Der Geis­ter­berg
von
Gustav Adolf Becquer

 

 

In ei­nem Park vor den To­ren Se­vil­las steht das wei­ße Mar­mor­denk­mal Gu­stav Adolf Bec­quers (1836-1870), des großen An­re­gers und Neu­be­le­bers der spa­ni­schen Ly­rik. Bec­quer blieb un­be­kannt, so­lan­ge er leb­te, ge­liebt erst, nach­dem er tot war. Be­deu­tend sind auch die spä­te­ren rei­fen Er­zäh­lun­gen, die meist auf al­ten Volks­sa­gen, Aber­glau­ben und per­sön­li­chen Er­leb­nis­sen auf­bau­en. So trägt die Haupt­fi­gur im ›Geis­ter­berg‹ deut­lich die Zü­ge des Dich­ters. Bec­quer trug ei­ne fan­tas­ti­sche Welt in sich, einen Gar­ten voll blü­hen­der Sehn­sucht und einen Fried­hof be­gra­be­ner Hoff­nun­gen – mit sei­nen ei­ge­nen Wor­ten: »In den dunklen Win­keln mei­nes Hirns schlum­mern, nackt und eng bei­ein­an­der, die ab­son­der­li­chen Kin­der mei­ner Fan­ta­sie und har­ren still der Stun­de, wo die Kunst sie in Wor­te klei­det, auf daß sie sich mit An­stand auf der Büh­ne der Welt zei­gen kön­nen.«

 

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In der Nacht auf Al­ler­see­len weck­te mich – ich weiß nicht, wie spät es schon war – das Ge­läu­te der Kir­chen­glo­cken. Bei ih­rem lang­ge­zo­ge­nen Schall muß­te ich un­will­kür­lich an ei­ne Ge­schich­te den­ken, die ich kürz­lich in So­ria hör­te.

Ich ver­such­te wie­der ein­zu­schla­fen – un­mög­lich! Wenn die Fan­ta­sie ein­mal auf­ge­sta­chelt ist, be­nimmt sie sich wie ein stör­ri­sches Pferd, bei dem al­les Zü­geln nichts hilft. Und so be­schloß ich denn auf­zu­ste­hen und die Zeit mit Schrei­ben zu ver­brin­gen, was ich auch wirk­lich tat. –

Zu­ge­tra­gen hat sich die Ge­schich­te eben­da, wo sie mir er­zählt wor­den ist. Als ich sie nie­der­schrieb, wand­te ich je­des­mal, wenn es an die Fens­ter­schei­ben pol­ter­te, er­schreckt den Kopf – es war aber wohl nur der kal­te Nacht­wind, der ge­gen die Bal­kon­tü­ren stand …

Und mag es auch ge­we­sen sein, was es will, – jetzt ist Her­zen­kö­ni­gin Trumpf!

 

»Kop­pelt die Hun­de! Stoßt ins Horn, gebt den Weid­ge­nos­sen das Zei­chen, daß sie sich sam­meln sol­len! Nacht ist schon na­he … Wir dür­fen nicht ver­ges­sen, daß wir heut Al­ler­hei­li­gen ha­ben und uns auf dem Geis­ter­berg be­fin­den … Wir keh­ren jetzt in die Stadt zu­rück!«

»So zei­tig schon!«

»Wär’s an ei­nem an­de­ren Ta­ge, däch­te ich nicht eher dar­an, als bis wir dem gan­zen Wolfs­ru­del, das der Schnee des Mon­ca­yo aus den Höh­len ge­trie­ben hat, den Garaus ge­macht hät­ten. Heu­te aber ist das un­mög­lich. Bald wird von dem Klos­ter der Tem­pel­her­ren das Ave­ma­ria her­überklin­gen, und dann wer­den die Geis­ter der Ver­stor­be­nen kom­men und in der Berg­ka­pel­le das Glöck­lein läu­ten.«

»In der ver­fal­le­nen Ka­pel­le? Ach, Un­sinn! Du willst mir wohl ban­ge ma­chen?«

»Nein, schö­ne Ba­se! Du weißt nur nicht, was sich hier­lands al­les zu­trägt, es ist ja noch nicht ein Jahr her, daß du hier weilst. Wir kön­nen un­se­re Stu­ten ja zü­geln und Schritt rei­ten; auf dem Heim­weg er­zäh­le ich dir dann die Ge­schich­te vom Geis­ter­berg.«

In fro­hen, leb­haf­ten Grup­pen ka­men die Knap­pen her­bei. Die Gra­fen von Bor­ges und von Al­cu­diel schwan­gen sich auf ih­re präch­ti­gen Ros­se; ih­re Kin­der Bea­trix und Al­fons rit­ten der Jagd­ge­sell­schaft vor­auf, und all die an­dern folg­ten in ge­wis­sem Ab­stand.

Un­ter­wegs er­zähl­te ihr Al­fons die ver­spro­che­ne Ge­schich­te:

»Der Geis­ter­berg, wie er heu­te heißt, ge­hör­te einst den Tem­pel­her­ren, de­ren Klos­ter du dort am Ufer des Flus­ses siehst. Die Temp­ler wa­ren Rit­ter und Mön­che zu­gleich. Nach­dem So­ria den Mau­ren wie­der ent­ris­sen wor­den war, ließ der Kö­nig sie aus fer­nem Lan­de kom­men, da­mit sie die Stadt auf der Brücken­sei­te ver­tei­dig­ten. Da­mit aber füg­te er den ka­sti­li­schen Ed­len ei­ne schwe­re Krän­kung zu, sie hät­ten die Stadt auch al­lein ver­tei­di­gen kön­nen, da sie sie auch er­obert hat­ten!

Zwi­schen den Rit­tern des neu­en, mäch­ti­gen Or­dens und den Ade­li­gen der Stadt gär­te es ei­ni­ge Jah­re lang, – schließ­lich aber brach der wil­de Haß wie ein Un­wet­ter los.

Die Temp­ler hat­ten den Berg ein­ge­hegt und be­hiel­ten sich dort die er­gie­bi­ge Jagd vor, um ih­re Be­dürf­nis­se de­cken und ih­rem Hang nach Wohl­le­ben frö­nen zu kön­nen. Der Adel aber be­schloß, dort ei­ne große Treib­jagd zu ver­an­stal­ten – trotz des stren­gen Ver­bo­tes der ›ge­sporn­ten Pfaf­fen‹, wie sie ih­re Fein­de nann­ten.

Die Her­aus­for­de­rung sprach sich her­um. Nichts war im­stan­de, die einen von ih­rer Jagd­lust ab­zu­hal­ten, noch die an­de­ren von ih­rem Vor­satz, die­se zu stö­ren. Das ge­plan­te Un­ter­neh­men wur­de wirk­lich aus­ge­führt … Die Raub­tie­re je­doch, auf die es ab­ge­se­hen war, ha­ben nicht viel da­von zu spü­ren be­kom­men. Wohl aber all die vie­len Müt­ter, die um ih­rer Söh­ne wil­len Trau­er­klei­der an­leg­ten, – ja, de­nen wird noch al­les ge­gen­wär­tig sein! Das war kei­ne Jagd: ein furcht­ba­res Ge­met­zel war es! Mit Lei­chen be­sät war der Berg, und die Wöl­fe, die man hat­te aus­rot­ten wol­len, hiel­ten ein blu­ti­ges Fest­mahl.

Zu­letzt sprach der Kö­nig ein Macht­wort: der Berg, als un­se­li­ge Ver­an­las­sung so vie­len Un­heils, wur­de für her­ren­los er­klärt und die Ka­pel­le der Temp­ler, die auf je­nem Ber­ge lag und in de­ren Vor­hof man Freund und Feind bunt durch­ein­an­der be­gra­ben hat­te, be­gann zu ver­fal­len.

Seit je­ner Zeit soll man in je­der Nacht auf Al­ler­see­len hö­ren kön­nen, wie das Glöck­lein der Ka­pel­le ganz von selbst an­fängt zu läu­ten … und die Geis­ter der To­ten, in ih­re zer­fetz­ten Schweiß­tü­cher gehüllt, sol­len zwi­schen Busch und Dorn um­her­ren­nen – ei­ne fan­tas­ti­sche Jagd … Die Hirsche schrei­en vor Schre­cken, die Wöl­fe heu­len, die Schlan­gen zi­schen grau­en­haft – und am an­dern Ta­ge hat man schon oft im Schnee Ab­drücke ge­se­hen – Fuß­spu­ren der Kno­chen­män­ner! Da­her heißt er in So­ria der Geis­ter­berg – und des­we­gen hab’ ich zum Heim­weg ge­ra­ten, be­vor die Nacht an­bricht.«

Al­fons schloß ge­ra­de sei­ne Er­zäh­lung, als die bei­den jun­gen Leu­te an der Brücke an­lang­ten, die von je­ner Sei­te aus in die Stadt führt. Sie war­te­ten dort auf die üb­ri­ge Ge­sell­schaft, und als sie al­le wie­der bei­sam­men wa­ren, rit­ten sie durchs Tor und ver­lo­ren sich in den en­gen, düs­te­ren Gas­sen So­ri­as.

 

Die Die­ner wa­ren ge­ra­de mit dem Ab­räu­men der Ta­fel fer­tig. Der ho­he go­ti­sche Ka­min im Pa­last der Gra­fen von Al­cu­diel strahl­te einen be­le­ben­den Schein aus und be­leuch­te­te die Grup­pen der Da­men und Her­ren, die ver­trau­lich plau­dernd rings um das Feu­er sa­ßen. Der Wind peitsch­te ge­gen die klei­nen, blei­ge­faß­ten Fens­ter­schei­ben der Hal­le.

Nur zwei Per­so­nen schie­nen an der all­ge­mei­nen Un­ter­hal­tung kei­nen An­teil zu neh­men: Bea­trix und Al­fons. Bea­trix starr­te, in Ge­dan­ken ver­sun­ken, auf die lus­tig fla­ckern­den Flam­men, und Al­fons be­ob­ach­te­te, wie sich die ro­te Glut in den blau­en Au­gen sei­ner Ba­se spie­gel­te.

Bei­de ver­harr­ten ei­ne Wei­le in tie­fem Schwei­gen.

Ei­ni­ge äl­te­re Da­men er­zähl­ten ge­le­gent­lich der Al­ler­see­len­nacht trau­ri­ge Ge­schich­ten, in de­nen Geis­ter und Ge­spens­ter die Hauptrol­le spiel­ten. Und dumpf und ein­tö­nig klan­gen von fern die Glo­cken­schlä­ge der Kir­che So­ri­as her­über.

»Schö­ne Ba­se«, un­ter­brach Al­fons end­lich das lan­ge Schwei­gen, dem sie sich über­las­sen hat­ten, »bald wer­den wir uns tren­nen – viel­leicht auf im­mer! Daß Ka­sti­li­ens öde Step­pen und die ein­fa­chen pa­tri­ar­cha­li­schen Sit­ten hier­zu­lan­de dir nicht zu­sa­gen, weiß ich ja, Auch hab’ ich schon oft dich seuf­zen hö­ren – viel­leicht nach ir­gend­ei­nem hüb­schen Jun­ker aus dei­ner fer­nen Hei­mat …«

Bea­trix ant­wor­te­te mit ei­ner Ge­bär­de kal­ter Gleich­gül­tig­keit, und in die­sem ver­ächt­li­chen Zu­sam­men­zie­hen ih­rer schma­len Lip­pen ent­hüll­te sich der gan­ze Cha­rak­ter des Fräu­leins.

»Viel­leicht sehnst du dich auch nach dem Prunk des fran­zö­si­schen Ho­fes – du hast ja all die Zeit über dort ge­lebt«, be­eil­te sich der Jun­ker hin­zu­zu­fü­gen. »Je­den­falls, wie es auch sei – ich ah­ne, daß ich dich bald ver­lie­ren wer­de … Ich möch­te dir gern ein An­den­ken von mir mit­ge­ben … Er­in­nerst du dich noch – als wir zur Kir­che gin­gen, um Gott für dei­ne Ge­ne­sung zu dan­ken, de­rent­we­gen du ja hier­her­ge­kom­men? Da­mals zog die­se Span­ge hier, mit der die Fe­der an mei­nem Ba­rett be­fes­tigt war, dei­ne Auf­merk­sam­keit auf sich … Wie schön wä­re es, wenn sie da­zu diente, einen Schlei­er auf dei­nem schwar­zen Haar fest­zu­hal­ten! Sie hat schon ein­mal einen Braut­schlei­er ge­tra­gen: mein Va­ter schenk­te sie der Frau, der ich mein Le­ben ver­dan­ke, und sie trug sie, als sie zum Al­tar ging … Magst du sie ha­ben?«

»Ich weiß nicht, wie ihr hier­zu­lan­de dar­über denkt«, ent­geg­ne­te die Schö­ne. »Aber in mei­ner Hei­mat ver­pflich­tet ein Ge­schenk, das man an­nimmt. Höchs­tens an ge­wis­sen Fei­er­ta­gen darf man sich von ei­nem Ver­wand­ten et­was schen­ken las­sen … und selbst dann könn­te es die­sem ein­fal­len, nach Rom zu ge­hen und nicht mit lee­ren Hän­den zu­rück­zu­kom­men!«

Der ei­si­ge Ton, mit dem Bea­trix dies sag­te, setz­te den Jun­ker einen Au­gen­blick in Ver­wir­rung. Als er sich wie­der ge­faßt hat­te, sag­te er be­trübt:

»Ja, ich weiß es, Ba­se. Heu­te aber fei­ern wir Al­ler­hei­li­gen und dar­un­ter auch dei­ne Pa­tro­nin. Heu­te ist solch ein Fei­er­tag, an dem man Ge­schen­ke an­neh­men darf. – Al­so willst du das mei­ne ha­ben?«

Bea­trix biß sich leicht auf die Lip­pen und streck­te, oh­ne ein Wort zu sa­gen, die Hand nach dem Klein­od aus.

Wie­der ver­san­ken die bei­den jun­gen Leu­te in Schwei­gen. Wie­der ver­nah­men sie das be­hag­lich da­hin­plät­schern­de Ge­schwätz der Ma­tro­nen, die von He­xen und Ko­bol­den er­zähl­ten, das Heu­len des Win­des, das Klir­ren der Fens­ter­schei­ben, das dump­fe, ein­tö­ni­ge Läu­ten der Kir­chen­glo­cken …

Nach Mi­nu­ten nahm Al­fons das un­ter­bro­che­ne Ge­spräch wie­der auf.

»Und be­vor der Al­ler­hei­li­gen­tag zu En­de geht, – willst du mir nicht auch ein An­den­ken ge­ben?« sag­te er, sei­ner Ba­se in die Au­gen schau­end. »Heu­te kannst du es doch, oh­ne dich ir­gend­wie zu ver­pflich­ten, – heu­te, wo man eben­so wie dei­nen auch mei­nen Hei­li­gen fei­ert!«

In ih­ren Au­gen blitz­te ein teuf­li­scher Ge­dan­ke auf.

»Wes­halb nicht!« er­wi­der­te sie, nach ih­rer rech­ten Schul­ter tas­tend, als ob sie et­was in den Fal­ten ih­res wei­ten, gold­ver­bräm­ten Sam­t­är­mels su­che … Dann aber rief sie, mit ei­nem kind­li­chen Aus­druck des Be­dau­erns:

»Er­in­nerst du dich noch der blau­en Schär­pe, die ich heu­te bei der Jagd trug? Du sag­test mir ja noch, ih­re Far­be sei aus ir­gend­wel­chem Grun­de das Sinn­bild dei­ner See­le …«

»Ja.«

»Den­ke dir: ich hab’ sie ver­lo­ren! Ge­ra­de die­se woll­te ich dir zum An­den­ken schen­ken – und nun hab’ ich sie ver­lo­ren!«

»Ver­lo­ren? Wo ver­lo­ren?« frag­te Al­fons und sprang auf, mit ei­nem un­be­schreib­li­chen Aus­druck angst­vol­ler Er­war­tung.

»Ich weiß nicht … viel­leicht auf dem Ber­ge.«

»Auf dem Geis­ter­berg?« stam­mel­te er er­blei­chend und ließ sich wie­der in den Ses­sel zu­rück­fal­len. »Auf dem Geis­ter­berg!«

Dann fuhr er sto­ckend und dump­fen To­nes fort:

»Du weißt es … hast es ja tau­send­mal schon ge­hört: in der Stadt, in ganz Ka­sti­li­en wer­de ich der Kö­nig der Jä­ger ge­nannt. Da ich, wie al­le mei­ne Vor­fah­ren, noch nicht mei­ne Kräf­te im Kampf ha­be er­pro­ben kön­nen, so hab’ ich die­ser Ver­gnü­gung, als dem Ab­bild des Krie­ges, das gan­ze Un­ge­stüm mei­ner Ju­gend, das gan­ze er­prob­te Feu­er mei­ner Ras­se ent­ge­gen­ge­bracht. Die Fel­le, auf die dein Fuß tritt, sind Jagd­tro­phä­en und stam­men von wil­den Tie­ren, die ich mit ei­ge­ner Hand er­leg­te. Ich ken­ne ih­re Schlupf­win­kel, ih­re Ge­wohn­hei­ten. Am Ta­ge und in der Nacht, zu Fuß und zu Roß, al­lein auf dem Pirsch­gang und ge­mein­sam bei der Treib­jagd, hab’ ich mit ih­nen ge­kämpft, und nie­mand wird sa­gen, daß er mich bei ir­gend­ei­ner Ge­le­gen­heit ei­ne Ge­fahr flie­hen sah! In je­der an­dern Nacht wür­de ich flie­gen, dir die Schär­pe zu­rück­zu­brin­gen, – ich wür­de mit Freu­den flie­gen wie zu ei­nem Fest! – Aber heu­te nacht … wo­zu es leug­nen! heu­te nacht hab’ ich Furcht … Hörst du die Glo­cken. In Sankt Jo­han­nis am Due­ro ha­ben sie das Ave­ma­ria ge­läu­tet, und nun wer­den die Geis­ter mit ih­ren gel­ben Schä­deln aus dem Ge­büsch auf­tau­chen, das ih­re Ge­bei­ne be­deckt … Die Geis­ter! Bei ih­rem blo­ßen An­blick ge­friert dem Mu­tigs­ten vor Ent­set­zen das Blut im Lei­be und sein Haar er­bleicht … Oder sie rei­ßen ihn in den Wir­bel ih­rer ra­sen­den Jagd, wie ein Blatt, das der Wind ent­führt, wer weiß wo­hin.«

Wäh­rend der Jun­ker dies sprach, spiel­te fast un­merk­lich ein Lä­cheln um Bea­trix’ Lip­pen, und als er ge­en­det hat­te, sag­te sie in gleich­gül­ti­gem Ton – und sto­cher­te da­bei im Ka­min­feu­er, wo, in tau­send­far­bi­gen Fun­ken sprü­hend, das Holz knack­te und knis­ter­te:

»O nein! We­gen ei­ner sol­chen Klei­nig­keit jetzt in die Ber­ge ge­hen zu wol­len. Auf kei­nen Fall! Welch ein Wahn­sinn! In ei­ner so düs­tern Nacht … in der Al­ler­see­len­nacht … und wo es auf al­len We­gen von Wöl­fen wim­melt!«

Den letz­ten Wor­ten gab sie ei­ne so ei­gen­tüm­li­che Fär­bung, daß Al­fons die gan­ze bit­te­re Iro­nie be­grei­fen muß­te. Wie aus ei­ner Arm­brust ge­schos­sen, schnell­te er vom Ses­sel auf. Fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als woll­te er die Furcht ver­scheu­chen, die ihm im Hirn saß und nicht im Her­zen, und sag­te dann mit fes­ter Stim­me zu der Schö­nen, die noch im­mer vorn­über­ge­beugt saß, im Feu­er her­um­sto­chernd:

»Leb’ wohl, Bea­trix, leb’ wohl! … Bis auf spä­ter!«

»Al­fons! Al­fons!« rief die­se da, sich rasch um­wen­dend. Aber als sie ihn zu­rück­hal­ten woll­te oder sich da­zu den An­schein gab, war der Jun­ker schon fort.

We­ni­ge Mi­nu­ten dar­auf ver­nahm man den Huf­schlag ei­nes Pfer­des, das sich im Ga­lopp ent­fern­te. Mit ge­röte­ten Wan­gen und ei­nem strah­len­den Aus­druck be­frie­dig­ten Stol­zes lausch­te die Schö­ne auf­merk­sam je­nem Ge­trap­pel, das, schwä­cher und schwä­cher wer­dend, all­mäh­lich ver­hall­te.

Die Ma­tro­nen er­zähl­ten sich im­mer noch ih­re Ge­spens­ter­ge­schich­ten. Und der Wind rüt­tel­te an den Bal­kon­tü­ren, und fern in der Stadt läu­te­ten die Glo­cken …

 

Ei­ne Stun­de nach der an­de­ren ver­strich. Mit­ter­nacht war na­he, und Bea­trix zog sich in ihr Bet­zim­mer zu­rück. Al­fons kam und kam nicht wie­der, ob­wohl er in we­ni­ger als ei­ner Stun­de hät­te zu­rück sein müs­sen!

»Er wird Angst ge­habt ha­ben!« sag­te das Fräu­lein, als sie das Ge­bet­buch schloß und in das Schlaf­ge­mach trat. Um­sonst hat­te sie Ru­he in den Ge­be­ten ge­sucht, wel­che die Kir­che an die­sem Ta­ge für das See­len­heil der Ver­stor­be­nen vor­schreibt.

Sie lösch­te die Lam­pe, zog die sei­de­nen Bett­vor­hän­ge zu­sam­men und leg­te sich schla­fen. Und sie fiel in einen un­ru­hi­gen, leich­ten und quä­len­den Schlum­mer.

Vom Tor her schlug es Mit­ter­nacht. Im Schlaf hör­te Bea­trix den Klang der Glo­cke, schwer und dumpf und un­säg­lich trau­rig … Sie öff­ne­te die Au­gen. Es war ihr, als hät­te sie gleich­zei­tig ih­ren Na­men ru­fen hö­ren – aber aus wei­ter Fer­ne und wie von ei­ner er­stick­ten, schmerz­be­weg­ten Stim­me aus­ge­sto­ßen … An den Fens­ter­schei­ben heul­te der Sturm …

»Es wird der Wind ge­we­sen sein!« sag­te sie und leg­te ih­re Hand aufs Herz, um es zu be­ru­hi­gen. Aber ihr Herz poch­te mit je­dem Au­gen­blick hef­ti­ger … Mit ei­nem schril­len, lang­ge­zo­ge­nen Krei­schen dreh­te sich die lär­che­ne Tü­re zum Bet­zim­mer in den An­geln …

Und nun knarr­te und knack­te ei­ne Tür nach der an­dernal­le Tü­ren, die in ih­re Ge­mä­cher führ­ten, nach der Rei­hedie einen dumpf und ernst, die an­de­ren schrill und kläglich. Dann wie­der tie­fes Schwei­gen – aber ein Schwei­gen, an­ge­füllt mit selt­sa­men Ge­räuschen, das Schwei­gen der Mit­ter­nacht: mit dem ein­tö­ni­gen Ge­mur­mel des na­hen Ba­ches, fer­nem Hun­de­ge­bell, ver­wor­re­nen Stim­men, un­ver­ständ­li­chen Wor­ten, dem Wi­der­hall von Schrit­ten, die nä­her kom­men und sich wie­der ent­fer­nen, dem Ra­scheln von lan­gen, über den Bo­den schlei­fen­den Klei­dern, un­ter­drück­ten Seuf­zern, keu­chen­dem, fast zu ver­spü­ren­dem Atem … so daß man un­will­kür­lich zu­sam­men­fährt, wie vor ei­nem Et­was, das man in der Dun­kel­heit nicht sieht und doch spürt, wie es nä­her und nä­her kommt.

Zit­ternd schob Bea­trix den Kopf durch die Vor­hän­ge, einen Au­gen­blick re­gungs­los lau­schend. Sie ver­nahm tau­sen­der­lei Lau­te – strich sie sich aber mit der Hand über die Stirn und lausch­te noch ein­mal: nichts, To­ten­stil­le …

Und sie sah, wie sich über­all Ge­stal­ten be­weg­ten, hier­hin, dort­hin – aber ihr Blick war von je­nem phos­pho­ri­schen Glanz ge­blen­det, der sich in er­reg­tem Zu­stan­de ein­stellt. So­bald sie die Au­gen auf­riß und sie auf einen be­stimm­ten Punkt rich­te­te, war nichts mehr da, nur Fins­ter­nis, un­durch­dring­li­ches Dun­kel!

»Ach was!« rief sie und leg­te ih­ren schö­nen Kopf wie­der aufs blaue At­las­kis­sen, »bin ich denn auch schon so ban­ge wie all die­se ar­men Ker­le hier, de­nen das Herz im Wam­se vor Ent­set­zen klopft, wenn sie nur ei­ne Ge­spens­ter­ge­schich­te hö­ren?!«

Sie schloß die Au­gen und ver­such­te wie­der ein­zu­schla­fen. Aber um­sonst war all ihr Mü­hen, über sich Ge­walt zu be­kom­men. Es währ­te nicht lan­ge, so fuhr sie schon wie­der em­por – blei­cher, er­reg­ter, ge­ängs­tig­ter als vor­dem … denn jetzt war es kei­ne Täu­schung mehr: die Bro­kat­vor­hän­ge an der Tür hat­ten sich deut­lich hör­bar be­wegt, wie wenn sie aus­ein­an­der­ge­schla­gen wor­den wä­ren … und nun ver­nahm sie auch ein lang­sa­mes Tap­pen von Schrit­ten auf dem Tep­pich … Kaum ver­nehm­bar, so dumpf war der Hall der Schrit­te – aber es dau­er­te an … und bei je­dem Schritt knack­te et­was mit … wie Holz … oder … oder wie Kno­chen … Und sie ka­men nä­her … im­mer nä­her … da – das Bet­pult ne­ben ih­rem Bett hat­te sich be­wegt!! Bea­trix stieß einen schril­len Schrei aus, wi­ckel­te sich bis über die Oh­ren in die Bett­de­cke ein und wag­te nicht mehr zu at­men …

Der Wind rüt­tel­te an den Bal­kon­tü­ren, daß die Fens­ter­schei­ben klirr­ten. Das Was­ser des na­hen Brun­nens fiel un­auf­halt­sam in den Trog, im­mer mit dem glei­chen ein­tö­ni­gen Plät­schern. An­schwel­lend mit je­dem Wind­stoß wur­de das Hun­de­ge­bell hör­bar. Und all die Glo­cken der Stadt So­ria, die einen nä­her, die an­de­ren fer­ner, läu­te­ten kla­gend für das See­len­heil der Ver­stor­be­nen.

So ver­floß ei­ne Stun­de nach der an­de­ren, die Nacht – ach, ein gan­zes Jahr­hun­dert ging hin! Denn wie ei­ne Ewig­keit er­schi­en Bea­trix die­se ei­ne Nacht. End­lich grau­te der Mor­gen. All­mäh­lich über­wand sie ih­re Furcht­sam­keit und blin­zel­te den ers­ten Son­nen­strah­len ent­ge­gen.

Wie schön ist doch nach ei­ner schlaflo­sen, angst­ge­quäl­ten Nacht das hel­le, wei­ße Ta­ges­licht! Sie schlug die sei­de­nen Bett­vor­hän­ge aus­ein­an­der und woll­te schon über den aus­ge­stan­de­nen Schre­cken la­chen, als sie plötz­lich die Au­gen weit auf­riß … Kal­ter Schweiß brach ihr aus al­len Po­ren, töd­li­che Bläs­se ent­färb­te ihr Ant­litz … Die blaue Schär­pe, die sie auf dem Ber­ge ver­lo­ren hat­te – die­sel­be blaue Schär­pe, die Al­fons su­chen ge­gan­gen war, sah sie zer­fetzt und blut­be­fleckt auf dem Bet­pult vor sich lie­gen! …

Als die Die­ner ent­setzt her­ein­stürz­ten, um ihr den Tod des Er­ben von Al­cu­diel zu ver­kün­den, um ihr zu be­rich­ten, daß man sei­ne Lei­che, von den Wöl­fen zer­fleischt, am frü­hen Mor­gen auf dem Geis­ter­ber­ge zwi­schen Ge­strüpp ent­deckt hat­te, fan­den sie ih­re Her­rin re­gungs­los und zu­sam­men­ge­sun­ken auf dem Bett­rand sit­zen, bei­de Ar­me krampf­haft um einen der Eben­holz­p­fos­ten ge­schlun­gen … Die Au­gen aus den Höh­len ge­quol­len, den Mund halb­of­fen, die Lip­pen lei­chen­blaß, die Glie­der starr und kalt … Sie war tot, war vom Ent­set­zen ge­tö­tet!

 

Nicht lan­ge nach die­ser Be­ge­ben­heit soll ein Jä­ger, der sich in der Al­ler­see­len­nacht auf dem Geis­ter­berg ver­irrt hat­te und dort die Nacht ver­brin­gen muß­te, am an­dern Ta­ge schau­er­li­che Din­ge be­rich­tet ha­ben und bald dar­auf ge­stor­ben sein. Un­ter an­de­rem will er ge­se­hen ha­ben, daß sich zur Stun­de des Ave­ma­ria im Vor­hof der Ka­pel­le all die Ge­rip­pe der eins­ti­gen Tem­pel­her­ren und der Jun­ker aus So­ria mit ei­nem grau­en­haf­ten Ge­klap­per aus den Grä­bern er­ho­ben hät­ten und, wie hin­ter ei­nem wil­den Tier her, ei­nem schö­nen Wei­be nach­ge­jagt wä­ren, das bleich, mit flie­gen­den Haa­ren und blo­ßen, blu­ti­gen Fü­ßen un­ter gel­len­dem Angst­ge­schrei im­mer im Krei­se um Al­fons’ Grab­mal her­um­flüch­te­te …