Laertes
von
Karl Hans Strobl
Der österreichische Schriftsteller Karl Hans Strobl (1877-1946) wurde mit seinen fantastischen Spukgeschichten, Novellen und Romanen zum Erneuerer und Begründer einer Gattung, die im deutschen Sprachraum Gustav Meyrink und Hanns Heinz Ewers fortsetzten. Gespenster, Vampire, Teufel, Hexen, Alben und Lemuren bevölkern seine Erzählungen. So leiht blinde Eifersucht dem ermordeten Darsteller des Laertes in der vorliegenden Erzählung aus dem Jahre 1905 noch einmal Gestalt und Maske: Shakespeare, wie ihn nur wenige Theaterfreunde kennen. In der von Hanns Heinz Ewers herausgegebenen Galerie der Fantasten erschien 1921 unter dem Titel ›Lemuria‹ eine Auswahl seiner seltsamen Geschichten.
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Der Direktor telefonierte es dem Theatersekretär, der eben alle Greuel der Wolfsschlucht hinnehmen mußte, der Theatersekretär ließ die ungeheure Neuigkeit sofort auf den Regisseur überströmen, der Regisseur leitete sie auf Samiel, Agathe und Kaspar weiter, die Agathe sagte es dem Kollegen vom Schauspiel, der sie im Dunkel der Kulissen bewunderte, und wie ein Wasserfall von der Höhe stürzt, rauschte die Nachricht aus den hellen Höhen; verästelnd, sich verbreiternd, alle Hindernisse überspringend, funkelnd und betäubend bis zu den untersten Dunkelheiten der Theaterarbeiter. Zwischen Versenkung zwei und drei, zwischen ›Abenddämmerung‹ und ›Mondschein‹ auf dem Schnürboden, unter der Brücke, auf der Agathes Geist erscheint, hinter dem borstigen Rücken des Wildschweines und neben der großen Trommel des Wassersturzes flüsterte man davon. Dann quoll die Nachricht in die Stadt hinaus und brachte die Welt, deren Mittelpunkt die Raritäten des Theaters sind, in Aufregung. Der Kellner im Cafe Stadttheater servierte mit der Melange diskret dieses neueste Bühnenereignis und berechnete aus dem überraschten Aufschauen des Gastes den Tageskurs seines Trinkgeldes. Alle Freunde der Kunst schüttelten die Köpfe und die ältesten unter ihnen konnten gar nicht wieder aufhören, als wären sie durch den Schrecken in Pagoden verwandelt. Aus dieser Nachricht rüttelten sich eine Menge von Gesprächsstoffen, von Vermutungen, von Aphorismen, von guten und schlechten Witzen, wie die Bänder, Sträuße, Bonbonnieren, Kaninchen aus dem Zylinder eines Magiers.
Vormittags um elf hatte Josef Prinz dem Direktor mitgeteilt, daß er bereit sei, den Hamlet zu spielen, und als er nachmittags um drei nach Hause kam, erwartete ihn seine Wirtin mit festlich verdoppelten Schminkschichten und vor Erregung etwas mißratenen Augenbrauen.
Ihre Fußspitzen quälten sich mit Schweben ab und ihre Arme klappten auf und nieder, wie die Flügel einer verlassenen Windmühle: »Ich höre, ich höre … oh, ich bin außer mir. Ist es möglich, Herr Prinz! Oh, Sie wollen uns wieder, ich fasse es nicht … Sie wollen uns wieder Ihren Hamlet schenken. Oh … dieser Monolog! Wie Sie den gesprochen haben …!«
Prinz drängte an den Windmühlflügeln vorbei und kämpfte sich der Tür seiner Wohnung zu. Zwischen zwei Drehungen und drei Ausrufen entschlüpfte er der Gefahr, nahm auf der Schwelle seiner Tür die Pose eines Cäsars an, der einen Weltteil verschenkt, und rief: »Sie sollen eine Freikarte haben.« Dann schützte er sich durch einen starken, einbruchsicheren Riegel. Aber um vier mußte er dem Theaterdiener öffnen, der ihm die Rolle und einen Strauß taktloser Fragen und Andeutungen brachte. Um fünf übergab ihm der Briefträger dreiundzwanzig Briefchen in zarten Farben von Lila bis Rosa, mit allen Gerüchen von Moschus bis Heliotrop, mit den glühendsten Ausdrücken innigster Verehrung und heißer Sehnsucht nach dem Wiedersehen des göttlichen Hamlet.
Um halb sechs kam mit der Dämmerung sein Freund Gustav Rietschi. Er fand Hamlet in Grau gehüllt, mit zwei roten Blutflecken des sinkenden Abends auf Brust und Schultern und den Degen sinnend vor sich, daß die schmale Klinge im Halbkreis vom Korb zum Fußboden sprang. Der Spiegel wiederholte dies alles noch einmal, fahler, grauer und leblos starrer als die Wirklichkeit.
»Ich höre, daß du wieder den Hamlet spielen willst.«
»Ich habe mich dazu entschlossen. Der Direktor hat mir stark zugesetzt, um den Shakespeare-Zyklus zu ermöglichen und ich … warum sollte ich nicht wieder einmal den Hamlet spielen. Meine beste Rolle … lächerlich!«
»Wenn du selbst das von damals überwunden hast, warum solltest du ihn nicht spielen? Gewiß.«
»Ich … ich habe es überwunden.« Prinz ließ die Klinge aufspringen, daß sie leise im Korb klirrte. Die blutigen Flecken auf Brust und Schultern breiteten sich im Grau aus, verschwammen und zitterten ins Dunkel hinüber.
Der Freund sah den schmalen, schwarzen Streifen der Klinge von der Hand Hamlets ausgehen, wie einen ins Ungewisse gerichteten Willen. »Wie lange ist das schon her?«
»Du bist glücklich, daß du nicht die Jahre zählen mußtest. Fünf Jahre Verbannung von dem Besten und Höchsten meiner Kraft.«
»Ich kann es mir denken, daß dir jede Wiederholung auch alles Entsetzen von damals hätte furchtbar zurückbringen müssen.«
»Eine Laune, mein Lieber, eine Laune. Oder glaubst du vielleicht, mein Gewissen … Willst du vielleicht sagen, daß mehr als ein unglücklicher Zufall …«
»Aber … aber, Prinz! Du scheinst noch immer nicht ganz überwunden zu haben. Deine Aufregung damals hat deine Nerven stark mitgenommen.«
»Ja, es war furchtbar, als er so vor mir lag. Blut an seinem Wams und mein Degen voll Blut. Kein Theatertod, von dem man sich erhebt, um sich dem Beifall des Publikums lächelnd zu verbeugen, sondern der wirkliche Tod. Noch ein paar Zuckungen und Krämpfe und dann taub für das Klatschen. Dieses Klatschen war furchtbar. Sie wußten nichts und glaubten an einen Triumph der Schauspielkunst. Fortinbras mußte die Worte finden, die uns anderen erstarrt waren.«
Die Wirtin brachte die Lampe, froh, einen Vorwand gefunden zu haben, um zu Prinz vorzudringen. Aber ihre Liebenswürdigkeiten und die erhöhte Farbigkeit ihres Gesichts gewannen keine Beachtung. Als sie schmollend gegangen war, legte Hamlet den Degen auf den Tisch. »Ein Zufall, Freund, ein unglücklicher Zufall. Ein Versehen des Requisiteurs und der Tod stand unter uns. Ich schwöre dir, ein Zufall.«
»Es zweifelt niemand daran.«
»Seitdem trage ich meine eigenen Waffen, von denen ich weiß, daß sie stumpf und unschädlich sind.« Er bohrte die Spitze des Degens gegen die Handfläche, als wollte er einen Richter von seiner Unschuld überzeugen. »Und doch … wenn sich auf der Bühne die Klingen kreuzen, so zittere ich und meine Fechterkünste sind nicht besser als die irgendeines Statisten.«
»Ich habe es bemerkt.«
»Hast du es bemerkt? Nicht wahr! Vielleicht hat es auch das Publikum bemerkt. Und überhaupt, weißt du, ich fühle mich seitdem nicht mehr voll. Die Kritik schont mich nur. Aber ich will kein Almosen des Beifalls. Wenn ich den Hamlet wieder gespielt habe, bin ich frei. Ich muß wieder einem Laertes gegenübertreten, ich muß ihn sich erheben und lächeln sehen, weißt du, dann habe ich dieses greuliche Gespenst besiegt.«
Er wuchs zu voller Schlankheit empor und fiel aus einer raschen Fechterstellung mit einigen Stößen aus, die einen körperlosen Feind durchbohrten. Dann sank der Degen wie in Verzweiflung am Sieg. »Du warst … nicht wahr, du warst doch damals meist um mich? Als ich im Nervenfieber lag. Was habe ich in meinen Delirien gesprochen? Ich meine, woraus setzten sich meine Fantasien zusammen?«
»Bruchstücke aus Hamlet zumeist. Von Ophelia kam viel vor und auch von Laertes. Du nanntest sie mit ihren bürgerlichen Namen und warfst die Beziehungen durcheinander. Ein wenig Wirklichkeit war auch dabei, denn ich denke, das Gerücht von deinem Verhältnis mit der Witte hatte doch recht.«
»Unsinn!«
»Also nicht? Ich dachte, weil sie doch gleich nachher mit Pönale aus dem Engagement ging. Man sprach davon, und einige wollten wissen, daß es zwischen euch wegen des Laertes-Tiefenbach einen großen Krach gab.«
»Unsinn! Unsinn!«
»Es scheint dich aber doch beunruhigt zu haben. Du sprachst … freilich waren das Fieberideen.«
»Nichts als Fieberideen. Mein Gehirn nahm auf, was es davon fand und mengte alles durcheinander. Ich danke dir … aber du sprichst nicht davon, überhaupt ist es am besten, wenn wir nicht mehr davon sprechen. Komm, Geist meines Vaters, wir wollen gehen und Dämon Alkohol beschwören.«
Sie rüsteten sich, gingen an der feierlich bemalten Wirtin vorbei, großartig wie Könige und verschlossen wie Verschwörer und zitierten im Hinterzimmer der ›Blauen Affengattin‹ den Dämon Alkohol.
Die Proben zu ›Hamlet‹ wurden diesmal sehr gründlich genommen. Prinz, der mit zusammengebissenen Lippen, bleich und entschlossen auf der Bühne stand, wehrte sich gegen jeden Schlendrian und alles zitterte davor, einen zweiten solchen Ausbruch zu erleben, wie bei der ersten Probe. Er hatte einen nachlässigen Statisten gepackt und mit zwei Ohrfeigen in die Kulissen geworfen, daß er winselnd zu den Füßen des Polonius niederstürzte. Der Statist hatte nun den rauhen Hamlet geklagt, aber die anderen hüteten sich doch, durch die Unarten der Proben seinen Zorn aufzurufen. Fast unheimlich, regungslos wie der steinerne Gast stand Prinz unter den in ihrer Stimmung sehr gedrückten Kollegen, und die leichten Witze schlichen gebunden in den dunkeln Winkeln umher. Vor seinem unerbittlichen Gesicht zerbrachen die immer bereiten Scherze in armselige Worte voller Bescheidenheit und Angst, als ob hier etwas vor ihnen stünde, dessen Bedeutsamkeit weit über allem Schein der Bühne wäre.
»Wie einer, der seine eigenen Totenspiele inszeniert«, flüsterte König Claudius dem Gustav Rietschi zu, der den Geist von Hamlets Vater zu mimen hatte. Der junge Darsteller des Laertes, der erst zwei Jahre im Engagement war, wagte die gefährliche Frage nach dem Unfall seines Vorgängers. An Rietschis Schweigsamkeit prallte seine Neugierde ab und er mußte sich mit dem begnügen, was ihm König Claudius nachmittags beim Tarockspiel an unzusammenhängenden Gerüchtfragmenten, barocken Bruchstücken, gewagten Vermutungen und boshaften Anspielungen mitteilen konnte. Was er da hörte, regte ihn auf, und er empfand prickelnd die lüsterne Sensation, an eine Stelle zu treten, die vom Tod verflucht und geweiht war. Prinz kleidete sich für seine Fantasie in den Panzer des Sonderbaren und Geheimnisvollen, und aus dem einen geflüsterten Wort stiegen ihm die köstlichen Wonnen furchtsamen Abscheues auf. Zwischen zwei Runden hatte sich König Claudius weit vorgeneigt, damit es Güldenstern, der Kiebitz, nicht hören könne: »Man spricht, aber du wirst davon den Mund halten, daß das damals nicht Zufall war, sondern … na, also Absicht, weil der Tiefenbach mit der damaligen Ophelia …« Ein kräftig angesagter Pagatultimo brachte König Claudius auf andere Gleise, und der junge Laertes mußte sich selbst in den Zauberwald der Möglichkeiten auf die Suche begeben. Sein Eifer und seine nervöse Anspannung stiegen, je wunderbarer ihm das Erlebnis erschien, mit einem Mörder die Klingen kreuzen zu sollen. Diese Vorstellung lockte ihn an wie ein Abgrund, und er kam sich so interessant vor, wie der Bändiger einer ungeheuren Gefahr, die unfaßbar und deshalb um so größer und schöner ist. Er war darum ganz außer sich und zweifelte an der göttlichen Gerechtigkeit, als er am Tag vor der Aufführung die Anzeichen einer schweren Influenza fühlte. Trotzdem er einen Teil seiner Monatsgage in Kognak anlegte, zwang ihn das Fieber nachmittags ins Bett, und der Arzt nahm ihm alle Aussicht auf das große Erlebnis des morgigen Abends.
Der Direktor und der Theatersekretär waren nicht weniger verzweifelt, fluchten auf das schlechte Wetter, das den Spielplan gar nicht beachte und griffen gleichfalls zum Kognak. Beim fünften Glas machte der Sekretär den Vorschlag, den Laertes durch einen minderen Darsteller zu besetzen. Aber der Direktor fuchtelte ihm seine Gegengründe vor das Gesicht: nie … nie … nie würde Prinz eine Besetzung durch eine minderwertige Kraft zugeben. »Er will sich doch gewissermaßen rehabilitieren. Glänzend einführen und alles zeigen, was er kann. Das ist einfach unmöglich.« Beim siebenten Glas endlich erstrahlte der Ausweg in wunderbarer Helle. »Hildemann aus Prag als Aushilfe«, schrie der Sekretär und erhob sich halb von seinem Samtfauteuil, und »Hildemann aus Prag«, donnerte der Direktor.
Sie brachten ihren Vorschlag vor Prinz, und er nickte mit der düsteren Miene Hamlets Gewährung.
»Hildemann aus Prag ist gut«, sagte Gustav Rietschi und beschwichtigte den Freund, den der Wechsel doch unruhig machte. »Mit Hildemann brauchst du keine Probe, der ist fest und hat schon mit den besten Leuten gespielt, verlaß dich auf ihn.« Hildemann sagte zu und versprach zur rechten Zeit, noch kurz vor der Vorstellung – früher war es ihm einfach unmöglich – einzutreffen. Für Prinz war dieser Tag der Aufführung voll kochender Unruhe.
»Ich hätte doch gerne noch mit ihm geprobt«, sagte er abends zum Garderobier, als er den Degen umhängte. Dann schritt er auf der dunklen Bühne auf und ab und sah in das leere Haus, immer wieder zu dem in die Schleier des Geistes gehüllten Freund zurückkehrend. »Ich bin sehr aufgeregt, ich bitte dich, verlaß mich nicht.«
»Kein Wunder, wenn du heute Lampenfieber hast …«
»Lampenfieber? … Fast möchte ich sagen Angst … Weiß der Teufel … ist Hildemann schon hier?«
»Ich weiß es nicht. Aber er ist gewiß schon hier.«
Und Prinz wanderte weiter auf der noch mit allem Grauen des Unlebendigen erfüllten Bühne, vom Vorhang zum Rande der Schloßterrasse von Helsingör und wieder zurück, als ob er mit seinen Schritten die Qual der Einsamkeit zerreißen wollte. Die Wachen zogen auf und lehnten die Hellebarden an die gemalten Türme, um sich noch die Stiefel hochzuziehen und die Halskrausen zurechtzumachen, und Hamlet erschauerte vor ihren Schatten, als ob sie aus einer fremden, unbegriffenen Welt über die Bühne kröchen. Aus dem lebhaften, gefüllten Haus, aus dem mit Erwartungen versammelten Publikum kam ihm diesmal keine Zuversicht, und er wagte nicht einer Unruhe nachzufragen, die hinter den Kulissen jemanden zu vermissen schien.
Das Zeichen zum Beginn riß ihn empor, und mit einem plötzlichen Erschrecken begann er das nun Unwiderrufliche zu bedauern. Die Frage, warum er sich auf dieses grausame Spiel voll unbehaglicher Erinnerungen, voll blutiger Gestalten eingelassen habe, bestürmte ihn, und er hoffte nun, den Sinn des verzweifelten Hin und Her im Hintergrunde der Bühne im Ausbleiben Hildemanns zu finden. Dann war die Aufführung unmöglich, mußte im letzten Augenblick abgesagt werden, und aus allen Ängsten führte für ihn ein Weg der Rettung. Aber nach seiner ersten Szene erwartete ihn ein Schatten und trat auf ihn zu.
»Herr Hildemann?«
»Herr Prinz?«
Hamlets Vater scherzte über die Verspätung.
»Oh, ich bin zuverlässig. Wenn ich zugesagt habe, so komme ich sicher.«
»Wollen wir nicht rasch die letzte Szene probieren.«
»Das Gefecht? Es ist nicht nötig. Sie fechten gut, und Sie sollen sehen, daß ich ein tüchtiger Gegner bin. Wir wollen es schon machen …«
Laertes nahm Abschied von Polonius und Ophelia. Seine Warnung vor Hamlet war trocken und geschäftsmäßig und doch seltsam erregend. Dann verschwand er, und als ihn Hamlet, der von einer schreckhaften Unruhe umhergetrieben wurde, suchen wollte, war er nicht zu finden, als wäre er wirklich jenseits eines unüberbrückbaren Meeres. Zitternd lag seine Seele in der Szene mit dem Geist seines Vaters auf den Knien. Das unerklärliche und Gespenstige des so vertrauten Vorganges wirkte wie Gift auf sein Blut, bis er mit Flimmern in den Augen und Sausen vor den Ohren am Ende fast zusammenbrach.
Im Publikum antworteten Schauer der Ahnung auf die in die Grenzen der Kunst gezwungene Angst Hamlets. Man fühlte sich vor der Offenbarung mystischer Ereignisse, vor einer seltsamen Symbiose von Schauspiel und Wirklichkeit und schrieb alle Erregung der unvergleichlichen Künstlerschaft des Darstellers zu.
Hamlet erschien an der Rampe und verneigte sich, totenblaß und mit zuckenden Händen vor dem begeisterten Haus. Dann jagte er wieder Hildemann nach, ohne ihn finden zu können. Rietschi hatte die Schleier des Geistes zurückgestreift und sah aus wie ein Beduinenhäuptling. Er wollte dem Freund durch seinen Händedruck von den kühlen Schätzen seiner Ruhe geben. Aber Prinz faßte ihn und riß ihn fast um: »Hörst du, hörst du, das ist gar nicht Hildemann …«
»Na, erlaube, wer sollte das denn sein …«
»Hildemann ist’s nicht. Ich kenne ihn nach den Bildern …«
»Und ich kenne ihn persönlich und sage dir, es ist Hildemann …«
»Merkst du denn nicht, Mensch, um Gottes willen, wie sich unter seinem Gesicht ein zweites immer vorschieben will. Es ist, als ob er zwei Schichten übereinander hätte. Ein Gesicht kämpft mit dem anderen und drängt es zurück … aber es wird ausbrechen können …«
»Hast du vielleicht aus Angst vor der Influenza zu viel Kognak …«
»Um Gottes willen! Sieht denn das niemand? … sieht denn das niemand, daß er mich haßt. In der Szene mit Ophelia … wie er mit den Zähnen knirschte und mit den Augen rollte, als er von Hamlet sprach. Das ist nicht Spiel, das ist echter Haß … jenseits aller Maske … Und wo ist er, wo steckt er? Ich will ihn zur Rede stellen.«
»Willem, fall nit von’s Jerüst.«
»Mach keine Späße. Ich bitte dich, verlaß mich nicht … bleib in meiner Nähe. Immer in meiner Nähe. Ich will dir etwas Schreckliches sagen … ich … ich fürchte mich.«
Rietschi begann zu besorgen, daß die Vorstellung mit einer Absage endigen werde und verstärkte alle suggestiven Kräfte seiner Freundschaft. Zwischen stumpfsinnigem Brüten, einer verlorenen Gleichgültigkeit, einem hastigen Aufzucken und einer unsteten Reizbarkeit ging die Darstellung des Hamlet weiter. Er gab das Schauspiel eines Verurteilten, der sich vor der Vernichtung in sich verkriecht und dann wieder mit den Fäusten gegen die Wände schlägt. Der Monolog über Sein oder Nichtsein schwankte zwischen melancholischer Teilnahmslosigkeit und furchtbaren Ausbrüchen; die letzten Sätze kamen mühsam und undeutlich hervor, während die Zähne die Lippen zerbissen, daß nach den letzten Worten zwei dünne Blutstrahlen über das nackte Kinn rieselten. So grausam hatte noch nie jemand gelacht, so klirrend und spitz war noch nie der Hohn der Bühne gewesen, eine ganze Sammlung von fein ausgeklügelten Folterinstrumenten, und das Publikum jubelte und konnte sich vor Entzücken nicht fassen. Es fühlte sich mitgerissen, selbst daran beteiligt und empfand die Qualen dieses Gehirns wollüstig an sich, wie das Knirschen der Säge in den Operationssälen angenehm durch die eigenen Knochen geht.
Der Theaterarzt kam im Zwischenakt auf die Bühne und fing Hamlet in einer Ecke ein: »Sie reiben sich auf. Was treiben Sie heute?« Aber Prinz lachte, stieß den Arzt grob von sich und rannte, von seinem verzweifelten Freund begleitet, fort, um Hildemann zu suchen. Seine Angst wirkte auf die übrigen Darsteller, und die Vorstellung begann sich über den Schein der Bühne zur Ahnung gräßlicher Bedeutsamkeit zu erheben. In alle Tiefen durchwühlt, zitterte die Dichtung, und die Schauspieler sahen sich in den Zwischenakten an, als ob sie nun den eigentlichen Sinn aller dieser Vorgänge erfahren müßten.
»Suchen Sie, suchen Sie«, schrie Hamlet dem Inspizienten, dem Regisseur, den Garderobieren zu, und alle suchten den verschwundenen Laertes.
Als die Szene seiner Rückkehr im vierten Akt kam, war er plötzlich da, betrat die Bühne und fügte sich kalt und steinern in das Spiel, als ob er nicht bemerkte, daß die übrigen sich fürchteten, nahe bei ihm zu stehen. Er besprach mit König Claudius den Mord Hamlets und blieb ruhig und sicher, nur wie von einer heimlichen Freude belebt, als ob sich etwas lang Ersehntes nun endlich unabwendbar erfüllen müßte. Hamlet hörte hinter der Szene, schwer auf den Freund gestützt, alle Heimlichkeiten des Anschlages gespannt an, und es schien, daß er sie wie neue und unerwartete Nachrichten in sich überwinden müsse. Seine Unruhe wurde von einer großen Schwere erdrückt und erstarrte von einem trägen, drohenden Koloß, der aus kleinen, grausamen Augen blinzelt. Aber die Handlung strömte unaufhaltsam weiter und riß über alle Verzögerungen hinweg, die Hamlet im Zwischenakt zu erfinden suchte. Man verlängerte die Pause, und er genoß sie wie eine Gnadenfrist, stumm mit dem Freund zwischen den Gräbern auf und ab wandernd, die man für die nächste Szene aufwarf.
Auf dem Friedhof, am Grabe der Ophelia stießen Hamlet und Laertes aufeinander. Es war ein Anprall, der das Publikum erschütterte, und grauenvoll ernst entspann sich das Ringen in dem offenen Grabe, ein Kampf, dem Hamlet mit leeren Augen und wankenden Knien entkam.
Den Beifall des Hauses drückte die Angst, und nur Laertes erschien auf der Bühne, mit langen, seltsam schlenkernden Armen und einem Lächeln, das so durchaus unpassend und wirrend schien, während Hamlet hinter der Szene den Freund umklammert hielt.
»Das ist der Tod« – er keuchte – »das ist der Tod.«
»Unsinn; halt aus, dann ist’s zu Ende.«
»Es ist zu Ende … ja, denn das ist der Tod. Er hatte mich gefaßt und ließ mich noch einmal los. Hast du nicht gesehen, wie sein anderes Gesicht auftauchte, und als er mich preßte, spürte ich … ich spürte … er atmet nicht. Er atmet nicht, Mensch!«
»Du mußt nachher gleich ins Bett. Du hast Fieber. Es hat dich zu sehr angegriffen. Die Erinnerung ist noch zu stark …«
»Sie ist wieder lebendig geworden, sie bringt mich um. Dieser Laertes wird mich töten. Ich will nicht mehr hinaus …«
Der Direktor und der Regisseur bekämpften seinen Widerstand, zerbrachen ihn und jagten Hamlet hinaus.
»Herr Prinz!« rief der Inspizient.
»Gleich.« Er packte den Freund bei der Schulter und riß sein Gesicht zu sich. »Ich muß dir’s sagen, bevor ich gehe. Einer muß es wissen. Du! Das damals war kein Zufall. Es war Absicht … Mord. Laertes ist ermordet worden, ich habe ihn umgebracht.«
»Herr Prinz!!«
»Ich komme.« Und Hamlet trat zu Horatio in die Halle des Kampfspieles. Laertes stand in der Nähe, irgendwo zwischen den Kulissen auf sein Stichwort wartend. Man sah ihn nicht, aber man wußte, daß er hier war und daß ihn nichts hindern würde, die Bühne zu betreten. Von der Angst des Freundes und seinem Geständnis verwirrt, wagte Rietschi nicht, ihn zu suchen und sah nur, wie sich die Vorgänge der Bühne hinschleppten, wie die Worte Hamlets zögernd und um kleine Aufenthalte bemüht, folgten. König Claudius setzte seine ausdrucksvollen, aufgeregten Gebärden fast in das Gesicht des Theaterarztes, dann riß auch ihn der Wirbel der Handlung hinaus, wo eine seltsame Spannung zitterte und auf ihre Erlösung wartete.
Hinter Rietschi machten zwei Feuerwehrleute halblaute Bemerkungen: »Der Hamlet, der spielt heut, das is a Pracht.«
»Jo, der spüllt … wie auf Tod und Leben.«
Plötzlich stand Laertes unter den Personen der Szene. Rietschi sah, wie sich alles ihm zuwandte, zugleich angezogen und abgestoßen und wie sie sich dann alle unwillkürlich um Hamlet als um einen entgegengesetzten Pol zu sammeln suchten. Das Gefüge des Dramas schwankte, wie ein vom Sturm berannter Turm, ohne Gefahr des Sturzes, aber genügend, um das Zitternd des Baues zu fühlen. Laertes stand unter den Höflingen, schlank, geschmeidig, lächelnd, und es schien Rietschi nun selbst, als ob dies nicht Hildemann sein könne. Er spielte verheißungsvoll mit der Klinge und zwang ihre Geschmeidigkeit zu tollen Linien, die einen Augenblick wie Zeichen in der Luft standen.
Der Kampf begann. Die Klingen fanden und banden sich, zischten wie Schlangen und begegneten sich in wilden Stößen und Paraden. Sie waren rasch und heimtückisch, lauernd und brutal, belebte Wesen, die am Rande eines Abgrundes miteinander ringen. Der Kampf zog sich in die Länge, weit über die Dauer eines bloßen Spieles hinaus, und während der Regisseur verzweifelt auf Fortinbras einsprach, sah Rietschi entsetzt, daß sich Hamlet im Ernst zu wehren hatte und daß ihn Laertes mit einem tollen Feuer von Stößen bedrängte. Um diesen Kampf bildeten sich Gruppen von Zuschauern, die der unbesonnenen Mimik wirklicher Angst folgten, und selbst die Massen der Statisten belebten sich.
Da sah Rietschi, daß Laertes mit einem Doppelstoß Hamlets Brust berührte und daß er die Klinge lächelnd und langsam zurückzog. Hamlet stürzte, bäumte sich auf, griff nach dem Hals und fiel zurück. Er langte mit krampfigen Fingern nach dem Kleide der Königin und wälzte sich röchelnd zur Seite.
»Vorhang, Vorhang!« schrie der Regisseur, der Theaterarzt rannte Rietschi fast um und drängte sich zu dem Gefallenen. Während der Regisseur vor dem Vorhang in das unruhige Murmeln des Publikums von einem kleinen, bedauerlichen Unfall sprach und um geordnetes Verlassen des Hauses bat, untersuchte der Arzt den Körper des Verunglückten.
Hamlet war tot.
»Laertes, Laertes … wo ist Hildemann?« schrie der Direktor, und der Polizeikommissär rannte davon, um ihn zu suchen. Aber Laertes war verschwunden.
Ein Postbote durchbrach den Kreis der kreischenden Frauen und verstummten Männer mit einem Telegramm an den Direktor. Es enthielt eine sonderbare Nachricht. Der Zug, mit dem Hildemann zur Abendvorstellung eintreffen wollte, war auf halbem Wege durch einen Schienenbruch verunglückt. Es gab zwei Tote und einige Schwerverletzte. Und sobald in der nächsten Bahnstation die Identität der Verunglückten festgestellt worden war, hatte sich der Stationsvorstand beeilt, die Direktion davon zu verständigen, daß man das Ausbleiben Hildemanns durch seinen Tod entschuldigen müsse.