Die Nacht von
Pentonville
von
Jean Ray
Der flämische Fantast Jean Ray (1887-1964) ist eine von Legenden umwobene Gestalt, die meist seine Leser erfanden und denen er nicht widersprach. Die wenigsten stimmten, und schon gar nicht jene, derzufolge Ray, der eigentlich Raymundus Johannes Maria de Kremer hieß, einen Großteil seines Lebens als Abenteurer, Schmuggler und Pirat verbracht hat. In Wirklichkeit fristete er sein Leben zunächst als Angestellter der Stadtverwaltung von Gent und arbeitete später als freier Journalist. Eine seiner ersten Gruselgeschichten erschien 1919 in der Filmzeitschrift ›Cinemablad‹. Der erste Band mit fantastischen Erzählungen, ›Les contes du whisky‹, wurde 1925 publiziert. Danach erschienen Jahr für Jahr Erzählbände und Romane, die er in französischer Sprache schrieb. Jean Ray hat ein umfangreiches literarisches Oeuvre hinterlassen, von dem in Deutschland nur sehr wenig übersetzt vorliegt, obwohl seine Bücher äußerst erfolgreich waren und Meisterwerke der fantastischen Literatur sind.
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Die Behörden sorgten dafür, die geheimnisvollen Umstände, unter denen Richter und Henker ums Leben kamen, zu vertuschen.
Wir kennen aber die Namen mehrerer Richter, die Todesurteile ausgesprochen haben und deren Ende von grauenhalten Visionen begleitet war.
Catherine Crowe (Die dunkle Seite der Natur)
Rock Smitherson blickte an der Ecke Westbourne Road – Barbara Street auf seine Uhr und stellte erfreut fest, daß er noch eine halbe Stunde Zeit hatte, ehe er wieder in die Tretmühle mußte.
Das rote Fenster einer Kneipe leuchtete in der regnerischen Nacht: er warf einen argwöhnischen Blick rund um sich, denn die Vorschriften untersagten ihm, die Tavernen in der Nähe des Schauplatzes seiner täglichen Aufgabe zu besuchen.
»Dog-nose?« schlug der Schankwirt, ein dicker, pausbäckiger Mann mit Hängeschnurrbart vor. »Das ist das Richtige an einem solchen Abend.«
»Dog-nose«, antwortete Smitherson zustimmend.
Der Dicke maß sorgfältig den Gin, den Zucker und das heiße Wasser ab.
»Morgen ist es also soweit?«
»Um acht. Um acht Uhr zehn kommt der Anschlag hinaus, mehr als zehn Minuten früher als drüben in Newgate.«
»Hilary Channing?« fragte der Wirt, indem er nun für sich ein Glas Gin pur eingoß.
»Tatsächlich, so heißt er … He, Cuffy, noch ein Glas, und dann füllen Sie mein flaches Fläschchen mit Ihrer Medizin. Es ist gegen die Vorschrift, aber es tut ja jeder. Das geht einem schon an die Nerven, wenn man sie so früh sterben sieht.«
»Zwanzig, ein-, zweiundzwanzig Jahre, wie?« fragte Cuffy.
»Einundzwanzig genau. Einer von meinen eigenen Jungs ist kaum älter; nun, verstehen Sie, das greift einem ans Herz, und er sieht auch gar nicht bösartig aus. Blond wie reifes Korn und Augen wie’n junges Mädchen; wirklich ein Jammer!« Cuffy nickte schweigend und langsam mit seinem großen Kopf.
»Und wenn man bedenkt, daß ihm sein Verbrechen alles in allem ein Pfund zwei Shilling und eine kleine Damenuhr eingebracht hat, die er im Leihhaus für eine halbe Krone verpfändet hat! Lausig!«
»Eine alte Straßenhändlerin, die ja doch noch vor Jahresende gestorben wäre, so schwindsüchtig war sie, schreiben die Zeitungen«, fügte Cuffy hinzu.
»Und den hochtrabenden Beinamen ›Mustergefängnis‹ setzt man uns etwas zu oft vor«, knurrte Smitherson, seinem eigenen Gedankengang folgend. »Wenn es wirklich das wäre, müßte man Jack Ketch draußen lassen mit dem ausdrücklichen Befehl, seine Knoten in Gefängnissen zu machen, die keine Musterbeispiele sind. Es ist schändlich! Muster … Pah, die Kalkmilch und das Phenol, das man drinnen tonnenweise verbraucht, hindern nicht, daß es so schwarz und dreckig ist wie die anderen, nur ein bißchen übermalt. Pfui Teufel!«
Rock Smitherson, erster Hilfsaufseher im Mustergefängnis Pentonville, haßte seinen Beruf nicht mehr als seine Kollegen, aber an den schrecklichen Abenden vor Hinrichtungen empörte es ihn, einen gefesselten Menschen sterben sehen zu müssen, dem niemand in seiner höchsten Not zu Hilfe kommen würde, sogar wenn die arme, einem schmachvollen Tod bestimmte Kreatur ein Spitzbube war, der das Leben seines Nächsten geringgeachtet hatte.
»Der Herr hat gesagt: du sollst nicht töten!« schloß der Aufseher, den ein dritter und letzter Grog mit Wacholderschnaps noch empfindsamer gemacht hatte.
Er ging in flinkem Tempo durch die Bride Street, denn die halbstündige Galgenfrist war beinahe zu Ende.
Am Straßenende, wo die Roman Road beginnt und sich ausweitet, verdeckt die riesige Gefängnismauer den Himmel, an der nur die spärlichen Funzeln des Rundgangs sichtbar waren.
»Oh! Verzeihen Sie, Sir, ich hatte Sie nicht kommen sehen!« entschuldigte sich Smitherson. Er wäre fast mit einem Mann in dunklem Umhang, mit einem breitkrempigen Hut zusammengestoßen, der plötzlich vor ihm auftauchte. Der Fußgänger trat wortlos zur Seite, kam jedoch dabei in die hell erleuchtete Zone eines der hohen elektrischen Lichtmaste.
Rock sah ein längliches, schmales und blasses Antlitz, in dem große, tiefliegende Augen dunkle Höhlen bildeten.
»Zum Teufel!« brummte er, »ein wenig einnehmendes Gesicht!«
Er wandte den Kopf und blickte der hohen Silhouette nach, die rasch in der Nacht verschwand.
»Hmm!« murmelte er, »mir scheint doch, den kenne ich, nur war er sonst weniger häßlich.«
Er ging zum Aufsehereingang und drückte auf eine Klingel.
Im vergitterten Viereck eines Gucklochs erschien ein Kopf.
»Aufseher Smitherson! … Ich öffne sogleich!«
Die Schlüssel klirrten, das laute Klicken der Schlösser hallte von der Tür zurück.
»Guten Abend, Clevens. Drei Minuten zu früh, soviel ich sehe. Mehr als genug.«
Smitherson betätigte den Hebel der Stechuhr, stempelte eine Karte und seufzte erleichtert: die Direktion duldete keine einzige Minute Verspätung.
»Sagen Sie, Herr Aufseher …«
Clevens zögerte sichtlich; er war grauhaarig und sah, trotz der dunklen, strengen Uniform, sanft und schüchtern aus.
»Was gibt es Neues, mein Lieber?«
»Haben Sie nicht zufällig … äh, einen Witzbold gesehen, der zum Spaß klingelte und mir, als ich das Guckloch öffnete, ins Gesicht lachte?«
»Niemand«, antwortete Smitherson. »Die Straße war leer, übrigens ist sie um diese Zeit nie sehr belebt. Doch, warten Sie … Unter dem ersten Lichtmast bin ich fast in einen Kerl hineingelaufen, der nicht gerade besonders höflich war …«
»Mit einem großen schwarzen Schlapphut …«
»Das war er!«
Clevens zögerte immer noch; er kratzte sich verlegen am Kinn.
»Er sagte: ›Morgen ist es soweit, nicht wahr, du Menschenschlächter?‹ Ich schlug ihm das Guckloch vor der Nase zu, die ist bei ihm so scharf wie ein Messer, aber ich hörte ihn rufen: ›Um acht Uhr, wie? … genau wie bei mir!‹«
»Bei allen Heiligen!« fluchte Rock. »Hat er das gesagt?«
Clevens kam näher und hauchte:
»Und … und … Herr Aufseher, hatten Sie nicht den Eindruck, ihn zu kennen?«
»Nein«, sagte Smitherson. »… obwohl eigentlich …« Er ahmte automatisch die Geste des Pförtners nach und kratzte sich mit seinen kurzen dicken Nägeln am Kinn. »Tatsächlich schien mir sein Gesicht nicht ganz unbekannt. Es erinnerte mich an jemand …«
»Der hier bei uns war, nicht wahr, Herr Aufseher? Oh, ich bin ja so froh, daß ich bald in den Ruhestand trete. Noch drei Monate, dann fahre ich zurück in die Midlands. Denn ich sag’ es Ihnen, Rock Smitherson, sie kommen wieder …«
»Clevens«, sagte der andere fast flehend, »wenn man in der Direktion erfährt, daß Sie derlei Dinge sagen …«
Der Alte brach in leises bitteres Lachen aus.
»Die können mir nichts anhaben, das sag’ ich Ihnen nochmals; in drei Monaten nehme ich meinen Hut, und dann bekomme ich mein Ruhegehalt. Sie kommen wieder, Smitherson, alle, alle! Ich trage diese Uniform seit vierzig Jahren. Mit zweiundzwanzig hab’ ich sie im Gefängnis von Hull zum erstenmal angezogen. Dann war ich in Liverpool, später kam ich nach London, dann war ich in Newgate, in Reading, und schließlich zum Ende meiner Laufbahn im Mustergefängnis Pentonville. Ich weiß, was ich sage, und die anderen wissen es so gut wie ich, aber sie wagen es nicht zu sagen, weil es die Direktion verbietet. Hören Sie, Rock Smitherson, Sie haben bald dreißig Dienstjahre. Sie sind also weder ein Anfänger noch ein Stümper in dem Beruf. Nun, wagen Sie es zu leugnen? Kommen sie wieder, ja oder nein?«
»Ach, Clevens«, stöhnte der Aufseher, »warum sagen Sie das? Es ist nicht gut, davon zu reden. Keiner tut es hier … Jeder schweigt von diesem Thema, auch die etwas wissen oder zu wissen glauben.«
»Der dort«, fuhr der Alte fort, als ob er nicht gehört hätte, und zeigte mit seinem dünnen faltigen Finger zu dem Guckloch:
»Der heutige, den kenne ich. Ich hatte Wache in seiner Zelle. Ja, ja, in der Zelle 8A, in der Sie heute nacht neben Hilary Channing schlafen werden.«
»Genug!« schrie Smitherson, bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu verleihen.
»Vor sieben Jahren … vielleicht sind es schon acht«, fuhr Clevens unerbittlich fort. »Hat man denn hier überhaupt einen wahren Begriff von der Zeit – wo doch nur Leid- und Todesstunden schlagen? Sieben Jahre oder acht, ist ja unwichtig. Seinen Namen kenne ich nicht, und ich bezweifle sogar, ob ich ihn überhaupt gekannt habe. Sie ähneln einander so stark, die Männer, die hier am frühen Morgen auf diese Weise sterben, mit der schwarzen Kapuze über dem Kopf! Aber dieser hatte nicht ganz das gleiche Gesicht wie die anderen. An ihm war alles ungeheuer: seine Statur, sein Gesicht, seine Augen, ja besonders seine Augen.«
Rock war geschlagen. Es fiel ihm schwer, von Dingen reden zu müssen, die gemäß einem stillen Übereinkommen von allen mit Schweigen übergangen wurden; heute jedoch schien es ihm, als befreie er seine Schultern, indem er dem alten Pförtner plötzlich zustimmte, von einer allzu schweren Last.
»Es ist wahr«, sagte er, »sie kommen alle wieder, und den habe ich ganz deutlich erkannt!«
»Ein gebildeter Junge«, sagte Clevens. »Hier verblüffte er alle durch sein Wissen.«
»Er hieß Brown, besser gesagt, er ließ sich so nennen«, sagte nun Smitherson, »denn das war ein falscher Name, und niemand gelang es je, seine Identität festzustellen.«
»Erinnern Sie sich, was er zu Pastor Parmington sagte, der ihm in den letzten Wochen beistand? In der Stunde seiner Hinrichtung sagte er ihm: ›Und Sie glauben wohl, daß jetzt alles zu Ende ist?‹«
»Und dabei hat er gelacht«, fügte Rock finster hinzu. »Sein Lachen war donnernd, es hallte durch den Gang, den er durchschritt, ehe er hinkam …«
»Er ist zurückgekommen!« murmelte Clevens. »Er kommt jedesmal in der Nacht vor einer Hinrichtung wieder. Fast als hätte er von Gott weiß welchen schrecklichen Herren einen Auftrag, sie holen zu kommen!«
»Genug!« rief Smitherson. »Jetzt ist es aber genug, Clevens: man könnte wirklich meinen, es macht den Menschen und Dingen Vergnügen, einem in solchen Nächten die Nerven zu zerreißen.«
Er blickte auf den Dienstplan und stieß einen großen Seufzer der Erleichterung aus.
»Wie ich sehe, löst mich Wächter Soames um zwei Uhr im 8A ab; so muß ich den Gefangenen nicht wecken und ihm sagen: »›Fassen Sie Mut!‹ Ah, ist das ein Beruf!«
Er traf Channing in tiefem Schlaf an; er atmete leicht, auf seinen ein wenig geöffneten Lippen lag ein leises Lächeln.
»Einundzwanzig Jahre«, murmelte er. »Was für ein langes und schönes Leben so ein Junge noch vor sich haben könnte, ein Leben voller Freuden. Und in wenigen Stunden wird man ihm ein paar Schaufeln ungelöschten Kalk über das Gesicht schütten … Mein Gott!«
Channing murmelte im Traum einige unverständliche Worte, dann begann er lautlos zu lachen.
»Und Gott weiß, von was für schönen Dingen er noch träumen kann«, setzte Smitherson seinen Monolog fort.
Er konnte in dem Armsessel, den ihm die Direktion für diese tragischen Stunden zuteilte, nicht schlafen, und als Soames ihn ablösen kam, fiel Smitherson eine Last vom Herzen.
Er begab sich schweren Schritts in den Wachraum, wo Feldbetten aufgeschlagen waren und wo er hoffte, doch noch ein wenig Ruhe zu finden.
Als er die Tür des recht angenehm eingerichteten Lokals aufstieß, konnte er nur schwer eine ärgerliche Geste unterdrücken.
Ein dicker Mann saß mit vergnügter Miene am Tisch vor einer riesigen dampfenden Teekanne und begrüßte ihn herzlich.
»Guten Morgen, Smitherson, wie wär’s mit einer Kartenpartie?« schlug er vor und streckte ihm seine gewaltige, behaarte Hand entgegen.
Der Aufseher drückte sie, wischte aber dann seine Hand taktvoll, ohne daß der andere es merkte, an seiner Joppe ab.
»Sie kommen recht früh, Duck«, sagte er.
Der Mann lachte.
»Das letztemal, Smitherson, wäre ich fast zu spät gekommen und hab’ mir allerhand anhören müssen! Also, nun verstehen Sie mich?«
Es war nicht das erstemal, daß Duck, der Henker von Pentonville, sein Kartenpartner war, aber heute vertrug Rock die Anwesenheit des Schandtodesknechts nur schwer: er dachte an das rosige pausbäckige Gesicht Hilary Channings, an seinen weißen Jungmädchenhals und sah, nicht ohne Abscheu, wie Ducks Affenhände die Karten befeuchteten und sorgfältig betasteten, ehe er sie auflegte.
Die Partien wurden schweigend gespielt, denn Duck war ein aufmerksamer Spieler und verlor ungern. Das blieb ihm übrigens erspart, der kleine Pennyhaufen neben ihm auf dem Tisch wurde immer größer.
Plötzlich stellte Smitherson eine Frage, und er sollte sich noch viel später darüber wundern, daß er es getan hatte.
»Duck, erinnern Sie sich an Brown?«
Die Stirn des dicken Mannes runzelte sich; er strengte sein Gedächtnis an.
»Brown? Ach, das will ich meinen! … allerdings gibt es nicht wenige dieses Namens. Ich kenne einen Stallknecht … doch nein, ich nehme an, Sie sprechen von einem einstigen Kunden? Mal sehen!«
Er legte die Karten hin und verabreichte sich einen kräftigen Schlag auf einen seiner dicken Oberschenkel.
»Brown? Ah, natürlich erinnere ich mich an ihn! Der war mein erster Kunde in Pentonville. Ich kam damals von Liverpool. Ein großer Schwarzhaariger, eine wahre Bohnenstange. Ich hatte den Kerl ganz vergessen, übrigens, ich vergesse sie alle. Wenn Sie glauben, ich belaste mein Gedächtnis mit ihren Gesichtern! Warum sprechen Sie von ihm?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Smitherson, dessen Lippen ein wenig bebten. »Eigentlich, weil er Ihr erster hier war …«
»Ich arbeite nun schon seit acht Jahren in diesem Gefängnis«, fuhr Duck fort, »und ich beklage mich nicht, denn an Arbeit hat’s hier noch nie gemangelt. Mit dem nächsten da drüben werden es …«
Er zählte unter Zuhilfenahme seiner dicken spateiförmigen Finger.
»Hol mich der Teufel, wenn ich mich erinnere … dreißig, einunddreißig, vielleicht zweiunddreißig … Nein, jetzt hab’ ich’s, Smitherson, fünfunddreißig!«
Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und schien nachzudenken.
»Fünfunddreißig … Warten Sie, ich habe in Dublin begonnen, wo man nie ohne Arbeit ist, und dort hab’ ich vierzig befördert, dann in Liverpool fünfundzwanzig. Ich bin für runde Zahlen. Aber sieh mal an!« Er blickte auf Smitherson aus weitgeöffneten Augen und brach plötzlich in ein dröhnendes Lachen aus. »Das macht bald hundert … Ein Hunderter! Wie schade, bei Gott, daß es hier kein Bier oder Gin gibt, das müßte man begießen.«
Nun wurde der ganze Mensch von seiner schwerfälligen Heiterkeit geschüttelt.
»Ein Hunderter! Mein Hundertster, ha! … Ist das ein Spaß! Morgen muß ich es den Freunden und vielleicht auch den Zeitungsreportern erzählen. Man wird mein Foto in den Blättern bringen, und ich bekomme eine Prämie! Sieh mal an …«
Duck schien plötzlich nachdenklich zu werden, gewann aber bald seine gute Laune wieder.
»Ich denke an das Weib auf dem Jahrmarkt in Bethnal Green, als ich nach London kam. Bei Gott, ich hatte längst nicht mehr an ihre Hirngespinste gedacht, aber jetzt fallen sie mir wieder ein. Es war eine schmutzige Schwarze aus den Inseln, die dort wahrsagte: ›Sie bringen den Tod‹, sagte sie mir, indem sie die Karten und dann meine Handlinien betrachtete. ›Was du nicht sagst, Alte‹, meinte ich, ›das tue ich – ganz hervorragend.‹ ›Du wirst ihn hundertmal bringen … das heißt, das hundertste Mal bringst du ihn nicht mehr.‹ Nun, es hat sich gehörig geirrt, das Mütterchen, und das wird der drüben bald bezeugen können!
Ich hab’ ihr einen Shilling gegeben, aber sie warf ihn in den Rinnstein und schrie: ›Durch den ersten wirst du den letzten verlieren!‹ Das habe ich natürlich nicht verstanden. Ist doch komisch, Smitherson, daß ich mit meinem schlechten Gedächtnis mich auf einmal an diese längst vergangenen Dinge erinnere.«
Die Glocke im Saal ließ vier dumpfe Schläge ertönen.
»Ich werde jetzt das Gerüst aufbauen«, sagte Duck. »Ich habe genug Zeit vor mir, und ich baue es allein auf, seit ich meine Helfer selbst bezahlen muß; so erspare ich mir eine ganz hübsche Summe.«
Smitherson wäre gern eingeschlafen, doch es gelang ihm nicht.
Er hörte im Wachzimmer die Hammerschläge, mit denen Duck nebenan in dem grausigen kleinen Saal die Querbalken fixierte, und dann das Knarren der Fallklappenhebel, deren einwandfreies Funktionieren er prüfen wollte.
Fünf Uhr.
In einer halben Stunde würde man die Reveille für die Wächter blasen müssen; die für die Gefangenen wurde wegen der Hinrichtung verschoben.
Rock wunderte sich über Ducks Ausbleiben; der erledigte gewöhnlich alles im Handumdrehen.
Er ging zur Todeskammer, da vernahm er ein dumpfes Geräusch. Es schauerte ihn, denn er kannte es nur zu gut: es war das Nachgeben der Fallklappe, gefolgt von dem abscheulichen weichen Aufprallen des Körpers am Ende seines Falles.
Im Geiste sagte er sich, daß das nicht nur einfach das Geräusch einer Fallklappenprobe war …
Die Hinrichtungskammer war leer.
Die Fallklappe stand offen, und ein gespannter, ins Dunkel reichender Strick schwang, langsam und regelmäßig pendelnd, hin und her.
Er beugte sich über das abstoßende, tiefe Loch.
Da sah er Duck … gehängt.
Als Smitherson sich umwandte und einen Alarmschrei ausstieß, sah er, an den Galgenpfosten gelehnt, den Geist Browns, der ihn mit furchtbaren Augen ansah.
Eine gnädige Ohnmacht entzog Smitherson dem Kreis der wenigen Zeugen, die den nun folgenden unerklärlichen Begebenheiten beiwohnten.
Sie werden, nicht ohne Grund, in den Akten von Pentonville nicht erwähnt; im Merkbuch des Direktors läßt sich jedoch das Fehlen von einem halben Dutzend Seiten feststellen, die, sorgfältig herausgeschnitten, angeblich noch im Innenministerium aufbewahrt werden.
Der Pförtner Clevens wurde aus dem Halbschlaf, der ihn gewöhnlich gegen Ende der Nacht überkam, nicht durch Lärm, denn es herrschte völlige Stille, sondern durch ein entsetzliches Angstgefühl gerissen, von dem ihm übel wurde.
»Das Herz«, sagte er. »In meinem Alter …«
Er warf einen Blick in den Korridor und sah einige Schatten, die sich gruppiert in Richtung des zentralen Rundbaus bewegten.
»Teufel«, brummte er, »was geht da vor?«
Später hat Clevens vor allem betont, daß während der schrecklichen Minuten, welche er hilflos, als Gefangener einer übermenschlichen Gestalt, die ihn der Bewegung und der Sprache beraubte, zu durchstehen hatte, eine ungeheure Stille herrschte.
Die zuerst aus undeutlichen Schatten bestehende Gruppe nahm allmählich klare und beängstigende Formen an.
Die einen trugen eine schwarze Kapuze über dem Kopf, die anderen hatten das Gesicht entblößt, und die erkannte er alle; es waren die Männer, die er im Morgengrauen mit einem Strick um den Hals hatte sterben sehen: Skinslop … Rogers … Piochinni … Wang-Su, ein Chinese … Kirby … Ruttermole … O’Neill …
Er nannte im Geist ihre Namen, aber er sah, wie sie sich militärisch in einer Reihe aufstellten; und plötzlich verband er andere Namen mit ihnen, die Namen von lebenden Menschen, welche sich irren Blicks, mit von einer unbeschreiblichen Angst verzerrten Gesichtern unter die Gespenster mischten.
Ja, sie ordneten sich ein, von unsichtbaren Händen an den Schultern geschoben: die Wächter Soames, Thomson, Pritchard, Hackle, der Vizedirektor Fisher und der Richter Hatterley, der als Gast Fishers am folgenden Tag ebenfalls der Hinrichtung beiwohnen sollte.
Getrennt von ihnen durch einen freien Raum von wenigen Metern, gehörten auch sechs zum Tode verurteilte Gefangene, sowie Hilary Channing zu dem geheimnisvollen Zug, der sich bildete.
Im Gegensatz zur ersten Gefangenengruppe trugen diese eine ruhige, ja sogar zufriedene Miene zur Schau. Plötzlich setzte sich der Zug in Bewegung: Menschen und Geister marschierten, wenige Schritte von Clevens entfernt, anscheinend ohne ihn zu sehen, in langsamem Paradeschritt vorbei und bewegten sich dem Hauptgang zu.
Das Gitter, welches beide Teile dieses langen, mit schwarzweißen Fliesen belegten Korridors trennte, ging wie ein Fallgitter hoch; und die Gleitschienen, die normalerweise Klingeln in Bewegung setzten, funktionierten diesmal nicht.
Das große Tor öffnete sich lautlos, und Clevens sah in der Ferne im Nebel verschwommen die Straßenlampen.
Das Tor blieb so lange offen, bis der Zug im Nebel verschwand, dann schloß es sich wieder geräuschlos.
Ganz langsam und allein trat Browns Geist durch den Gang; sein schwarzer Umhang sah aus wie riesige nächtliche Flügel, der breite Hut war tief in die Stirn gedrückt.
Er blieb vor Clevens stehen und sagte:
»Ihr habt Glück, du und Smitherson, daß ihr keine schlechten Menschen seid.«
Der Pförtner sah ihn nicht verschwinden, verspürte aber im nächsten Augenblick einen heftigen Schmerz im ganzen Körper, so als hätte er mit beiden Händen eine Leydener Flasche angefaßt.
Niemals fand man eine Spur der Beamten oder der Gefangenen wieder, die von den Geistern entführt worden waren.
Aber die Gerichtsärzte, die die Leiche des Henkers Duck zu untersuchen hatten, erlebten etwas Bestürzendes.
Die Leiche war mit dem Wagen zum Anatomiesaal nach South-Kensington gebracht worden, und als die Saaldiener sie auf den Seziertisch legten, lösten sich von ihr große Fleischstücke los, die Knochen durchstießen das Gesicht und die Gliedmaßen, und die zerfressene, faulende Masse der Eingeweide wurde sichtbar.
»Eine Leiche, die mehrere Tage in ungelöschtem Kalk gelegen hat«, stellte der Gerichtsarzt Miller fest.
Es verging eine verhältnismäßig lange Zeit, ehe Smitherson und Clevens von der schrecklichen Nacht zu sprechen wagten.
Und auch nur mit leiser Stimme, bei Cufly, dessen dog-nose ihnen Mut machte.
»Im Grunde genommen freue ich mich für Channing«, gestand Rock Smitherson, »und für Duck empfinde ich keinerlei Mitleid.«
»Und die anderen … ich meine die Kollegen, Fisher und der Richter Hatterley, die entführt wurden, waren zugegebenermaßen schlechte Menschen«, erklärte Clevens.
»Wo sie wohl sein mögen?« murmelte Smitherson.
»Besser, man redet nicht mehr darüber.«
Und beide richteten ängstliche Blicke auf die Tür, als erwarteten sie, daß sie im nächsten Augenblick von dem Geist mit dem schwarzen Umhang und dem breiten Hut aufgestoßen würde.