Laer­tes
von
Karl Hans Strobl

 

Der ös­ter­rei­chi­sche Schrift­stel­ler Karl Hans Stro­bl (1877-1946) wur­de mit sei­nen fan­tas­ti­schen Spuk­ge­schich­ten, No­vel­len und Ro­ma­nen zum Er­neue­rer und Be­grün­der ei­ner Gat­tung, die im deut­schen Sprach­raum Gu­stav Mey­rink und Hanns Heinz Ewers fort­setz­ten. Gespens­ter, Vam­pi­re, Teu­fel, He­xen, Al­ben und Le­mu­ren be­völ­kern sei­ne Er­zäh­lun­gen. So leiht blin­de Ei­fer­sucht dem er­mor­de­ten Dar­stel­ler des Laer­tes in der vor­lie­gen­den Er­zäh­lung aus dem Jah­re 1905 noch ein­mal Ge­stalt und Mas­ke: Sha­ke­s­pea­re, wie ihn nur we­ni­ge Thea­ter­freun­de ken­nen. In der von Hanns Heinz Ewers her­aus­ge­ge­be­nen Ga­le­rie der Fan­tas­ten er­schi­en 1921 un­ter dem Ti­tel ›Le­mu­ria‹ ei­ne Aus­wahl sei­ner selt­sa­men Ge­schich­ten.

 

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Der Di­rek­tor te­le­fo­nier­te es dem Thea­ter­se­kre­tär, der eben al­le Greu­el der Wolfs­schlucht hin­neh­men muß­te, der Thea­ter­se­kre­tär ließ die un­ge­heu­re Neu­ig­keit so­fort auf den Re­gis­seur über­strö­men, der Re­gis­seur lei­te­te sie auf Sa­miel, Aga­the und Kas­par wei­ter, die Aga­the sag­te es dem Kol­le­gen vom Schau­spiel, der sie im Dun­kel der Ku­lis­sen be­wun­der­te, und wie ein Was­ser­fall von der Höhe stürzt, rausch­te die Nach­richt aus den hel­len Höhen; ver­äs­telnd, sich ver­brei­ternd, al­le Hin­der­nis­se über­sprin­gend, fun­kelnd und be­täu­bend bis zu den un­ters­ten Dun­kel­hei­ten der Thea­ter­ar­bei­ter. Zwi­schen Ver­sen­kung zwei und drei, zwi­schen ›Abend­däm­merung‹ und ›Mond­schein‹ auf dem Schnür­bo­den, un­ter der Brücke, auf der Aga­thes Geist er­scheint, hin­ter dem bors­ti­gen Rücken des Wild­schwei­nes und ne­ben der großen Trom­mel des Was­ser­stur­zes flüs­ter­te man da­von. Dann quoll die Nach­richt in die Stadt hin­aus und brach­te die Welt, de­ren Mit­tel­punkt die Ra­ri­tä­ten des Thea­ters sind, in Auf­re­gung. Der Kell­ner im Ca­fe Stadt­thea­ter ser­vier­te mit der Me­lan­ge dis­kret die­ses neues­te Büh­nener­eig­nis und be­rech­ne­te aus dem über­rasch­ten Auf­schau­en des Gas­tes den Ta­ges­kurs sei­nes Trink­gel­des. Al­le Freun­de der Kunst schüt­tel­ten die Köp­fe und die äl­tes­ten un­ter ih­nen konn­ten gar nicht wie­der auf­hö­ren, als wä­ren sie durch den Schre­cken in Pa­go­den ver­wan­delt. Aus die­ser Nach­richt rüt­tel­ten sich ei­ne Men­ge von Ge­sprächss­toffen, von Ver­mu­tun­gen, von Apho­ris­men, von gu­ten und schlech­ten Wit­zen, wie die Bän­der, Sträu­ße, Bon­bon­nieren, Ka­nin­chen aus dem Zy­lin­der ei­nes Ma­giers.

Vor­mit­tags um elf hat­te Jo­sef Prinz dem Di­rek­tor mit­ge­teilt, daß er be­reit sei, den Ham­let zu spie­len, und als er nach­mit­tags um drei nach Hau­se kam, er­war­te­te ihn sei­ne Wir­tin mit fest­lich ver­dop­pel­ten Schmink­schich­ten und vor Er­re­gung et­was miß­ra­te­nen Au­gen­brau­en.

Ih­re Fuß­spit­zen quäl­ten sich mit Schwe­ben ab und ih­re Ar­me klapp­ten auf und nie­der, wie die Flü­gel ei­ner ver­las­se­nen Wind­müh­le: »Ich hö­re, ich hö­re … oh, ich bin au­ßer mir. Ist es mög­lich, Herr Prinz! Oh, Sie wol­len uns wie­der, ich fas­se es nicht … Sie wol­len uns wie­der Ih­ren Ham­let schen­ken. Oh … die­ser Mo­no­log! Wie Sie den ge­spro­chen ha­ben …!«

Prinz dräng­te an den Wind­mühl­flü­geln vor­bei und kämpf­te sich der Tür sei­ner Woh­nung zu. Zwi­schen zwei Dre­hun­gen und drei Aus­ru­fen ent­schlüpf­te er der Ge­fahr, nahm auf der Schwel­le sei­ner Tür die Po­se ei­nes Cä­sars an, der einen Welt­teil ver­schenkt, und rief: »Sie sol­len ei­ne Frei­kar­te ha­ben.« Dann schütz­te er sich durch einen star­ken, ein­bruch­si­che­ren Rie­gel. Aber um vier muß­te er dem Thea­ter­die­ner öff­nen, der ihm die Rol­le und einen Strauß takt­lo­ser Fra­gen und An­deu­tun­gen brach­te. Um fünf übergab ihm der Brief­trä­ger drei­und­zwan­zig Brief­chen in zar­ten Far­ben von Li­la bis Ro­sa, mit al­len Ge­rü­chen von Mo­schus bis He­lio­trop, mit den glü­hends­ten Aus­drücken in­nigs­ter Ver­eh­rung und hei­ßer Sehn­sucht nach dem Wie­der­se­hen des gött­li­chen Ham­let.

Um halb sechs kam mit der Däm­me­rung sein Freund Gu­stav Riet­schi. Er fand Ham­let in Grau gehüllt, mit zwei ro­ten Blut­fle­cken des sin­ken­den Abends auf Brust und Schul­tern und den De­gen sin­nend vor sich, daß die schma­le Klin­ge im Halb­kreis vom Korb zum Fuß­bo­den sprang. Der Spie­gel wie­der­hol­te dies al­les noch ein­mal, fah­ler, grau­er und leb­los star­rer als die Wirk­lich­keit.

»Ich hö­re, daß du wie­der den Ham­let spie­len willst.«

»Ich ha­be mich da­zu ent­schlos­sen. Der Di­rek­tor hat mir stark zu­ge­setzt, um den Sha­ke­s­pea­re-Zy­klus zu er­mög­li­chen und ich … warum soll­te ich nicht wie­der ein­mal den Ham­let spie­len. Mei­ne bes­te Rol­le … lä­cher­lich!«

»Wenn du selbst das von da­mals über­wun­den hast, warum soll­test du ihn nicht spie­len? Ge­wiß.«

»Ich … ich ha­be es über­wun­den.« Prinz ließ die Klinge auf­sprin­gen, daß sie lei­se im Korb klirr­te. Die blu­ti­gen Fle­cken auf Brust und Schul­tern brei­te­ten sich im Grau aus, ver­schwam­men und zit­ter­ten ins Dun­kel hin­über.

Der Freund sah den schma­len, schwar­zen Strei­fen der Klin­ge von der Hand Ham­lets aus­ge­hen, wie einen ins Un­ge­wis­se ge­rich­te­ten Wil­len. »Wie lan­ge ist das schon her?«

»Du bist glück­lich, daß du nicht die Jah­re zäh­len mußtest. Fünf Jah­re Ver­ban­nung von dem Bes­ten und Höchs­ten mei­ner Kraft.«

»Ich kann es mir den­ken, daß dir je­de Wie­der­ho­lung auch al­les Ent­set­zen von da­mals hät­te furcht­bar zu­rück­brin­gen müs­sen.«

»Ei­ne Lau­ne, mein Lie­ber, ei­ne Lau­ne. Oder glaubst du viel­leicht, mein Ge­wis­sen … Willst du viel­leicht sagen, daß mehr als ein un­glück­li­cher Zu­fall …«

»Aber … aber, Prinz! Du scheinst noch im­mer nicht ganz über­wun­den zu ha­ben. Dei­ne Auf­re­gung da­mals hat dei­ne Ner­ven stark mit­ge­nom­men.«

»Ja, es war furcht­bar, als er so vor mir lag. Blut an sei­nem Wams und mein De­gen voll Blut. Kein Thea­ter­tod, von dem man sich er­hebt, um sich dem Bei­fall des Pu­bli­kums lä­chelnd zu ver­beu­gen, son­dern der wirk­li­che Tod. Noch ein paar Zu­ckun­gen und Krämp­fe und dann taub für das Klat­schen. Die­ses Klat­schen war furcht­bar. Sie wuß­ten nichts und glaub­ten an einen Tri­umph der Schau­spiel­kunst. For­tin­bras muß­te die Wor­te fin­den, die uns an­de­ren er­starrt wa­ren.«

Die Wir­tin brach­te die Lam­pe, froh, einen Vor­wand ge­fun­den zu ha­ben, um zu Prinz vor­zu­drin­gen. Aber ih­re Lie­bens­wür­dig­kei­ten und die er­höh­te Far­big­keit ih­res Ge­sichts ge­wan­nen kei­ne Be­ach­tung. Als sie schmol­lend ge­gan­gen war, leg­te Ham­let den De­gen auf den Tisch. »Ein Zu­fall, Freund, ein un­glück­li­cher Zu­fall. Ein Ver­se­hen des Re­qui­si­teurs und der Tod stand un­ter uns. Ich schwö­re dir, ein Zu­fall.«

»Es zwei­felt nie­mand dar­an.«

»Seit­dem tra­ge ich mei­ne ei­ge­nen Waf­fen, von de­nen ich weiß, daß sie stumpf und un­schäd­lich sind.« Er bohrte die Spit­ze des De­gens ge­gen die Hand­flä­che, als woll­te er einen Rich­ter von sei­ner Un­schuld über­zeu­gen. »Und doch … wenn sich auf der Büh­ne die Klin­gen kreu­zen, so zit­te­re ich und mei­ne Fech­ter­küns­te sind nicht bes­ser als die ir­gend­ei­nes Sta­tis­ten.«

»Ich ha­be es be­merkt.«

»Hast du es be­merkt? Nicht wahr! Viel­leicht hat es auch das Pu­bli­kum be­merkt. Und über­haupt, weißt du, ich füh­le mich seit­dem nicht mehr voll. Die Kri­tik schont mich nur. Aber ich will kein Al­mo­sen des Bei­falls. Wenn ich den Ham­let wie­der ge­spielt ha­be, bin ich frei. Ich muß wie­der ei­nem Laer­tes ge­gen­über­tre­ten, ich muß ihn sich er­he­ben und lä­cheln se­hen, weißt du, dann ha­be ich die­ses greu­li­che Ge­spenst be­siegt.«

Er wuchs zu vol­ler Schlank­heit em­por und fiel aus ei­ner ra­schen Fechter­stel­lung mit ei­ni­gen Stö­ßen aus, die einen kör­per­lo­sen Feind durch­bohr­ten. Dann sank der De­gen wie in Ver­zweif­lung am Sieg. »Du warst … nicht wahr, du warst doch da­mals meist um mich? Als ich im Ner­ven­fie­ber lag. Was ha­be ich in mei­nen De­li­ri­en ge­spro­chen? Ich mei­ne, wor­aus setz­ten sich mei­ne Fan­tasi­en zu­sam­men?«

»Bruch­stücke aus Ham­let zu­meist. Von Ophe­lia kam viel vor und auch von Laer­tes. Du nann­test sie mit ih­ren bür­ger­li­chen Na­men und warfst die Be­zie­hun­gen durch­ein­an­der. Ein we­nig Wirk­lich­keit war auch da­bei, denn ich den­ke, das Ge­rücht von dei­nem Ver­hält­nis mit der Wit­te hat­te doch recht.«

»Un­sinn!«

»Al­so nicht? Ich dach­te, weil sie doch gleich nach­her mit Pö­na­le aus dem En­ga­ge­ment ging. Man sprach da­von, und ei­ni­ge woll­ten wis­sen, daß es zwi­schen euch we­gen des Laer­tes-Tie­fen­bach einen großen Krach gab.«

»Un­sinn! Un­sinn!«

»Es scheint dich aber doch be­un­ru­higt zu ha­ben. Du sprachst … frei­lich wa­ren das Fie­be­ri­de­en.«

»Nichts als Fie­be­ri­de­en. Mein Ge­hirn nahm auf, was es da­von fand und meng­te al­les durch­ein­an­der. Ich dan­ke dir … aber du sprichst nicht da­von, über­haupt ist es am bes­ten, wenn wir nicht mehr da­von spre­chen. Komm, Geist mei­nes Va­ters, wir wol­len ge­hen und Dä­mon Al­ko­hol be­schwö­ren.«

Sie rüs­te­ten sich, gin­gen an der fei­er­lich be­mal­ten Wir­tin vor­bei, groß­ar­tig wie Kö­ni­ge und ver­schlos­sen wie Ver­schwö­rer und zi­tier­ten im Hin­ter­zim­mer der ›Blau­en Af­fen­gat­tin‹ den Dä­mon Al­ko­hol.

Die Pro­ben zu ›Ham­let‹ wur­den dies­mal sehr gründ­lich ge­nom­men. Prinz, der mit zu­sam­men­ge­bis­se­nen Lip­pen, bleich und ent­schlos­sen auf der Büh­ne stand, wehr­te sich ge­gen je­den Schlen­dri­an und al­les zit­ter­te da­vor, einen zwei­ten sol­chen Aus­bruch zu er­le­ben, wie bei der ers­ten Pro­be. Er hat­te einen nach­läs­si­gen Sta­tis­ten ge­packt und mit zwei Ohr­fei­gen in die Ku­lis­sen ge­wor­fen, daß er win­selnd zu den Fü­ßen des Po­lo­ni­us nie­der­stürz­te. Der Sta­tist hat­te nun den rau­hen Ham­let ge­klagt, aber die an­de­ren hü­te­ten sich doch, durch die Un­ar­ten der Pro­ben sei­nen Zorn auf­zu­ru­fen. Fast un­heim­lich, re­gungs­los wie der stei­ner­ne Gast stand Prinz un­ter den in ih­rer Stim­mung sehr ge­drück­ten Kol­le­gen, und die leich­ten Wit­ze schlichen ge­bun­den in den dun­keln Win­keln um­her. Vor seinem un­er­bitt­li­chen Ge­sicht zer­bra­chen die im­mer be­rei­ten Scher­ze in arm­se­li­ge Wor­te vol­ler Be­schei­den­heit und Angst, als ob hier et­was vor ih­nen stün­de, des­sen Be­deut­sam­keit weit über al­lem Schein der Büh­ne wä­re.

»Wie ei­ner, der sei­ne ei­ge­nen To­ten­spie­le in­sze­niert«, flüs­ter­te Kö­nig Clau­di­us dem Gu­stav Riet­schi zu, der den Geist von Ham­lets Va­ter zu mi­men hat­te. Der jun­ge Dar­stel­ler des Laer­tes, der erst zwei Jah­re im En­ga­ge­ment war, wag­te die ge­fähr­li­che Fra­ge nach dem Un­fall sei­nes Vor­gän­gers. An Riet­schis Schweig­sam­keit prall­te sei­ne Neu­gier­de ab und er muß­te sich mit dem be­gnü­gen, was ihm Kö­nig Clau­di­us nach­mit­tags beim Ta­rock­spiel an un­zu­sam­men­hän­gen­den Ge­rücht­frag­men­ten, ba­ro­cken Bruch­stücken, ge­wag­ten Ver­mu­tun­gen und bos­haf­ten An­spie­lun­gen mit­tei­len konn­te. Was er da hör­te, reg­te ihn auf, und er emp­fand pri­ckelnd die lüs­ter­ne Sen­sa­ti­on, an ei­ne Stel­le zu tre­ten, die vom Tod ver­flucht und ge­weiht war. Prinz klei­de­te sich für sei­ne Fan­ta­sie in den Pan­zer des Son­der­ba­ren und Ge­heim­nis­vol­len, und aus dem einen ge­flüs­ter­ten Wort stie­gen ihm die köst­li­chen Won­nen furcht­sa­men Ab­scheu­es auf. Zwi­schen zwei Run­den hat­te sich Kö­nig Clau­di­us weit vor­ge­neigt, da­mit es Gül­dens­tern, der Kie­bitz, nicht hö­ren kön­ne: »Man spricht, aber du wirst da­von den Mund hal­ten, daß das da­mals nicht Zu­fall war, son­dern … na, al­so Ab­sicht, weil der Tie­fen­bach mit der da­ma­li­gen Ophe­lia …« Ein kräf­tig an­ge­sag­ter Pa­ga­tul­ti­mo brach­te Kö­nig Clau­di­us auf an­de­re Glei­se, und der jun­ge Laer­tes muß­te sich selbst in den Zau­ber­wald der Mög­lich­kei­ten auf die Suche be­ge­ben. Sein Ei­fer und sei­ne ner­vö­se An­span­nung stie­gen, je wun­der­ba­rer ihm das Er­leb­nis er­schi­en, mit ei­nem Mör­der die Klin­gen kreu­zen zu sol­len. Die­se Vor­stel­lung lock­te ihn an wie ein Ab­grund, und er kam sich so in­ter­essant vor, wie der Bän­di­ger ei­ner un­ge­heu­ren Ge­fahr, die un­faß­bar und des­halb um so grö­ßer und schö­ner ist. Er war dar­um ganz au­ßer sich und zwei­fel­te an der gött­li­chen Ge­rech­tig­keit, als er am Tag vor der Auf­füh­rung die An­zei­chen ei­ner schwe­ren In­flu­enza fühl­te. Trotz­dem er einen Teil sei­ner Mo­nats­ga­ge in Ko­gnak an­leg­te, zwang ihn das Fie­ber nach­mit­tags ins Bett, und der Arzt nahm ihm al­le Aus­sicht auf das große Er­leb­nis des mor­gi­gen Abends.

Der Di­rek­tor und der Thea­ter­se­kre­tär wa­ren nicht we­ni­ger ver­zwei­felt, fluch­ten auf das schlech­te Wet­ter, das den Spiel­plan gar nicht be­ach­te und grif­fen gleich­falls zum Ko­gnak. Beim fünf­ten Glas mach­te der Se­kre­tär den Vor­schlag, den Laer­tes durch einen min­de­ren Dar­stel­ler zu be­set­zen. Aber der Di­rek­tor fuch­tel­te ihm sei­ne Gegen­grün­de vor das Ge­sicht: nie … nie … nie wür­de Prinz ei­ne Be­set­zung durch ei­ne min­der­wer­ti­ge Kraft zu­ge­ben. »Er will sich doch ge­wis­ser­ma­ßen re­ha­bi­li­tie­ren. Glän­zend ein­füh­ren und al­les zei­gen, was er kann. Das ist ein­fach un­mög­lich.« Beim sie­ben­ten Glas end­lich er­strahl­te der Aus­weg in wun­der­ba­rer Hel­le. »Hil­de­mann aus Prag als Aus­hil­fe«, schrie der Se­kre­tär und er­hob sich halb von sei­nem Samt­fau­teuil, und »Hil­de­mann aus Prag«, don­ner­te der Di­rek­tor.

Sie brach­ten ih­ren Vor­schlag vor Prinz, und er nick­te mit der düs­te­ren Mie­ne Ham­lets Ge­wäh­rung.

»Hil­de­mann aus Prag ist gut«, sag­te Gu­stav Riet­schi und be­schwich­tig­te den Freund, den der Wech­sel doch un­ru­hig mach­te. »Mit Hil­de­mann brauchst du kei­ne Pro­be, der ist fest und hat schon mit den bes­ten Leu­ten ge­spielt, ver­laß dich auf ihn.« Hil­de­mann sag­te zu und ver­sprach zur rech­ten Zeit, noch kurz vor der Vor­stel­lung – frü­her war es ihm ein­fach un­mög­lich – ein­zu­tref­fen. Für Prinz war die­ser Tag der Auf­füh­rung voll ko­chen­der Un­ru­he.

»Ich hät­te doch ger­ne noch mit ihm ge­probt«, sag­te er abends zum Gar­de­ro­bier, als er den De­gen um­häng­te. Dann schritt er auf der dunklen Büh­ne auf und ab und sah in das lee­re Haus, im­mer wie­der zu dem in die Schlei­er des Geis­tes gehüll­ten Freund zu­rück­keh­rend. »Ich bin sehr auf­ge­regt, ich bit­te dich, ver­laß mich nicht.«

»Kein Wun­der, wenn du heu­te Lam­pen­fie­ber hast …«

»Lam­pen­fie­ber? … Fast möch­te ich sa­gen Angst … Weiß der Teu­fel … ist Hil­de­mann schon hier?«

»Ich weiß es nicht. Aber er ist ge­wiß schon hier.«

Und Prinz wan­der­te wei­ter auf der noch mit al­lem Grau­en des Un­le­ben­di­gen er­füll­ten Büh­ne, vom Vor­hang zum Ran­de der Schloß­ter­ras­se von Hel­sin­gör und wie­der zu­rück, als ob er mit sei­nen Schrit­ten die Qual der Ein­sam­keit zer­rei­ßen woll­te. Die Wa­chen zo­gen auf und lehn­ten die Hel­le­bar­den an die ge­mal­ten Tür­me, um sich noch die Stie­fel hoch­zu­zie­hen und die Hals­krau­sen zu­rechtzu­ma­chen, und Ham­let er­schau­er­te vor ih­ren Schat­ten, als ob sie aus ei­ner frem­den, un­be­grif­fe­nen Welt über die Büh­ne krö­chen. Aus dem leb­haf­ten, ge­füll­ten Haus, aus dem mit Er­war­tun­gen ver­sam­mel­ten Pu­bli­kum kam ihm dies­mal kei­ne Zu­ver­sicht, und er wag­te nicht ei­ner Un­ru­he nach­zu­fra­gen, die hin­ter den Ku­lis­sen je­man­den zu ver­mis­sen schi­en.

Das Zei­chen zum Be­ginn riß ihn em­por, und mit einem plötz­li­chen Er­schre­cken be­gann er das nun Un­wi­der­ruf­liche zu be­dau­ern. Die Fra­ge, warum er sich auf die­ses grau­sa­me Spiel voll un­be­hag­li­cher Er­in­ne­run­gen, voll blu­ti­ger Ge­stal­ten ein­ge­las­sen ha­be, be­stürm­te ihn, und er hoff­te nun, den Sinn des ver­zwei­fel­ten Hin und Her im Hin­ter­grun­de der Büh­ne im Aus­blei­ben Hil­de­manns zu fin­den. Dann war die Auf­füh­rung un­mög­lich, muß­te im letz­ten Au­gen­blick ab­ge­sagt wer­den, und aus al­len Ängs­ten führ­te für ihn ein Weg der Ret­tung. Aber nach sei­ner ers­ten Sze­ne er­war­te­te ihn ein Schat­ten und trat auf ihn zu.

»Herr Hil­de­mann?«

»Herr Prinz?«

Ham­lets Va­ter scherz­te über die Ver­spä­tung.

»Oh, ich bin zu­ver­läs­sig. Wenn ich zu­ge­sagt ha­be, so kom­me ich si­cher.«

»Wol­len wir nicht rasch die letz­te Sze­ne pro­bie­ren.«

»Das Ge­fecht? Es ist nicht nö­tig. Sie fech­ten gut, und Sie sol­len se­hen, daß ich ein tüch­ti­ger Geg­ner bin. Wir wol­len es schon ma­chen …«

Laer­tes nahm Ab­schied von Po­lo­ni­us und Ophe­lia. Sei­ne War­nung vor Ham­let war tro­cken und ge­schäfts­mä­ßig und doch selt­sam er­re­gend. Dann ver­schwand er, und als ihn Ham­let, der von ei­ner schreck­haf­ten Un­ru­he um­her­ge­trie­ben wur­de, su­chen woll­te, war er nicht zu fin­den, als wä­re er wirk­lich jen­seits ei­nes un­über­brück­ba­ren Mee­res. Zit­ternd lag sei­ne See­le in der Sze­ne mit dem Geist sei­nes Va­ters auf den Kni­en. Das un­er­klär­li­che und Ge­spens­ti­ge des so ver­trau­ten Vor­gan­ges wirk­te wie Gift auf sein Blut, bis er mit Flim­mern in den Au­gen und Sau­sen vor den Oh­ren am En­de fast zu­sam­men­brach.

Im Pu­bli­kum ant­wor­te­ten Schau­er der Ah­nung auf die in die Gren­zen der Kunst ge­zwun­ge­ne Angst Ham­lets. Man fühl­te sich vor der Of­fen­ba­rung mys­ti­scher Er­eig­nis­se, vor ei­ner selt­sa­men Sym­bio­se von Schau­spiel und Wirk­lich­keit und schrieb al­le Er­re­gung der un­ver­gleich­li­chen Künst­ler­schaft des Dar­stel­lers zu.

Ham­let er­schi­en an der Ram­pe und ver­neig­te sich, to­ten­blaß und mit zu­cken­den Hän­den vor dem be­geis­ter­ten Haus. Dann jag­te er wie­der Hil­de­mann nach, oh­ne ihn fin­den zu kön­nen. Riet­schi hat­te die Schlei­er des Geis­tes zu­rück­ge­streift und sah aus wie ein Be­dui­nen­häupt­ling. Er woll­te dem Freund durch sei­nen Hän­de­druck von den küh­len Schät­zen sei­ner Ru­he ge­ben. Aber Prinz faß­te ihn und riß ihn fast um: »Hörst du, hörst du, das ist gar nicht Hil­de­mann …«

»Na, er­lau­be, wer soll­te das denn sein …«

»Hil­de­mann ist’s nicht. Ich ken­ne ihn nach den Bil­dern …«

»Und ich ken­ne ihn per­sön­lich und sa­ge dir, es ist Hil­de­mann …«

»Merkst du denn nicht, Mensch, um Got­tes wil­len, wie sich un­ter sei­nem Ge­sicht ein zwei­tes im­mer vor­schie­ben will. Es ist, als ob er zwei Schich­ten über­ein­an­der hät­te. Ein Ge­sicht kämpft mit dem an­de­ren und drängt es zu­rück … aber es wird aus­bre­chen kön­nen …«

»Hast du viel­leicht aus Angst vor der In­flu­enza zu viel Ko­gnak …«

»Um Got­tes wil­len! Sieht denn das nie­mand? … sieht denn das nie­mand, daß er mich haßt. In der Sze­ne mit Ophe­lia … wie er mit den Zäh­nen knirsch­te und mit den Au­gen roll­te, als er von Ham­let sprach. Das ist nicht Spiel, das ist ech­ter Haß … jen­seits al­ler Mas­ke … Und wo ist er, wo steckt er? Ich will ihn zur Re­de stel­len.«

»Wil­lem, fall nit von’s Jerüst.«

»Mach kei­ne Spä­ße. Ich bit­te dich, ver­laß mich nicht … bleib in mei­ner Nä­he. Im­mer in mei­ner Nä­he. Ich will dir et­was Schreck­li­ches sa­gen … ich … ich fürch­te mich.«

Riet­schi be­gann zu be­sor­gen, daß die Vor­stel­lung mit ei­ner Ab­sa­ge en­di­gen wer­de und ver­stärk­te al­le sug­ge­s­ti­ven Kräf­te sei­ner Freund­schaft. Zwi­schen stumpf­sin­ni­gem Brü­ten, ei­ner ver­lo­re­nen Gleich­gül­tig­keit, ei­nem has­ti­gen Auf­zu­cken und ei­ner un­s­te­ten Reiz­bar­keit ging die Dar­stel­lung des Ham­let wei­ter. Er gab das Schau­spiel ei­nes Ver­ur­teil­ten, der sich vor der Ver­nich­tung in sich ver­kriecht und dann wie­der mit den Fäus­ten ge­gen die Wän­de schlägt. Der Mo­no­log über Sein oder Nicht­sein schwank­te zwi­schen me­lan­cho­li­scher Teil­nahms­lo­sig­keit und furcht­ba­ren Aus­brü­chen; die letz­ten Sät­ze ka­men müh­sam und un­deut­lich her­vor, wäh­rend die Zäh­ne die Lip­pen zer­bis­sen, daß nach den letz­ten Wor­ten zwei dün­ne Blut­strah­len über das nack­te Kinn rie­sel­ten. So grau­sam hat­te noch nie je­mand ge­lacht, so klir­rend und spitz war noch nie der Hohn der Büh­ne ge­we­sen, ei­ne gan­ze Samm­lung von fein aus­ge­klü­gel­ten Fol­ter­in­stru­men­ten, und das Pu­bli­kum ju­bel­te und konn­te sich vor Ent­zücken nicht fas­sen. Es fühl­te sich mit­ge­ris­sen, selbst dar­an be­tei­ligt und emp­fand die Qua­len die­ses Ge­hirns wol­lüs­tig an sich, wie das Knir­schen der Sä­ge in den Ope­ra­ti­ons­sä­len an­ge­nehm durch die ei­ge­nen Kno­chen geht.

Der Thea­ter­arzt kam im Zwi­schen­akt auf die Büh­ne und fing Ham­let in ei­ner Ecke ein: »Sie rei­ben sich auf. Was trei­ben Sie heu­te?« Aber Prinz lach­te, stieß den Arzt grob von sich und rann­te, von sei­nem ver­zwei­fel­ten Freund be­glei­tet, fort, um Hil­de­mann zu su­chen. Sei­ne Angst wirk­te auf die üb­ri­gen Dar­stel­ler, und die Vor­stel­lung be­gann sich über den Schein der Büh­ne zur Ah­nung gräß­li­cher Be­deut­sam­keit zu er­he­ben. In al­le Tie­fen durch­wühlt, zit­ter­te die Dich­tung, und die Schau­spie­ler sa­hen sich in den Zwi­schen­ak­ten an, als ob sie nun den ei­gent­li­chen Sinn al­ler die­ser Vor­gän­ge er­fah­ren müß­ten.

»Su­chen Sie, su­chen Sie«, schrie Ham­let dem In­spi­zi­en­ten, dem Re­gis­seur, den Gar­de­ro­bie­ren zu, und al­le such­ten den ver­schwun­de­nen Laer­tes.

Als die Sze­ne sei­ner Rück­kehr im vier­ten Akt kam, war er plötz­lich da, be­trat die Büh­ne und füg­te sich kalt und stei­nern in das Spiel, als ob er nicht be­merk­te, daß die üb­ri­gen sich fürch­te­ten, na­he bei ihm zu ste­hen. Er be­sprach mit Kö­nig Clau­di­us den Mord Ham­lets und blieb ru­hig und si­cher, nur wie von ei­ner heim­li­chen Freu­de be­lebt, als ob sich et­was lang Er­sehn­tes nun end­lich un­ab­wend­bar er­fül­len müß­te. Ham­let hör­te hin­ter der Sze­ne, schwer auf den Freund ge­stützt, al­le Heim­lich­kei­ten des An­schla­ges ge­spannt an, und es schi­en, daß er sie wie neue und un­er­war­te­te Nach­rich­ten in sich über­win­den müs­se. Sei­ne Un­ru­he wur­de von ei­ner großen Schwe­re er­drückt und er­starr­te von ei­nem trä­gen, dro­hen­den Ko­loß, der aus klei­nen, grau­sa­men Au­gen blin­zelt. Aber die Hand­lung ström­te un­auf­halt­sam wei­ter und riß über al­le Ver­zö­ge­run­gen hin­weg, die Ham­let im Zwi­schen­akt zu er­fin­den such­te. Man ver­län­ger­te die Pau­se, und er ge­noß sie wie ei­ne Gna­den­frist, stumm mit dem Freund zwi­schen den Grä­bern auf und ab wan­dernd, die man für die nächs­te Sze­ne auf­warf.

Auf dem Fried­hof, am Gra­be der Ophe­lia stie­ßen Ham­let und Laer­tes auf­ein­an­der. Es war ein An­prall, der das Pu­bli­kum er­schüt­ter­te, und grau­en­voll ernst ent­spann sich das Rin­gen in dem of­fe­nen Gra­be, ein Kampf, dem Ham­let mit lee­ren Au­gen und wan­ken­den Kni­en ent­kam.

Den Bei­fall des Hau­ses drück­te die Angst, und nur Laer­tes er­schi­en auf der Büh­ne, mit lan­gen, selt­sam schlen­kern­den Ar­men und ei­nem Lä­cheln, das so durch­aus un­pas­send und wir­rend schi­en, wäh­rend Ham­let hin­ter der Sze­ne den Freund um­klam­mert hielt.

»Das ist der Tod« – er keuch­te – »das ist der Tod.«

»Un­sinn; halt aus, dann ist’s zu En­de.«

»Es ist zu En­de … ja, denn das ist der Tod. Er hat­te mich ge­faßt und ließ mich noch ein­mal los. Hast du nicht ge­se­hen, wie sein an­de­res Ge­sicht auf­tauch­te, und als er mich preß­te, spür­te ich … ich spür­te … er at­met nicht. Er at­met nicht, Mensch!«

»Du mußt nach­her gleich ins Bett. Du hast Fie­ber. Es hat dich zu sehr an­ge­grif­fen. Die Er­in­ne­rung ist noch zu stark …«

»Sie ist wie­der le­ben­dig ge­wor­den, sie bringt mich um. Die­ser Laer­tes wird mich tö­ten. Ich will nicht mehr hin­aus …«

Der Di­rek­tor und der Re­gis­seur be­kämpf­ten sei­nen Wi­der­stand, zer­bra­chen ihn und jag­ten Ham­let hin­aus.

»Herr Prinz!« rief der In­spi­zi­ent.

»Gleich.« Er pack­te den Freund bei der Schul­ter und riß sein Ge­sicht zu sich. »Ich muß dir’s sa­gen, be­vor ich ge­he. Ei­ner muß es wis­sen. Du! Das da­mals war kein Zu­fall. Es war Ab­sicht … Mord. Laer­tes ist er­mor­det wor­den, ich ha­be ihn um­ge­bracht.«

»Herr Prinz!!«

»Ich kom­me.« Und Ham­let trat zu Ho­ra­tio in die Hal­le des Kampf­spie­les. Laer­tes stand in der Nä­he, ir­gend­wo zwi­schen den Ku­lis­sen auf sein Stich­wort war­tend. Man sah ihn nicht, aber man wuß­te, daß er hier war und daß ihn nichts hin­dern wür­de, die Büh­ne zu be­tre­ten. Von der Angst des Freun­des und sei­nem Ge­ständ­nis ver­wirrt, wag­te Riet­schi nicht, ihn zu su­chen und sah nur, wie sich die Vor­gän­ge der Büh­ne hin­schlepp­ten, wie die Wor­te Ham­lets zö­gernd und um klei­ne Auf­ent­hal­te be­müht, folg­ten. Kö­nig Clau­di­us setz­te sei­ne aus­drucks­vol­len, auf­ge­reg­ten Ge­bär­den fast in das Ge­sicht des Thea­ter­arz­tes, dann riß auch ihn der Wir­bel der Hand­lung hin­aus, wo ei­ne selt­sa­me Span­nung zit­ter­te und auf ih­re Er­lö­sung war­te­te.

Hin­ter Riet­schi mach­ten zwei Feu­er­wehr­leu­te halb­lau­te Be­mer­kun­gen: »Der Ham­let, der spielt heut, das is a Pracht.«

»Jo, der spüllt … wie auf Tod und Le­ben.«

Plötz­lich stand Laer­tes un­ter den Per­so­nen der Sze­ne. Riet­schi sah, wie sich al­les ihm zu­wand­te, zu­gleich an­ge­zo­gen und ab­ge­sto­ßen und wie sie sich dann al­le un­will­kür­lich um Ham­let als um einen ent­ge­gen­ge­setz­ten Pol zu sam­meln such­ten. Das Ge­fü­ge des Dra­mas schwank­te, wie ein vom Sturm be­rann­ter Turm, oh­ne Ge­fahr des Stur­zes, aber ge­nü­gend, um das Zit­ternd des Bau­es zu füh­len. Laer­tes stand un­ter den Höf­lin­gen, schlank, ge­schmei­dig, lä­chelnd, und es schi­en Riet­schi nun selbst, als ob dies nicht Hil­de­mann sein kön­ne. Er spiel­te ver­hei­ßungs­voll mit der Klin­ge und zwang ih­re Ge­schmei­dig­keit zu tol­len Li­ni­en, die einen Au­gen­blick wie Zei­chen in der Luft stan­den.

Der Kampf be­gann. Die Klin­gen fan­den und ban­den sich, zisch­ten wie Schlan­gen und be­geg­ne­ten sich in wilden Stö­ßen und Pa­ra­den. Sie wa­ren rasch und heim­tückisch, lau­ernd und bru­tal, be­leb­te We­sen, die am Ran­de ei­nes Ab­grun­des mit­ein­an­der rin­gen. Der Kampf zog sich in die Län­ge, weit über die Dau­er ei­nes blo­ßen Spie­les hin­aus, und wäh­rend der Re­gis­seur ver­zwei­felt auf For­tin­bras ein­sprach, sah Riet­schi ent­setzt, daß sich Ham­let im Ernst zu weh­ren hat­te und daß ihn Laer­tes mit ei­nem tollen Feu­er von Stö­ßen be­dräng­te. Um die­sen Kampf bil­de­ten sich Grup­pen von Zu­schau­ern, die der un­be­son­ne­nen Mi­mik wirk­li­cher Angst folg­ten, und selbst die Mas­sen der Sta­tis­ten be­leb­ten sich.

Da sah Riet­schi, daß Laer­tes mit ei­nem Dop­pel­stoß Ham­lets Brust be­rühr­te und daß er die Klin­ge lä­chelnd und lang­sam zu­rück­zog. Ham­let stürz­te, bäum­te sich auf, griff nach dem Hals und fiel zu­rück. Er lang­te mit kramp­fi­gen Fin­gern nach dem Klei­de der Kö­ni­gin und wälz­te sich rö­chelnd zur Sei­te.

»Vor­hang, Vor­hang!« schrie der Re­gis­seur, der Thea­ter­arzt rann­te Riet­schi fast um und dräng­te sich zu dem Ge­fal­le­nen. Wäh­rend der Re­gis­seur vor dem Vor­hang in das un­ru­hi­ge Mur­meln des Pu­bli­kums von ei­nem klei­nen, be­dau­er­li­chen Un­fall sprach und um ge­ord­ne­tes Ver­lassen des Hau­ses bat, un­ter­such­te der Arzt den Kör­per des Ver­un­glück­ten.

Ham­let war tot.

»Laer­tes, Laer­tes … wo ist Hil­de­mann?« schrie der Di­rek­tor, und der Po­li­zei­kom­mis­sär rann­te da­von, um ihn zu su­chen. Aber Laer­tes war ver­schwun­den.

Ein Post­bo­te durch­brach den Kreis der krei­schen­den Frau­en und ver­stumm­ten Män­ner mit ei­nem Te­le­gramm an den Di­rek­tor. Es ent­hielt ei­ne son­der­ba­re Nach­richt. Der Zug, mit dem Hil­de­mann zur Abend­vor­stel­lung ein­tref­fen woll­te, war auf hal­b­em We­ge durch einen Schie­nen­bruch ver­un­glückt. Es gab zwei To­te und ei­ni­ge Schwer­ver­letz­te. Und so­bald in der nächs­ten Bahn­sta­ti­on die Iden­ti­tät der Ver­un­glück­ten fest­ge­stellt wor­den war, hat­te sich der Sta­ti­ons­vor­stand be­eilt, die Di­rek­ti­on da­von zu ver­stän­di­gen, daß man das Aus­blei­ben Hil­de­manns durch sei­nen Tod ent­schul­di­gen müs­se.