Die Nacht von Penton­ville
von
Jean Ray

 

 

Der flä­mi­sche Fan­tast Jean Ray (1887-1964) ist ei­ne von Le­gen­den um­wo­be­ne Ge­stalt, die meist sei­ne Le­ser er­fan­den und de­nen er nicht wi­der­sprach. Die we­nigs­ten stimm­ten, und schon gar nicht je­ne, der­zu­fol­ge Ray, der ei­gent­lich Ray­mun­dus Jo­han­nes Ma­ria de Kre­mer hieß, einen Groß­teil sei­nes Le­bens als Aben­teu­rer, Schmugg­ler und Pi­rat ver­bracht hat. In Wirk­lich­keit fris­te­te er sein Le­ben zu­nächst als An­ge­stell­ter der Stadt­ver­wal­tung von Gent und ar­bei­te­te spä­ter als frei­er Jour­na­list. Ei­ne sei­ner ers­ten Gru­sel­ge­schich­ten er­schi­en 1919 in der Filmzeit­schrift ›Ci­ne­mab­lad‹. Der ers­te Band mit fan­tas­ti­schen Er­zäh­lun­gen, ›Les con­tes du whis­ky‹, wur­de 1925 pu­bli­ziert. Da­nach er­schie­nen Jahr für Jahr Er­zähl­bän­de und Ro­ma­ne, die er in fran­zö­si­scher Spra­che schrieb. Jean Ray hat ein um­fang­rei­ches li­te­ra­ri­sches Oeu­vre hin­ter­las­sen, von dem in Deutsch­land nur sehr we­nig über­setzt vor­liegt, ob­wohl sei­ne Bü­cher äu­ßerst er­folg­reich wa­ren und Meis­ter­wer­ke der fan­tas­ti­schen Li­te­ra­tur sind.

 

——————————

 

Die Be­hör­den sorg­ten da­für, die ge­heim­nis­vol­len Um­stän­de, un­ter de­nen Rich­ter und Hen­ker ums Le­ben ka­men, zu ver­tu­schen.

Wir ken­nen aber die Na­men meh­re­rer Rich­ter, die To­des­ur­tei­le aus­ge­spro­chen ha­ben und de­ren En­de von grau­en­hal­ten Vi­sio­nen be­glei­tet war.

Ca­the­ri­ne Cro­we (Die dunkle Sei­te der Na­tur)

 

Rock Smit­her­son blick­te an der Ecke West­bour­ne Road – Bar­ba­ra Street auf sei­ne Uhr und stell­te er­freut fest, daß er noch ei­ne hal­be Stun­de Zeit hat­te, ehe er wie­der in die Tret­müh­le muß­te.

Das ro­te Fens­ter ei­ner Knei­pe leuch­te­te in der reg­ne­ri­schen Nacht: er warf einen arg­wöh­ni­schen Blick rund um sich, denn die Vor­schrif­ten un­ter­sag­ten ihm, die Ta­ver­nen in der Nä­he des Schau­plat­zes sei­ner täg­li­chen Auf­ga­be zu be­su­chen.

»Dog-no­se?« schlug der Schank­wirt, ein di­cker, paus­bä­cki­ger Mann mit Hän­ge­schnurr­bart vor. »Das ist das Rich­ti­ge an ei­nem sol­chen Abend.«

»Dog-no­se«, ant­wor­te­te Smit­her­son zu­stim­mend.

Der Di­cke maß sorg­fäl­tig den Gin, den Zu­cker und das hei­ße Was­ser ab.

»Mor­gen ist es al­so so­weit?«

»Um acht. Um acht Uhr zehn kommt der An­schlag hin­aus, mehr als zehn Mi­nu­ten frü­her als drü­ben in Ne­w­ga­te.«

»Hil­ary Chan­ning?« frag­te der Wirt, in­dem er nun für sich ein Glas Gin pur ein­goß.

»Tat­säch­lich, so heißt er … He, Cuffy, noch ein Glas, und dann fül­len Sie mein fla­ches Fläsch­chen mit Ih­rer Me­di­zin. Es ist ge­gen die Vor­schrift, aber es tut ja je­der. Das geht ei­nem schon an die Ner­ven, wenn man sie so früh ster­ben sieht.«

»Zwan­zig, ein-, zwei­und­zwan­zig Jah­re, wie?« frag­te Cuffy.

»Ein­und­zwan­zig ge­nau. Ei­ner von mei­nen ei­ge­nen Jungs ist kaum äl­ter; nun, ver­ste­hen Sie, das greift ei­nem ans Herz, und er sieht auch gar nicht bös­ar­tig aus. Blond wie rei­fes Korn und Au­gen wie’n jun­ges Mäd­chen; wirk­lich ein Jam­mer!« Cuffy nick­te schwei­gend und lang­sam mit sei­nem großen Kopf.

»Und wenn man be­denkt, daß ihm sein Ver­bre­chen alles in al­lem ein Pfund zwei Shil­ling und ei­ne klei­ne Da­men­uhr ein­ge­bracht hat, die er im Leih­haus für ei­ne hal­be Kro­ne ver­pfän­det hat! Lau­sig!«

»Ei­ne al­te Stra­ßen­händ­le­rin, die ja doch noch vor Jah­res­en­de ge­stor­ben wä­re, so schwind­süch­tig war sie, schrei­ben die Zei­tun­gen«, füg­te Cuffy hin­zu.

»Und den hoch­tra­ben­den Bein­amen ›Mus­ter­ge­fäng­nis‹ setzt man uns et­was zu oft vor«, knurr­te Smit­her­son, sei­nem ei­ge­nen Ge­dan­ken­gang fol­gend. »Wenn es wirk­lich das wä­re, müß­te man Jack Ketch drau­ßen las­sen mit dem aus­drück­li­chen Be­fehl, sei­ne Kno­ten in Ge­fäng­nis­sen zu ma­chen, die kei­ne Mus­ter­bei­spie­le sind. Es ist schänd­lich! Mus­ter … Pah, die Kalk­milch und das Phe­nol, das man drin­nen ton­nen­wei­se ver­braucht, hin­dern nicht, daß es so schwarz und dre­ckig ist wie die an­de­ren, nur ein biß­chen über­malt. Pfui Teu­fel!«

Rock Smit­her­son, ers­ter Hilfsauf­se­her im Mus­ter­ge­fäng­nis Penton­ville, haß­te sei­nen Be­ruf nicht mehr als sei­ne Kol­le­gen, aber an den schreck­li­chen Aben­den vor Hin­rich­tun­gen em­pör­te es ihn, einen ge­fes­sel­ten Men­schen ster­ben se­hen zu müs­sen, dem nie­mand in sei­ner höchs­ten Not zu Hil­fe kom­men wür­de, so­gar wenn die ar­me, ei­nem schmach­vol­len Tod be­stimm­te Krea­tur ein Spitz­bu­be war, der das Le­ben sei­nes Nächs­ten ge­ring­ge­ach­tet hat­te.

»Der Herr hat ge­sagt: du sollst nicht tö­ten!« schloß der Auf­se­her, den ein drit­ter und letz­ter Grog mit Wa­chol­der­schnaps noch emp­find­sa­mer ge­macht hat­te.

Er ging in flin­kem Tem­po durch die Bri­de Street, denn die halb­stün­di­ge Gal­gen­frist war bei­na­he zu En­de.

Am Stra­ße­nen­de, wo die Ro­man Road be­ginnt und sich auswei­tet, ver­deckt die rie­si­ge Ge­fäng­nis­mau­er den Him­mel, an der nur die spär­li­chen Fun­zeln des Rund­gangs sicht­bar wa­ren.

»Oh! Ver­zei­hen Sie, Sir, ich hat­te Sie nicht kom­men se­hen!« ent­schul­dig­te sich Smit­her­son. Er wä­re fast mit ei­nem Mann in dunklem Um­hang, mit ei­nem breit­krem­pi­gen Hut zu­sam­men­ge­sto­ßen, der plötz­lich vor ihm auf­tauch­te. Der Fuß­gän­ger trat wort­los zur Sei­te, kam je­doch da­bei in die hell er­leuch­te­te Zo­ne ei­nes der ho­hen elek­tri­schen Licht­mas­te.

Rock sah ein läng­li­ches, schma­les und blas­ses Ant­litz, in dem große, tief­lie­gen­de Au­gen dunkle Höh­len bil­de­ten.

»Zum Teu­fel!« brumm­te er, »ein we­nig ein­neh­men­des Ge­sicht!«

Er wand­te den Kopf und blick­te der ho­hen Sil­hou­et­te nach, die rasch in der Nacht ver­schwand.

»Hmm!« mur­mel­te er, »mir scheint doch, den ken­ne ich, nur war er sonst we­ni­ger häß­lich.«

Er ging zum Auf­se­herein­gang und drück­te auf ei­ne Klin­gel.

Im ver­git­ter­ten Vier­eck ei­nes Guck­lochs er­schi­en ein Kopf.

»Auf­se­her Smit­her­son! … Ich öff­ne so­gleich!«

Die Schlüs­sel klirr­ten, das lau­te Kli­cken der Schlös­ser hall­te von der Tür zu­rück.

»Gu­ten Abend, Cle­vens. Drei Mi­nu­ten zu früh, so­viel ich se­he. Mehr als ge­nug.«

Smit­her­son be­tä­tig­te den He­bel der Stech­uhr, stem­pelte ei­ne Kar­te und seufz­te er­leich­tert: die Di­rek­ti­on dul­de­te kei­ne ein­zi­ge Mi­nu­te Ver­spä­tung.

»Sa­gen Sie, Herr Auf­se­her …«

Cle­vens zö­ger­te sicht­lich; er war grau­haa­rig und sah, trotz der dunklen, stren­gen Uni­form, sanft und schüch­tern aus.

»Was gibt es Neu­es, mein Lie­ber?«

»Ha­ben Sie nicht zu­fäl­lig … äh, einen Witz­bold ge­se­hen, der zum Spaß klin­gel­te und mir, als ich das Guck­loch öff­ne­te, ins Ge­sicht lach­te?«

»Nie­mand«, ant­wor­te­te Smit­her­son. »Die Stra­ße war leer, üb­ri­gens ist sie um die­se Zeit nie sehr be­lebt. Doch, war­ten Sie … Un­ter dem ers­ten Licht­mast bin ich fast in einen Kerl hin­ein­ge­lau­fen, der nicht ge­ra­de be­son­ders höf­lich war …«

»Mit ei­nem großen schwar­zen Schlapp­hut …«

»Das war er!«

Cle­vens zö­ger­te im­mer noch; er kratz­te sich ver­le­gen am Kinn.

»Er sag­te: ›Mor­gen ist es so­weit, nicht wahr, du Men­schen­schläch­ter?‹ Ich schlug ihm das Guck­loch vor der Na­se zu, die ist bei ihm so scharf wie ein Mes­ser, aber ich hör­te ihn ru­fen: ›Um acht Uhr, wie? … ge­nau wie bei mir!‹«

»Bei al­len Hei­li­gen!« fluch­te Rock. »Hat er das ge­sagt?«

Cle­vens kam nä­her und hauch­te:

»Und … und … Herr Auf­se­her, hat­ten Sie nicht den Ein­druck, ihn zu ken­nen?«

»Nein«, sag­te Smit­her­son. »… ob­wohl ei­gent­lich …« Er ahm­te au­to­ma­tisch die Ges­te des Pfört­ners nach und kratz­te sich mit sei­nen kur­z­en di­cken Nä­geln am Kinn. »Tat­säch­lich schi­en mir sein Ge­sicht nicht ganz un­be­kannt. Es er­in­ner­te mich an je­mand …«

»Der hier bei uns war, nicht wahr, Herr Auf­se­her? Oh, ich bin ja so froh, daß ich bald in den Ru­he­stand tre­te. Noch drei Mo­na­te, dann fah­re ich zu­rück in die Mid­lands. Denn ich sag’ es Ih­nen, Rock Smit­her­son, sie kom­men wie­der …«

»Cle­vens«, sag­te der an­de­re fast fle­hend, »wenn man in der Di­rek­ti­on er­fährt, daß Sie der­lei Din­ge sa­gen …«

Der Al­te brach in lei­ses bit­te­res La­chen aus.

»Die kön­nen mir nichts an­ha­ben, das sag’ ich Ih­nen noch­mals; in drei Mo­na­ten neh­me ich mei­nen Hut, und dann be­kom­me ich mein Ru­he­ge­halt. Sie kom­men wie­der, Smit­her­son, al­le, al­le! Ich tra­ge die­se Uni­form seit vier­zig Jah­ren. Mit zwei­und­zwan­zig hab’ ich sie im Ge­fäng­nis von Hull zum ers­ten­mal an­ge­zo­gen. Dann war ich in Li­ver­pool, spä­ter kam ich nach Lon­don, dann war ich in Ne­w­ga­te, in Rea­ding, und schließ­lich zum En­de mei­ner Lauf­bahn im Mus­ter­ge­fäng­nis Penton­ville. Ich weiß, was ich sa­ge, und die an­de­ren wis­sen es so gut wie ich, aber sie wa­gen es nicht zu sa­gen, weil es die Di­rek­ti­on ver­bie­tet. Hö­ren Sie, Rock Smit­her­son, Sie ha­ben bald drei­ßig Dienst­jah­re. Sie sind al­so we­der ein An­fän­ger noch ein Stüm­per in dem Be­ruf. Nun, wa­gen Sie es zu leug­nen? Kom­men sie wie­der, ja oder nein?«

»Ach, Cle­vens«, stöhn­te der Auf­se­her, »warum sa­gen Sie das? Es ist nicht gut, da­von zu re­den. Kei­ner tut es hier … Je­der schweigt von die­sem The­ma, auch die et­was wis­sen oder zu wis­sen glau­ben.«

»Der dort«, fuhr der Al­te fort, als ob er nicht ge­hört hät­te, und zeig­te mit sei­nem dün­nen fal­ti­gen Fin­ger zu dem Guck­loch:

»Der heu­ti­ge, den ken­ne ich. Ich hat­te Wa­che in sei­ner Zel­le. Ja, ja, in der Zel­le 8A, in der Sie heu­te nacht ne­ben Hil­ary Chan­ning schla­fen wer­den.«

»Ge­nug!« schrie Smit­her­son, be­müht, sei­ner Stim­me Fes­tig­keit zu ver­lei­hen.

»Vor sie­ben Jah­ren … viel­leicht sind es schon acht«, fuhr Cle­vens un­er­bitt­lich fort. »Hat man denn hier über­haupt einen wah­ren Be­griff von der Zeit – wo doch nur Leid- und To­des­stun­den schla­gen? Sie­ben Jah­re oder acht, ist ja un­wich­tig. Sei­nen Na­men ken­ne ich nicht, und ich be­zweifle so­gar, ob ich ihn über­haupt ge­kannt ha­be. Sie äh­neln ein­an­der so stark, die Män­ner, die hier am frü­hen Mor­gen auf die­se Wei­se ster­ben, mit der schwar­zen Ka­pu­ze über dem Kopf! Aber die­ser hat­te nicht ganz das glei­che Ge­sicht wie die an­de­ren. An ihm war al­les un­ge­heu­er: sei­ne Sta­tur, sein Ge­sicht, sei­ne Au­gen, ja be­son­ders sei­ne Au­gen.«

Rock war ge­schla­gen. Es fiel ihm schwer, von Din­gen re­den zu müs­sen, die ge­mäß ei­nem stil­len Über­ein­kom­men von al­len mit Schwei­gen über­gan­gen wur­den; heu­te je­doch schi­en es ihm, als be­freie er sei­ne Schul­tern, in­dem er dem al­ten Pfört­ner plötz­lich zu­stimm­te, von ei­ner all­zu schwe­ren Last.

»Es ist wahr«, sag­te er, »sie kom­men al­le wie­der, und den ha­be ich ganz deut­lich er­kannt!«

»Ein ge­bil­de­ter Jun­ge«, sag­te Cle­vens. »Hier ver­blüff­te er al­le durch sein Wis­sen.«

»Er hieß Brown, bes­ser ge­sagt, er ließ sich so nennen«, sag­te nun Smit­her­son, »denn das war ein falscher Na­me, und nie­mand ge­lang es je, sei­ne Iden­ti­tät fest­zu­stel­len.«

»Er­in­nern Sie sich, was er zu Pas­tor Par­ming­ton sag­te, der ihm in den letz­ten Wo­chen bei­stand? In der Stun­de sei­ner Hin­rich­tung sag­te er ihm: ›Und Sie glau­ben wohl, daß jetzt al­les zu En­de ist?‹«

»Und da­bei hat er ge­lacht«, füg­te Rock fins­ter hin­zu. »Sein La­chen war don­nernd, es hall­te durch den Gang, den er durch­schritt, ehe er hin­kam …«

»Er ist zu­rück­ge­kom­men!« mur­mel­te Cle­vens. »Er kommt je­des­mal in der Nacht vor ei­ner Hin­rich­tung wie­der. Fast als hät­te er von Gott weiß wel­chen schreck­li­chen Her­ren einen Auf­trag, sie ho­len zu kom­men!«

»Ge­nug!« rief Smit­her­son. »Jetzt ist es aber ge­nug, Cle­vens: man könn­te wirk­lich mei­nen, es macht den Men­schen und Din­gen Ver­gnü­gen, ei­nem in sol­chen Näch­ten die Ner­ven zu zer­rei­ßen.«

Er blick­te auf den Dienst­plan und stieß einen großen Seuf­zer der Er­leich­te­rung aus.

»Wie ich se­he, löst mich Wäch­ter So­a­mes um zwei Uhr im 8A ab; so muß ich den Ge­fan­ge­nen nicht we­cken und ihm sa­gen: »›Fas­sen Sie Mut!‹ Ah, ist das ein Be­ruf!«

Er traf Chan­ning in tie­fem Schlaf an; er at­me­te leicht, auf sei­nen ein we­nig ge­öff­ne­ten Lip­pen lag ein lei­ses Lä­cheln.

»Ein­und­zwan­zig Jah­re«, mur­mel­te er. »Was für ein lan­ges und schö­nes Le­ben so ein Jun­ge noch vor sich ha­ben könn­te, ein Le­ben vol­ler Freu­den. Und in we­ni­gen Stun­den wird man ihm ein paar Schau­feln un­ge­lösch­ten Kalk über das Ge­sicht schüt­ten … Mein Gott!«

Chan­ning mur­mel­te im Traum ei­ni­ge un­ver­ständ­li­che Wor­te, dann be­gann er laut­los zu la­chen.

»Und Gott weiß, von was für schö­nen Din­gen er noch träu­men kann«, setz­te Smit­her­son sei­nen Mo­no­log fort.

Er konn­te in dem Arm­ses­sel, den ihm die Di­rek­ti­on für die­se tra­gi­schen Stun­den zu­teil­te, nicht schla­fen, und als So­a­mes ihn ab­lö­sen kam, fiel Smit­her­son ei­ne Last vom Her­zen.

Er be­gab sich schwe­ren Schritts in den Wach­raum, wo Feld­bet­ten auf­ge­schla­gen wa­ren und wo er hoff­te, doch noch ein we­nig Ru­he zu fin­den.

Als er die Tür des recht an­ge­nehm ein­ge­rich­te­ten Lo­kals auf­s­tieß, konn­te er nur schwer ei­ne är­ger­li­che Ges­te un­ter­drücken.

Ein di­cker Mann saß mit ver­gnüg­ter Mie­ne am Tisch vor ei­ner rie­si­gen damp­fen­den Tee­kan­ne und be­grüß­te ihn herz­lich.

»Gu­ten Mor­gen, Smit­her­son, wie wär’s mit ei­ner Kar­ten­par­tie?« schlug er vor und streck­te ihm sei­ne ge­wal­ti­ge, be­haar­te Hand ent­ge­gen.

Der Auf­se­her drück­te sie, wisch­te aber dann sei­ne Hand takt­voll, oh­ne daß der an­de­re es merk­te, an sei­ner Jop­pe ab.

»Sie kom­men recht früh, Duck«, sag­te er.

Der Mann lach­te.

»Das letz­te­mal, Smit­her­son, wä­re ich fast zu spät ge­kom­men und hab’ mir al­ler­hand an­hö­ren müs­sen! Al­so, nun ver­ste­hen Sie mich?«

Es war nicht das ers­te­mal, daß Duck, der Hen­ker von Penton­ville, sein Kar­ten­part­ner war, aber heu­te ver­trug Rock die An­we­sen­heit des Schand­to­des­knechts nur schwer: er dach­te an das ro­si­ge paus­bä­cki­ge Ge­sicht Hil­ary Chan­nings, an sei­nen wei­ßen Jung­mäd­chen­hals und sah, nicht oh­ne Ab­scheu, wie Ducks Af­fen­hän­de die Kar­ten be­feuch­te­ten und sorg­fäl­tig be­tas­te­ten, ehe er sie auf­leg­te.

Die Par­ti­en wur­den schwei­gend ge­spielt, denn Duck war ein auf­merk­sa­mer Spie­ler und ver­lor un­gern. Das blieb ihm üb­ri­gens er­spart, der klei­ne Pen­ny­hau­fen ne­ben ihm auf dem Tisch wur­de im­mer grö­ßer.

Plötz­lich stell­te Smit­her­son ei­ne Fra­ge, und er soll­te sich noch viel spä­ter dar­über wun­dern, daß er es ge­tan hat­te.

»Duck, er­in­nern Sie sich an Brown?«

Die Stirn des di­cken Man­nes run­zel­te sich; er streng­te sein Ge­dächt­nis an.

»Brown? Ach, das will ich mei­nen! … al­ler­dings gibt es nicht we­ni­ge die­ses Na­mens. Ich ken­ne einen Stall­knecht … doch nein, ich neh­me an, Sie spre­chen von ei­nem eins­ti­gen Kun­den? Mal se­hen!«

Er leg­te die Kar­ten hin und ver­ab­reich­te sich einen kräf­ti­gen Schlag auf einen sei­ner di­cken Ober­schen­kel.

»Brown? Ah, na­tür­lich er­in­ne­re ich mich an ihn! Der war mein ers­ter Kun­de in Penton­ville. Ich kam da­mals von Li­ver­pool. Ein großer Schwarz­haa­ri­ger, ei­ne wah­re Boh­nen­stan­ge. Ich hat­te den Kerl ganz ver­ges­sen, üb­ri­gens, ich ver­ges­se sie al­le. Wenn Sie glau­ben, ich be­las­te mein Ge­dächt­nis mit ih­ren Ge­sich­tern! Warum spre­chen Sie von ihm?«

»Nichts Be­son­de­res«, ant­wor­te­te Smit­her­son, des­sen Lip­pen ein we­nig beb­ten. »Ei­gent­lich, weil er Ihr ers­ter hier war …«

»Ich ar­bei­te nun schon seit acht Jah­ren in die­sem Ge­fäng­nis«, fuhr Duck fort, »und ich be­kla­ge mich nicht, denn an Ar­beit hat’s hier noch nie ge­man­gelt. Mit dem nächs­ten da drü­ben wer­den es …«

Er zähl­te un­ter Zu­hil­fe­nah­me sei­ner di­cken spa­tei­för­mi­gen Fin­ger.

»Hol mich der Teu­fel, wenn ich mich er­in­ne­re … drei­ßig, ein­und­drei­ßig, viel­leicht zwei­und­drei­ßig … Nein, jetzt hab’ ich’s, Smit­her­son, fünf­und­drei­ßig!«

Er stütz­te die Ell­bo­gen auf den Tisch und schi­en nach­zu­den­ken.

»Fünf­und­drei­ßig … War­ten Sie, ich ha­be in Du­blin be­gon­nen, wo man nie oh­ne Ar­beit ist, und dort hab’ ich vier­zig be­för­dert, dann in Li­ver­pool fünf­und­zwan­zig. Ich bin für run­de Zah­len. Aber sieh mal an!« Er blick­te auf Smit­her­son aus weit­ge­öff­ne­ten Au­gen und brach plötz­lich in ein dröh­nen­des La­chen aus. »Das macht bald hun­dert … Ein Hun­der­ter! Wie scha­de, bei Gott, daß es hier kein Bier oder Gin gibt, das müß­te man be­gie­ßen.«

Nun wur­de der gan­ze Mensch von sei­ner schwer­fäl­li­gen Hei­ter­keit ge­schüt­telt.

»Ein Hun­der­ter! Mein Hun­derts­ter, ha! … Ist das ein Spaß! Mor­gen muß ich es den Freun­den und viel­leicht auch den Zei­tungs­re­por­tern er­zäh­len. Man wird mein Fo­to in den Blät­tern brin­gen, und ich be­kom­me ei­ne Prä­mie! Sieh mal an …«

Duck schi­en plötz­lich nach­denk­lich zu wer­den, ge­wann aber bald sei­ne gu­te Lau­ne wie­der.

»Ich den­ke an das Weib auf dem Jahr­markt in Beth­nal Green, als ich nach Lon­don kam. Bei Gott, ich hat­te längst nicht mehr an ih­re Hirn­ge­spins­te ge­dacht, aber jetzt fal­len sie mir wie­der ein. Es war ei­ne schmut­zi­ge Schwar­ze aus den In­seln, die dort wahr­sag­te: ›Sie brin­gen den Tod‹, sag­te sie mir, in­dem sie die Kar­ten und dann mei­ne Hand­li­ni­en be­trach­te­te. ›Was du nicht sagst, Al­te‹, mein­te ich, ›das tue ich – ganz her­vor­ra­gend.‹ ›Du wirst ihn hun­dert­mal brin­gen … das heißt, das hun­derts­te Mal bringst du ihn nicht mehr.‹ Nun, es hat sich ge­hö­rig ge­irrt, das Müt­ter­chen, und das wird der drü­ben bald be­zeu­gen kön­nen!

Ich hab’ ihr einen Shil­ling ge­ge­ben, aber sie warf ihn in den Rinn­stein und schrie: ›Durch den ers­ten wirst du den letz­ten ver­lie­ren!‹ Das ha­be ich na­tür­lich nicht ver­stan­den. Ist doch ko­misch, Smit­her­son, daß ich mit mei­nem schlech­ten Ge­dächt­nis mich auf ein­mal an die­se längst ver­gan­ge­nen Din­ge er­in­ne­re.«

Die Glo­cke im Saal ließ vier dump­fe Schlä­ge er­tö­nen.

»Ich wer­de jetzt das Ge­rüst auf­bau­en«, sag­te Duck. »Ich ha­be ge­nug Zeit vor mir, und ich baue es al­lein auf, seit ich mei­ne Hel­fer selbst be­zah­len muß; so er­spa­re ich mir ei­ne ganz hüb­sche Sum­me.«

Smit­her­son wä­re gern ein­ge­schla­fen, doch es ge­lang ihm nicht.

Er hör­te im Wach­zim­mer die Ham­mer­schlä­ge, mit de­nen Duck ne­ben­an in dem grau­si­gen klei­nen Saal die Quer­bal­ken fi­xier­te, und dann das Knar­ren der Fall­klap­pen­he­bel, de­ren ein­wand­frei­es Funk­tio­nie­ren er prü­fen woll­te.

Fünf Uhr.

In ei­ner hal­b­en Stun­de wür­de man die Re­veil­le für die Wäch­ter bla­sen müs­sen; die für die Ge­fan­ge­nen wur­de we­gen der Hin­rich­tung ver­scho­ben.

Rock wun­der­te sich über Ducks Aus­blei­ben; der er­le­dig­te ge­wöhn­lich al­les im Handum­dre­hen.

Er ging zur To­des­kam­mer, da ver­nahm er ein dump­fes Ge­räusch. Es schau­er­te ihn, denn er kann­te es nur zu gut: es war das Nach­ge­ben der Fall­klap­pe, ge­folgt von dem ab­scheu­li­chen wei­chen Auf­pral­len des Kör­pers am En­de sei­nes Fal­les.

Im Geis­te sag­te er sich, daß das nicht nur ein­fach das Ge­räusch ei­ner Fall­klap­pen­pro­be war …

Die Hin­rich­tungs­kam­mer war leer.

Die Fall­klap­pe stand of­fen, und ein ge­spann­ter, ins Dun­kel rei­chen­der Strick schwang, lang­sam und re­gel­mä­ßig pen­delnd, hin und her.

Er beug­te sich über das ab­sto­ßen­de, tie­fe Loch.

Da sah er Duck … ge­hängt.

Als Smit­her­son sich um­wand­te und einen Alarm­schrei aus­stieß, sah er, an den Gal­gen­pfos­ten ge­lehnt, den Geist Browns, der ihn mit furcht­ba­ren Au­gen an­sah.

Ei­ne gnä­di­ge Ohn­macht ent­zog Smit­her­son dem Kreis der we­ni­gen Zeu­gen, die den nun fol­gen­den un­er­klär­li­chen Be­ge­ben­hei­ten bei­wohn­ten.

Sie wer­den, nicht oh­ne Grund, in den Ak­ten von Penton­ville nicht er­wähnt; im Merk­buch des Di­rek­tors läßt sich je­doch das Feh­len von ei­nem hal­b­en Dut­zend Sei­ten fest­stel­len, die, sorg­fäl­tig her­aus­ge­schnit­ten, an­geb­lich noch im In­nen­mi­nis­te­ri­um auf­be­wahrt wer­den.

Der Pfört­ner Cle­vens wur­de aus dem Halb­schlaf, der ihn ge­wöhn­lich ge­gen En­de der Nacht über­kam, nicht durch Lärm, denn es herrsch­te völ­li­ge Stil­le, son­dern durch ein ent­setz­li­ches Angst­ge­fühl ge­ris­sen, von dem ihm übel wur­de.

»Das Herz«, sag­te er. »In mei­nem Al­ter …«

Er warf einen Blick in den Kor­ri­dor und sah ei­ni­ge Schat­ten, die sich grup­piert in Rich­tung des zen­tra­len Rund­baus be­weg­ten.

»Teu­fel«, brumm­te er, »was geht da vor?«

Spä­ter hat Cle­vens vor al­lem be­tont, daß wäh­rend der schreck­li­chen Mi­nu­ten, wel­che er hilf­los, als Ge­fan­ge­ner ei­ner über­mensch­li­chen Ge­stalt, die ihn der Be­we­gung und der Spra­che be­raub­te, zu durch­ste­hen hat­te, ei­ne un­ge­heu­re Stil­le herrsch­te.

Die zu­erst aus un­deut­li­chen Schat­ten be­ste­hen­de Grup­pe nahm all­mäh­lich kla­re und be­ängs­ti­gen­de For­men an.

Die einen tru­gen ei­ne schwar­ze Ka­pu­ze über dem Kopf, die an­de­ren hat­ten das Ge­sicht ent­blö­ßt, und die er­kann­te er al­le; es wa­ren die Män­ner, die er im Mor­gen­grau­en mit ei­nem Strick um den Hals hat­te ster­ben se­hen: Skins­lop … Ro­gers … Pio­chin­ni … Wang-Su, ein Chi­ne­se … Kir­by … Rut­ter­mo­le … O’Neill …

Er nann­te im Geist ih­re Na­men, aber er sah, wie sie sich mi­li­tä­risch in ei­ner Rei­he auf­stell­ten; und plötz­lich ver­band er an­de­re Na­men mit ih­nen, die Na­men von le­ben­den Men­schen, wel­che sich ir­ren Blicks, mit von ei­ner un­be­schreib­li­chen Angst ver­zerr­ten Ge­sich­tern un­ter die Ge­spens­ter misch­ten.

Ja, sie ord­ne­ten sich ein, von un­sicht­ba­ren Hän­den an den Schul­tern ge­scho­ben: die Wäch­ter So­a­mes, Thom­son, Prit­chard, Hack­le, der Vi­ze­di­rek­tor Fis­her und der Rich­ter Hat­ter­ley, der als Gast Fis­hers am fol­gen­den Tag eben­falls der Hin­rich­tung bei­woh­nen soll­te.

Ge­trennt von ih­nen durch einen frei­en Raum von we­ni­gen Me­tern, ge­hör­ten auch sechs zum To­de ver­ur­teil­te Ge­fan­ge­ne, so­wie Hil­ary Chan­ning zu dem ge­heim­nis­vol­len Zug, der sich bil­de­te.

Im Ge­gen­satz zur ers­ten Ge­fan­ge­nen­grup­pe tru­gen die­se ei­ne ru­hi­ge, ja so­gar zu­frie­de­ne Mie­ne zur Schau. Plötz­lich setz­te sich der Zug in Be­we­gung: Men­schen und Geis­ter mar­schier­ten, we­ni­ge Schrit­te von Cle­vens ent­fernt, an­schei­nend oh­ne ihn zu se­hen, in lang­sa­mem Pa­ra­de­schritt vor­bei und be­weg­ten sich dem Haupt­gang zu.

Das Git­ter, wel­ches bei­de Tei­le die­ses lan­gen, mit schwarz­wei­ßen Flie­sen be­leg­ten Kor­ri­dors trenn­te, ging wie ein Fall­git­ter hoch; und die Gleit­schie­nen, die nor­ma­ler­wei­se Klin­geln in Be­we­gung setz­ten, funk­tio­nier­ten dies­mal nicht.

Das große Tor öff­ne­te sich laut­los, und Cle­vens sah in der Fer­ne im Ne­bel ver­schwom­men die Stra­ßen­lam­pen.

Das Tor blieb so lan­ge of­fen, bis der Zug im Ne­bel ver­schwand, dann schloß es sich wie­der ge­räusch­los.

Ganz lang­sam und al­lein trat Browns Geist durch den Gang; sein schwar­zer Um­hang sah aus wie rie­si­ge nächt­li­che Flü­gel, der brei­te Hut war tief in die Stirn ge­drückt.

Er blieb vor Cle­vens ste­hen und sag­te:

»Ihr habt Glück, du und Smit­her­son, daß ihr kei­ne schlech­ten Men­schen seid.«

Der Pfört­ner sah ihn nicht ver­schwin­den, ver­spür­te aber im nächs­ten Au­gen­blick einen hef­ti­gen Schmerz im gan­zen Kör­per, so als hät­te er mit bei­den Hän­den ei­ne Ley­de­ner Fla­sche an­ge­faßt.

Nie­mals fand man ei­ne Spur der Be­am­ten oder der Ge­fan­ge­nen wie­der, die von den Geis­tern ent­führt wor­den wa­ren.

Aber die Ge­richt­särz­te, die die Lei­che des Hen­kers Duck zu un­ter­su­chen hat­ten, er­leb­ten et­was Be­stür­zen­des.

Die Lei­che war mit dem Wa­gen zum Ana­to­mie­saal nach South-Ken­sing­ton ge­bracht wor­den, und als die Saal­die­ner sie auf den Se­zier­tisch leg­ten, lös­ten sich von ihr große Fleisch­stücke los, die Kno­chen durch­s­tie­ßen das Ge­sicht und die Glied­ma­ßen, und die zer­fres­se­ne, fau­len­de Mas­se der Ein­ge­wei­de wur­de sicht­bar.

»Ei­ne Lei­che, die meh­re­re Ta­ge in un­ge­lösch­tem Kalk ge­le­gen hat«, stell­te der Ge­richts­arzt Mil­ler fest.

Es ver­ging ei­ne ver­hält­nis­mä­ßig lan­ge Zeit, ehe Smit­her­son und Cle­vens von der schreck­li­chen Nacht zu spre­chen wag­ten.

Und auch nur mit lei­ser Stim­me, bei Cuf­ly, des­sen dog-no­se ih­nen Mut mach­te.

»Im Grun­de ge­nom­men freue ich mich für Chan­ning«, ge­stand Rock Smit­her­son, »und für Duck emp­fin­de ich kei­ner­lei Mit­leid.«

»Und die an­de­ren … ich mei­ne die Kol­le­gen, Fis­her und der Rich­ter Hat­ter­ley, die ent­führt wur­den, wa­ren zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen schlech­te Men­schen«, er­klär­te Cle­vens.

»Wo sie wohl sein mö­gen?« mur­mel­te Smit­her­son.

»Bes­ser, man re­det nicht mehr dar­über.«

Und bei­de rich­te­ten ängst­li­che Bli­cke auf die Tür, als er­war­te­ten sie, daß sie im nächs­ten Au­gen­blick von dem Geist mit dem schwar­zen Um­hang und dem brei­ten Hut auf­ge­sto­ßen wür­de.