Sehen Sie alles genau an«, sagte Kerdac. »Ich sterbe noch nicht. Mir ist ganz wohl.« Seine Lider klappten herunter, so daß der Arzt sich erschrocken vorbeugte. Kerdac lag bewegungslos und atmete regelmäßig, wenn auch sehr schwach.
Dr. Klaar öffnete das Kästchen. Es war mit ehemals weißem, längst gelblich gewordenem Samt gefüttert. In zwölf halbrunden Vertiefungen lagen dünne Steinschliffe, glatt und durchsichtig, darüber, wie ein Schutzdeckchen, eine Halbmaske, aus brüchiger, schwarzer Seide. Die Maske hatte nur eine einzige runde Öffnung an der Stelle des rechten Auges, und diese war mit einer Art von vorstehendem Rand versehen, als sollte ein kleines Augenglas eingeschoben werden. Ein schmaler Pergamentstreifen, der in der Maske lag, war ebenfalls mit lateinischen Buchstaben bedruckt oder sehr geschickt beschrieben.
Der Doktor blickte fragend auf den Kranken und sah dann wieder den Zettel an, als jener die Augen beharrlich geschlossen hielt. Der Inhalt war ihm vollkommen unverständlich, sowohl die Überschrift als alles andere:
Die wahren Kleinodien des Tormento.
Januarius. – Hyacinth. – Eva.
Februarius. – Amethyst. – Poppäa.
Martius. – Heliotrop. – Salome.
Aprilis. – Saphir. – Selene.
Majus. – Smaragd. – Diana.
† Junius. – Chalcedon. – Nahema. †
Julius. – Carneol. – Astarte.
Augustus. – Onyx. – Semiramis.
September. – Chrysolith. – Lilith.
Oktober. – Aquamarin. – Undine.
November. – Topas. – Roxane.
Dezember. – Chrysopras. – Helena.
Rufe alle, nur Nahema nicht!
Dr. Klaar hat laut gelesen. Wie ein verwehtes Echo klang es von den Lippen des Verwundeten: »– – – nur Nahema nicht –!«
Und dann sah Kerdac mit erstaunten Blicken, wie aus tiefem Schlaf erwacht, den Fremden an, der da an seinem Lager saß, und betrachtete die wohlbekannten Gegenstände in seinem Zimmer.
»Ich war bewußtlos?« fragte er mit schwacher Stimme. »Ich fühlte, wie ich versank – – immer weiter ins Schwarze – – –«
Ein heftiger Schauer überlief seinen Leib. Seine Hand haschte nach der des Arztes.
»Sagen Sie, – Herr Doktor –, es – ist also keine Rettung –? Wenn man eine Operation vornähme?«
Dr. Klaar sah unwillkürlich weg und versuchte, den Kranken mit den üblichen, nichtssagenden Phrasen zu trösten und ihm Mut einzureden. Es war nicht das erstemal, daß er bei einem Selbstmörder dieses entsetzliche Erwachen mitansah, die jähe Erkenntnis einer unsinnigen, jämmerlichen Tat, die nicht mehr gutzumachen war. – Er dachte an jene arme Näherin, die vor drei Wochen in seinem Spital an Phosphorvergiftung gestorben war, – bis zum Schluß trotz ihres bitteren Lebens, das sie ungeschickt und qualvoll beendigen wollte, mit allen Gedanken auf Genesung hoffend. Und doch hätte dies Gesundwerden nichts anderes für sie bedeutet, als ein Weiterschreiten auf ihrem Leidenswege, doppelt schwer zu ertragen um des kleinen, krüppelhaften und namenlosen Geschöpfes willen, das sie, verlassen wie ein Tier auf der Heide, in ihrer frostigen Dachkammer zur Welt gebracht hatte. – Glücklich die, die sich schnell zu töten wußten, die hinüberschliefen oder die das Ende blitzartig traf, mitten im blühenden Leben, so schnell, daß sie keinen Gedanken mehr denken konnten.
Kerdac hatte Tränen in den Augen, als er die Miene des Arztes sah. Aber er war tapfer genug, sich abzufinden.
»Dann will ich Ihnen alles erzählen«, sagte er leise, »Sie allein sollen es wissen.«
»Sie sollten nicht viel sprechen«, erwiderte Dr. Klaar und sah unschlüssig auf die Uhr. Er wunderte sich, daß er hier saß, anstatt die vorgeschriebene Anzeige zu erstatten.
»Bitte – bleiben Sie da – – –«
Ein tiefes Stöhnen, dem ein schluchzender Laut folgte, zeigte die krampfartigen Schmerzen Kerdacs an. Er hielt die Hand des Arztes mit hilflosen, schwachen Fingern so fest als möglich umspannt, als fürchtete er, allein und einsam sterben zu müssen, und könne ihn so halten. Als er sich ein wenig erholt hatte, begann er hastig zu sprechen; allmählich wurde seine Stimme ruhiger und vernehmlicher, wenn auch so leise, daß der Doktor sein Ohr dem Munde des Schwerverletzten nähern mußte, um ihn vor gefährlicher Anstrengung zu bewahren. Während der ganzen Erzählung hielt Dr. Klaar das seltsame Kästchen in der Hand.
»Niemand wird um mich trauern«, sagte Kerdac, »ich habe niemanden, der mich liebt. Ich bin seit meinem zehnten Jahr immer allein gewesen, ganz allein. Verstehen Sie, wie traurig das ist? Wissen Sie, was so ein armer, verschüchterter und freudloser Bub leidet? Pah –! Das kann niemand wissen! – Es ist ja so lange her. – Später, als ich aus dem Institut, in dem ich meine ganze sonnenlose Jugend verbracht hatte, herauskam, schickte man mich auf die Universität. Als ich vierundzwanzig Jahre alt wurde, erhielt ich ein Schreiben der Vormundschaftsbehörde; man gab mir mein Vermögen heraus, das ein alter, griesgrämiger Notar, der sich sonst um sein Mündel nicht gekümmert hatte, verwaltete. Ich nahm diese Tatsache mit jener stumpfen Gleichgültigkeit, mit einer Passivität auf, die mir zur zweiten Natur geworden war. Ich lebte nun besser als früher, hatte eine große, von einem kunstsinnigen Tapezierer ausgestattete Wohnung und vergrub mich in meine Bücher. Bücher kaufen war übrigens der einzige Luxus gewesen, den ich mir bisher gestattet hatte.
Ich interessierte mich, wohl infolge meines einsamen, verinnerlichten Lebens, außerordentlich für seltene, okkultistische Werke. Mit der Zeit sammelte ich eine ziemlich große Anzahl solcher Bücher, vom Agrippa von Nettesheim bis zu modern-spiritistischen Schriften. – Ich befaßte mich voll leidenschaftlichen Eifers mit der Entzifferung und Auslegung unbekannter, orientalischer Manuskripte. Nebenbei versuchte ich, praktische Magie zu betreiben. Aber abgesehen von flüchtigen Halluzinationen und visionären Traumbildern, die wohl nur infolge der dabei vorgeschriebenen Räucherungen mit aromatischen, zum Teil giftigen Stoffen entstanden, erlebte ich nichts, was mich den Geheimnissen, die ich ergründen wollte, näherbrachte. Einige Menschen, die ich im Lauf der Jahre kennenlernte und die sich im Verborgenen mit ähnlichen Dingen abgaben, behaupteten zwar, mehr als ich erkannt zu haben. Sie glaubten es vielleicht wirklich. Einmal wurde ich mit einem Menschen bekannt gemacht, der im Besitze unerhörter Zauberkräfte sein sollte und sich für einen Orientalen ausgab. Mit unerschütterlicher Geduld lauschten seine Jünger den Fantasien dieses Menschen, der im Grunde nur ein harmloser Schwindler war und sich auf seine Weise kleine Annehmlichkeiten ergatterte. Seine magnetischen Kuren veranlagten die Behörde, ihn in sein Heimatdorf in Bayern abzuschieben. Und so war auch das nichts gewesen. – Bitte, trocknen Sie mir die Stirne, Doktor!«
Der andere betupfte mit einem Tuch vorsichtig die Stirne Kerdacs, die mit großen Schweißperlen bedeckt war. Vielleicht ließ sich dies arme Leben doch noch etwas verlängern; die Nadel der bereitgehaltenen Pravaz-Spritze drang leicht durch die schlaffe Haut des Unterarmes. Die Injektion schien Kerdac wohl zu tun, er atmete tief auf und fuhr etwas lebhafter fort:
»Das habe ich Ihnen erzählt als eine der vielen Enttäuschungen, die ich erlitt. Es war immer dasselbe. In Indien, in Darbhangah, zeigte mir ein Fakir für zehn Rupien das berühmte Wachsen des Mangobaumes. Unter fortgesetzten Beschwörungen entsproßte dem eingepflanzten Samenkern eine hellgrüne, junge Pflanze, die immer höher wuchs, nachdem sie jedesmal mit einem Tuch bedeckt worden war. Schließlich entriß ich dem schreienden Kerl Topf und Pflanze – der Samenkern war gespalten und mit großer Geschicklichkeit ein abgeschnittener Mangosprößling hineingeklemmt. Im Tuch waren noch vier Stämmchen, eins immer größer als das andere.
Warum ich das erzähle? Um Ihnen zu beweisen, daß ich kein Neuling bin in diesen Dingen und Trug von Wirklichkeit wohl zu unterscheiden vermag. Um Ihnen begreiflich zu machen, daß das, was mich zu jenem unglückseligen Revolverschuß trieb, mehr war, als die Träume eines erregten Gehirns. Es war Wirklichkeit – ach, so schöne Wirklichkeit, und wieder so entsetzlich, daß kein Lebender sich das Maß von Grauen vorstellen kann, das ich durchlebt habe.
Nach den vorhin geschilderten Erlebnissen verbannte ich meine Zauberbücher in die Tiefe eines großen, verschlossenen Schrankes und ging ohne allen Gehirnballast auf Reisen. Es half mir nichts. Mein melancholisches Gemüt wurde nicht heiterer durch den raschen Wechsel der Eindrücke. Es lag ja in mir selbst, daß die Sonne am Mittelmeer anderen fröhlicher und heller strahlte als mir, daß mir die Rosen in Fiesole garstig und beklemmend dufteten, daß das blaue Meer nach Fischen und faulem Tang roch. In meinem Auge mußte ein Fehler sein, mein Gehör hatte gewiß eine häßlich mitklingende Saite. Wie wäre es sonst zu erklären, daß ich an einer schönen Frau nichts anderes sah als ein Flöckchen Ruß, das der Wind an ihre Wange geweht und der Schleier verwischt hatte? Daß ich in einem Beethoven-Konzert die immer wiederkehrenden Anfangstakte eines Gassenhauers heraushörte? Warum sah ich in einem Stück, das andere Menschen in ihren Seelentiefen erschütterte, nur schmutzige Sofitten und die Runzeln des Schauspielers, der den jugendlichen Liebhaber gab? Ich war es! Ich litt an mir selbst!
Einmal war ich verliebt. Rasend, unsinnig – ich konnte nur in ihrer Nähe leben. Mag dieser Ausdruck banal klingen – er ist trotzdem gut. Diesmal sah ich keine körperlichen Fehler. Aber ich wurde von einer höllischen Eifersucht gepeinigt. Ich wußte, daß ich betrogen würde. Ich wußte zugleich, daß es nicht so war. Verstehen Sie mich? Ich konnte nicht anders – es stieß mich etwas, von der Geliebten schlecht zu denken und ich quälte die einzige Frau, die für mich auf der Welt war, mit meinem beleidigenden Mißtrauen, mit meiner höhnischen Resignation, bis sie, gekränkt und in ihren zartesten Gefühlen roh verletzt, weinend von mir ging. Und damit war für mich eigentlich alles aus, daran bin ich auch zugrunde gegangen. Ganz gewiß.«
Kerdac seufzte tief auf. Eine große Schwäche und ein Muskelzittern, das der Vorbote des nahen Endes zu sein schien, kam plötzlich über ihn. Aber diesmal ging es noch vorüber, und er erzählte weiter:
»Ich kann mich an nichts erinnern, das mir wirkliche Freude gemacht hätte. Ich habe alles versucht und alles hat mich enttäuscht; ich war unzulänglich, der Freude unfähig. Ich gab auch schließlich jeden Versuch, mein Leben zu verschönern, als nutzlos auf und geriet wieder in den alten Zustand vollkommener Lethargie. Ich stand auf, wenn ich genug geschlafen hatte, aß, trank und trieb mich zwecklos und gleichgültig auf den Straßen herum.
Eines Abends – ich lebte damals in Paris – saß ich in einem Boulevardcafe und trank ein Glas Bier. Es war ein warmer Regentag im Frühjahr. Die Lichter spiegelten sich in den nassen Trottoirs. Ströme von Menschen kamen vorüber. Einzelne lösten sich aus der Masse, kamen ins Cafe, andere, die herausgingen, verschwanden sofort in dem lebenden Strom. Mich unterhielt es fast, diese kleinen Vorgänge, die einer Symbolik des Lebens glichen, zu beobachten.
Auf einmal bemerkte ich, daß sich jemand an meinen Tisch gesetzt hatte, was mich sehr nervös machte. Ich sah den Menschen unfreundlich an. Es war ein armseliger, schlecht gekleideter Jude, mit rötlichem, zerzaustem Bart und unruhig-ängstlichen Augen. Er trank in kleinen Schlucken einen süßen Likör und nahm so wenig Platz ein, als nur möglich. Als er sah, daß ich ihn bemerkt hatte, machte er eine erschrockene, hastige Verbeugung. Nach einiger Zeit redete er mich in schlechtem Französisch an, mit dem singenden Ton seiner Rasse. Er sprach sehr verlegen und stockend und ich merkte bald, wo er hinaus wollte. Erst heute war er, wie er sagte, in Paris angekommen, mit seiner Frau und drei kleinen Kindern, von denen eines sehr krank sei. Er wolle sich hier eine Existenz gründen, sei aber heute den ganzen Tag vergeblich herumgelaufen und könne vor Hunger und Müdigkeit nicht mehr stehen. Seine Frau wartete auf ihn, irgendwo weit draußen. Und er habe keinen Sou in der Tasche, um den Kindern Brot zu kaufen. Ich sah ihn ärgerlich an, zuerst an einen jener zahllosen, unverschämten Bettler denkend, die von irgendeiner trübseligen, eingelernten Phrase viel besser leben als mancher brave Arbeiter. Aber seine Augen waren mit so heißer, verzweifelter Bitte auf mich gerichtet und hafteten mit so banger Erwartung an meinem Gesicht, daß ich ihm, meiner Absicht entgegen, ein Fünffrankenstück zuschob. Er brach in eine Flut von Danksagungen und in naive Segenswünsche aus, so daß er mir im höchsten Grade lästig erschien. Als er mich gar noch fragte, ob ich ihm nicht etwas abkaufen wolle, sagte ich in barschem Tone, er solle sich fortmachen. Aber er blieb ganz ruhig sitzen und nahm das Kästchen, das Sie, Herr Doktor, in Ihrer Hand halten, aus der Tasche und reichte es mir. Es sei von einem vornehmen Herrn aus Wien, der sich erschossen und aus dessen Nachlaß er es erstanden habe. Eine große Rarität müsse es sein und sehr alt. Er habe seinen Rabbi gefragt, was es sei, der habe ihm aber sehr streng befohlen, das alles zu verbrennen und es unter keinen Umständen zu verkaufen. Das wäre aber doch schade und er sei ein armer Mensch. Ob ich zwanzig Franken geben würde?
Widerwillig öffnete ich das Etui, sah den rätselhaften Inhalt an und kaufte es sofort. Seit langer Zeit hatte mich nichts mehr erregt oder interessiert – dieses Kästchen mit der Maske und dem Pergamentstreifen wirkte auf mich wie ein kühler Trunk auf den Verschmachtenden. Ich steckte es sofort zu mir.
Der Jude nickte mir noch dankbar zu und sagte Segenswünsche vor sich hin. Er verschwand ebenso, wie er gekommen war. Ich sah einen Moment fort, und als ich mich wieder dem Tisch zukehrte, war er verschwunden; das Goldstück hatte er im letzten Augenblick nicht zu nehmen gewagt; es lag dicht bei meinem Arm. Er hatte offenbar einen kurzen, schweren Kampf mit sich selbst gekämpft. Das tat mir recht leid. Ich hätte dem armen Kerl das Geld gerne geschenkt. Ich habe ihn nie mehr in meinem Leben gesehen.
So eilig als möglich fuhr ich nach Hause. Ich hatte eine sehr hübsche Wohnung in der Nähe der Madeleine.
Durch den Diener ließ ich mir ein kaltes Souper holen und blieb zu Hause. Nach dem Essen betrachtete ich das Kästchen und seinen Inhalt aufs genaueste. Vergebens aber suchte ich in meinen Büchern nach einem bekannteren Magier namens Tormento, dessen ›wahre Kleinodien‹ vor mir lagen.«
Ein neuerlicher Anfall ließ Kerdac verstummen. Erst nach langen Minuten, die der Arzt in beständiger Erwartung des Endes, in einer ihm unbegreiflichen Erregtheit durchlebte, öffnete jener wieder die farblosen Lippen, um zu sprechen.
»Ich muß mich eilen«, stammelte er. »Es geht jetzt rasch abwärts. – Ich sprach von dem ersten Abend? – Nun – ich habe das Geheimnis erst nach Wochen, nach einer Zeit nervösen Suchens und Grübelns gefunden. – Es war an einem Septemberabend, als ich wieder einmal die Maske vornahm und den Monatsstein, also den Chrysolith, in die runde Öffnung schob. Ich hatte den Versuch schon hundertmal gemacht. – Wie sonst, so starrte ich auch heute durch das Plättchen gegen das Licht. Im Gegensatz zu anderen Versuchen beschloß ich diesmal zu warten, bis irgend etwas sich zeigen würde, und war bereit, die ganze Nacht auszuharren. – – – Wie lange es dauerte, weiß ich nicht mehr. Sehr lange jedenfalls. Später ging es viel rascher. – Ich sah also stundenlang durch den gelben Stein – wie gebannt. Und plötzlich, ganz von selbst, möchte ich sagen, rief ich den Namen Lilith unzählige Male aus.
Auf einmal war es mir, als bilde sich im Mittelpunkt des durchsichtigen Scheibchens etwas wie eine kleine Wolke. Doch nein – jetzt schien es außerhalb zu liegen, in der Ecke des Zimmers. Mein Denkvermögen begann einzuschlafen – ich sah nur unverwandt die gelbe Wolke an, wie sie wuchs und wuchs und wie es sich in ihr regte. Ich saß wie gelähmt. – Immer deutlicher sah ich die Gestalt einer Frau – einer nackten Frau mit langen Haaren. Dann verlor ich wohl die Besinnung, denn als ich mit dem Gefühl des Erwachens die Hände wieder bewegte, war die Erscheinung verschwunden.
Ich dachte zuerst an eine lebhafte Halluzination, die durch Autohypnose, durch die systematische Überreizung der Sehnerven nur zu erklärlich schien. Ich ging dann aus; den ganzen Abend, selbst im Theater – in einem blödsinnigen Vaudeville tauchte immer wieder das Wort, der Name Lilith in mir auf. Ich erinnere mich, daß ich verschiedenes darüber gelesen hatte. – Eine Teufelin – Adams erste Frau – – – der Succubus des Mittelalters.
Ich war schrecklich müde und ging früh nach Hause. Als ich im Bett lag, schlief ich fast augenblicklich ein. Und ich erwachte fast ebenso schnell – durch die Berührung eines Körpers, der mir nahe war. Eine Frau war in meinem Zimmer – – – schön wie ein Traumbild – in langes, goldenes Haar gehüllt, das knisternd über ihre Schultern floß.
Blaue Fünkchen sprangen durch das Goldgespinst.
Und das Seltsame war, daß ich weder Staunen noch Schreck fühlte. Ich fand es selbstverständlich, daß sie gekommen war. Ich wußte, daß dieser schlanke, biegsame Leib der meiner Geliebten, der Teufelin Lilith, war. Ach – ich hatte sie ja schon gekannt! Ich sah sie gewiß nicht zum ersten Male. Ich kannte die süßen Lippen, diese hellblauen Augen mit den winzigen Pupillen, die geschlitzt waren wie die der Katzen. Und ich suchte nach dem Blutströpfchen, daß sie wie einen Rubin auf der Unterlippe trug. Ich wußte, daß es immer auf ihrem blaßroten Munde zitterte. – Auch dieses gelbliche, dämmernde Licht, das mich mein Zimmer erkennen ließ, erschien mir als etwas längst Gewohntes.
Ich dachte aber das alles nicht – ich fühlte nur – ich fühlte alles – unaussprechlich deutlich und doch mit Worten nicht auszudrücken. So wie man Musik denkt – oder Farben – ich weiß es nicht zu sagen. Nur Wortgedanken, Begriffe waren mir in dieser und anderen Nächten etwas Fremdes, Plumpkörperliches, das mich sofort aus ihren Armen gerissen hätte.
Stellen Sie sich vor, Sie könnten Töne, Harmonien mit allen Sinnen wahrnehmen, – fühlen, – riechen, sehen – Doch nein! Ich kann Ihnen das nicht sagen –. Es war die Seligkeit. Ich löste mich in eine purpurdunkle Flamme auf – ich verging in Wonnen, die keiner ahnt –. Ich drehte mich in betörenden Lichtwirbeln, – körperlos und doch mit den Sinnen fühlend –. Ich wurde eins mit der Frau –, ein einziges göttergleiches Wesen –.
– – – Als mich mein Diener mit sanftem Rütteln weckte, war es hoher Mittag. Ich stand taumelnd auf –, betäubt, müde und vernichtet. An meinem Halse war ein dunkles Mal – das zerdrückte Kissen trug einen leuchtenden Flecken. Es war Blut – Liliths Abschiedskuß –!
An dem Tag ging ich nicht unter Menschen. Ich wollte niemanden sehen. Das Licht verging wieder, – der Abend kam. Ich lag wieder im Bett und erwartete die Geliebte, als sich meine brennenden Lider senkten. Aber ich schlief die ganze Nacht, traumlos und fest. Sie kam nicht zu mir, – weil ich sie nicht gerufen hatte.
Von nun an lebte ich des Nachts und trug den Tag mit seinem Lärm und allen seinen hellbeleuchteten Häßlichkeiten wie einen Alp. Nachts war ich ein König, – nichts auf Erden glich meiner Herrlichkeit und ich achtete wenig auf den elenden Leib, der fiebernd und blutarm den Flug des Geistes büßte. Ich betrachtete meinen Körper als eine wertlose Maschine, die ebenso lang in Gang bleiben mußte, als es möglich war. Kaum, daß ich das Nötigste an Nahrung zu mir nahm.
Oh, diese Nächte, mein Freund! Alle kamen sie in ihren Monaten, von mir gerufen. Eva, die Mutter der Menschheit, in Jugendschöne, die schlanken Glieder mit seidenweichem Flaum bedeckt, ein Kinderlächeln um den unschuldigen Mund. Astarte, die dunkelbraune Göttin mit den glühenden Augen, im Goldgewand und schwerem, kühlem Schmuck. Selene, blaß und süß in blau-silberner Tunica, Roxane mit dem Duft nach Ambra und gelben Rosen. Mit der blonden Poppäa wandelte ich durch schimmernde Säulengänge. Ihr violetter Mantel raschelte leise, und ich küßte ihr weißes Gesicht. Diana, geschmeidig und sonnverbrannt, erwartete mich unter den Korkeichen der Pyrenäen, und mit der silberbehelmten Semiramis stand ich in der betäubenden Blütenpracht ihrer Gärten. Undine umschlang mich mit dünnen Mädchenarmen und schüttelte lachend blitzende Tropfen aus den grünen Haaren. Zum dumpfen Dröhnen der Handpauken, bei gellendem Pfeifenklang und Harfenrauschen tanzte Salome jenen Tanz, der einst Herodes berückte; ihre dunkelgrünen Schleier waren mit dem Blut des Täufers besprengt. O – noch höre ich Helenas leises, berückendes Lachen und sehe den breiten Erzgürtel, der klirrend von den schmalen Hüften fällt – – –.
Ach – über meine verlorene Seligkeit! – Endlich tat ich das, was verboten war. Es setzte sich in mir fest und wurde zur quälenden Idee. Nahema! – Ich kämpfte und litt. Und ich unterlag. Am ersten Tage des Juni –.
Ich rief sie –. Sie war die Schönste von allen und trug einen weiten Mantel, grau und fein, wie die Flügel der Fledermaus. – Neben ihr erschien alles wesenlos, – Schmerz und Wonne verloren ihre Grenzen – – – jeder Nerv schien für sich zu leben, alles Fühlbare zu ungeheurer Intensität anzuwachsen. Ich weinte vor Glück und wartete auf die Nacht, ich lebte erst, wenn die Dämmerung kam, die die Farbe ihres Mantels trug. Und sie kam Nacht für Nacht. Die anderen Steine hatten für mich ihre Kraft verloren – – –.
Dann kam das Grauen. Sie trug es in ihrem Mantel –. Ihr holder Leib begann sich zu verändern – jede Nacht erschien sie mir älter. Falten zeigten sich auf ihrer Stirn – ihre Augen umgaben mißfarbige Schatten –. Eine Nacht schien von der andern durch Jahre getrennt zu sein –.
Zuletzt – war sie eine Lemure mit schlaffer, pergamentner Haut und zahnlosem Munde –. Sie peinigte mich mit abscheulichen Liebkosungen – sie kam jede Nacht – und sie sagte mir, – daß ich sterben müsse, damit sie sich verjünge –. Ich müsse mich töten. Sie sagte es fortwährend. Sie flüsterte es mir auch bei Tag in die Ohren. Auch der in Wien mußte gehorchen –. – Und Tormento, – das heißt: – Die – Qual –«
Der Kranke stieß plötzlich einen schrillen Schrei aus und öffnete weit die Augen. Sein Unterkiefer fiel auf die Brust – –.
Dr. Klaar beugte sich erschrocken zu ihm. – Jerome Kerdac war tot. – Aus der Schußwunde sickerte ein wenig schwarzes Blut –. Der Arzt rief den Diener und ging mit unsicheren Schritten die Treppe hinunter. Das Kästchen trug er bei sich.
Nun saß er schon über vier Stunden und schaute durch die Maske. Grünbläulich leuchtete vor seinem schmerzenden Auge der dünne Aquamarinschliff –. Es war totenstill im Zimmer. Den Namen hatte er gesprochen, auch die Bildung eines Wölkchens gesehen – – –, aber immer wieder hatte ihn sein beobachtender Verstand geweckt.
Lieber Gott, das war ja Blödsinn! Ärgerlich riß er die Maske ab und rieb das gereizte Auge.
Es war überhaupt einer von jenen Abenden, an denen eine wilde Schwermut, ein bleiernes Gefühl verlorener Zeit das Herz des Einsamen befällt. Einer jener Tage, da die totgeglaubten Wünsche und verdorrten Hoffnungen Macht über uns gewinnen. Und in betrübender Reihenfolge tauchen Gedanken und Vorstellungen auf, die wir längst überwunden glaubten.
– Dr. Klaar ging verdrossen aus dem schlechten Restaurant, in dem die jungen Ärzte speisten, nach Hause. Sein Zimmer mit der schwelenden Lampe, den ripsbezogenen Möbeln und dem häßlichen, längst erkalteten Ofen brachte ihn fast zum Weinen. Dann faßte er sich so weit, daß er seine Verstimmung auf die nervenerschütternden Vorgänge des Nachmittags zurückführen konnte. Und dadurch wurde er etwas ruhiger.
Schon zum zweiten Male war er aufgefahren. Etwas Nasses oder Kaltes hatte sein Gesicht berührt, und es war ihm, als schwinde ein zarter Schatten von seinem Bett, in das Dunkel der Ecken sich auflösend. – Er rieb sich die Augen und betrachtete blinzelnd die ruhig brennende Flamme des Nachtlichtes.
– Dann schlief er wieder ein.
Nach wenigen Minuten erschrak er so heftig, daß er noch im Halbschlaf aus dem Bett sprang. Etwas huschte vor ihm her – eine fast durchsichtige Mädchengestalt – und war auch schon verschwunden. – Auf dem Läufer vor dem Bett waren zwei nasse, längliche Flecken – – – auf dem Parkett die feuchten Spuren kleiner, schmale Füße. – – –
– – – Dr. Klaar schrie auf, wie ein erschrecktes Tier – – –. Das Wasser verdunstete schnell – – – der Boden sah aus wie vorher. Und der Arzt stand noch immer an seinem Bett und lallte vor sich hin – – –.
Und dann schrie er wieder auf: »Undine –! – Das ist ja Wahnsinn –! Ich werde wahnsinnig –!«
Bebend riß er das Fenster auf. Eisige Herbstluft wehte ihm entgegen –. Er schauerte zusammen –. Jäh griff er sich mit beiden Händen an den Kopf –. Dann sprang er aus seiner kauernden Stellung auf, riß wie ein Rasender das Kästchen an sich und warf die Steine heraus; einen nach dem andern schleuderte er in die Finsternis – tief unten auf dem Pflaster zersplitterten die spröden Plättchen –. Pergament und Maske hielt er über das flackernde Licht, – er fühlte es nicht, als die Flamme bis zu seinen Fingern loderte.
Und fröstelnd saß er auf einem harten Holzstuhl inmitten des Zimmers, in Todesangst den Morgen erwartend, der mit seinem klargrauen Licht langsam, langsam über die Dächer heraufkroch.