Deutschland, Lerchesberg

Walter van Dam saß am Schreibtisch und hob ganz langsam den Kopf, als er laute Stimmen und Rennen vor seinem Büro hörte. Seine Kehle verengte sich, sein Herz schmerzte vor Vorfreude.

Die Tür flog auf, und Anna-Lena kam hereingelaufen.

Van Dam sprang aus seinem Sessel und eilte ihr entgegen. Sie warf sich ihm an den Hals. Stumm weinend umarmten Vater und Tochter sich, während Ingo, Dana und Viktor eintraten. Verdreckt, verschwitzt und vollkommen erschöpft. Frau Roth blieb lächelnd an der Schwelle stehen und gönnte ihrem Auftraggeber das Glück von Herzen.

Ingo hielt das Pendel in seiner Tasche in der Hand, als wäre es das kostbarste Ding der Erde. Seine Kiefer mahlten, als er van Dam und Anna-Lena wiedervereint sah. Es hatte für die beiden ein gutes Ende genommen. Dieses Glück war ihm noch nicht vergönnt. Beate wartete auf ihre Rettung, auf ihn, damit er sie aus einer Lage befreite, in die er sie erst gebracht hatte.

Dana prüfte mit einem knappen Griff an die seitliche Beintasche, ob sie die Uhr des jungen Söldners noch bei sich trug. Sie würde einem Vater schlechte Nachrichten überbringen müssen und seufzte verhalten.

Viktor freute sich, dass das Ganze für Vater und Tochter ein gutes Ende genommen hatte. Mit dem Mercedestransporter waren sie nach dem Aufstieg aus dem Keller zurückgefahren, den Rolls hatten sie stehen lassen, den unbekannten Toten in die Limousine geschafft. Es war nicht ihre Aufgabe, die Leichen zu entsorgen. Anna-Lena hatte sich den Blick auf ihre ermordete Kopie erspart. Niemand wollte sich selbst als Toten sehen.

Van Dam ließ seine Tochter los und betrachtete sie glücklich. Unfähig, etwas zu sagen, riss er sie erneut an sich und küsste ihre Stirn.

Im Anschluss reichte er jedem der Helfer die Hand, die Finger waren feucht von seinen Tränen. »Danke! Ich weiß gar nicht –«

»Das können Sie. Ich brauche Ausrüstung, am besten die gleiche, wie wir sie beim ersten Einsatz bekamen«, fiel ihm Viktor ins Wort. Er würde auf die Zusage bestehen. »Doktor Theobald und ich wollen nach Frau Schüpfer suchen, sobald wir uns ausgeruht haben.«

»Ja, wissen Sie es denn nicht?« Van Dam blickte ihn erstaunt an. »Es kam im Radio. Ich bin nicht sicher, ob es diesen Gang noch gibt.«

»Wieso? Was ist geschehen?«, fragte Ingo beunruhigt und hätte die Fragen beinahe herausgeschrien.

»Ein Erdbeben, gefolgt von einer Explosion. Das Haus wurde dabei vernichtet.« Van Dam schaltete den Fernseher ein und suchte einen Nachrichtensender. Hubschrauberbilder zeigten einen großflächigen Einbruch der Oberfläche, der Wald war abgesackt und brannte.

»Mein Gott«, stöhnte Ingo und musste sich setzen. Sofort wurde ihm kalt und übel. »Beate. Sie war noch da unten.«

»Ziemlich spektakulär, was immer da gezündet wurde«, befand Dana. »Ich denke, dass Ritter und seine Organisation verhindern wollten, dass wir oder jemand anderes sich das näher anschaut.« Sie legte Ingo eine Hand auf die Schulter. »Sie haben ihre Gefangenen gewiss weggebracht. Nicht die Hoffnung verlieren.«

Ingo war ihr für den Zuspruch dankbar. Sogleich fing er an, Pläne zu schmieden, wie er Beate finden und befreien konnte. Er sah auf die Unterlagen zur Anlage und den Türen, die aus dem Fundus der Familie van Dam stammten und sich auf dem Schreibtisch ihres Auftraggebers ausbreiteten. »Das ist der Weg! Wir schaffen es mit dem gesammelten Wissen.«

»Die alte Zentrale jedenfalls ist vernichtet.« Anna-Lena sah auf die Zeichnungen. »Nun musst du mir glauben, Papa.«

Sie nahmen Platz. Frau Roth brachte Mineralwasser, Kaffee und Tee sowie Häppchen.

Hungrig machten sich die Rückkehrer darüber her. Es war kein echter Sieg. Doch sie hatten überlebt, und das bedeutete eine Menge.

»Ich weiß, es ist viel verlangt, aber … Herr van Dam«, setzte Ingo eindringlich an, »Sie müssen uns helfen! Sie haben die Mittel dazu. Die Mittel und das Wissen. Nur mit Ihrer Hilfe finden wir heraus, wohin sie Beate gebracht haben.«

Anna-Lena legte ihrem Vater eine Hand auf die Schulter. »Natürlich wird mein Papa uns helfen. Schließlich hat meine Familie eine Verpflichtung.«

Der Geschäftsmann sah sie überrascht an. »Du hast doch nicht vor –«

»Urgroßvater hatte mit den Türen und mit den Unbekannten zu tun, Papa. Das lässt sich nicht leugnen. Hinweise stecken in den Aufzeichnungen. Und was ich in dieser Zentrale gesehen habe, in dieser modernen Zentrale, war unglaublich. Sie haben unfassbare Macht und allgegenwärtigen Einfluss. Wir müssen sie aufhalten. Wer weiß, wie lange sie schon die Geschicke der Menschheit bestimmen?« Anna-Lena hob das Büchlein, das der falsche Friedemann verloren und das einer Nicola gehört hatte. »Das ist ein Schatz, der uns helfen wird. Setzen wir das Puzzle zusammen.«

»Ich muss Beate finden«, beharrte Ingo.

Van Dam sah seine Tochter ungläubig an. »Anna, ich habe dich eben erst zurückbekommen, und du willst dich gleich wieder in Gefahr begeben? In so eine Gefahr?«

Sie nickte. Alle blickten entschlossen, als wären sie in der Höhle zu einem Bund geschweißt worden. Sogar Dana hatte sich entschieden, bei der Truppe zu bleiben.

»Spanger wäre auch dabei gewesen, da bin ich sicher.« Viktor hatte ihm solch einen mutigen Einsatz nie zugetraut. Der dickliche Mann hatte sich unter der Erde von einer Actionfilm-Karikatur zu einer Art Held gewandelt.

»Auf Spanger.« Dana reckte ihr Glas, ihre Geste wurde von den Übrigen wiederholt.

Viktor nahm einen Schluck. »Es gibt genug herauszufinden. Zum Beispiel: Wer war der falsche Friedemann?«

»Abgesehen davon«, warf Ingo ein, »wissen die Unbekannten, wo Sie wohnen, Herr van Dam. Und mit Sicherheit wissen sie noch viel mehr über Ihre Eltern und Großeltern. Ich denke, dass die Leute um Ritter nicht lange warten werden, um sicherzugehen, dass ihr Geheimnis gewahrt bleibt, auch wenn sie die alte Zentrale und die Villa im Wald gesprengt haben. Das betrifft Sie, Ihre Tochter …«

»… und uns«, ergänzte Dana und hielt sich den verletzten Arm. »Ich bin dabei. Schon aus eigenem Interesse.«

Van Dam betrachtete das Quartett aufgewühlt von seinem Schreibtisch aus. »Sie haben recht!« Er schlug mit der Faust auf die Platte. »Wir müssen denen zuvorkommen.«

Ingo atmete erleichtert ein. »Dann los! Die Türen sind Portale, Durchgänge; und sie sind leicht zu öffnen, wenn man weiß, wie. Lasst uns so schnell wie möglich herausfinden, wie wir in ihre Zentrale kommen. In die neue Zentrale. Und ihre Pläne vereiteln.«

»Außerdem befindet sich im Büchlein dieser Nicola eine Auflistung von weiteren Türen, die uns weiterhelfen könnten, die Zentrale zu finden.« Anna-Lena rieb sich die Stelle am Rücken, an der der Particula-Splitter unbemerkt von ihr unter die Haut gedrungen war. Es juckte.

»Ich sorge für die finanzielle Unterstützung.« Van Dam schaute zu seiner Tochter, die ihn anlächelte und dankbar seine Hand drückte. »Ich hatte es Ihnen versprochen, Herr Troneg, sofern Sie meine Tochter gesund ablieferten. Und das taten Sie.«

Viktor nickte. »Ein Ehrenmann.«

»Wir machen hoffentlich wieder gut, was mein Urgroßvater und seine Freunde einst über die Welt brachten.« Anna-Lena blätterte im Büchlein. »Hier ist noch etwas vermerkt: das Arkus-Projekt. Es scheint mit den Türen nur bedingt zu tun zu haben. Ist wohl eine andere Baustelle. Eine größere, wie es aussieht.«

Ingo klatschte in die Hände. Nach dem Essen und dem Kaffee erfüllte ihn neue Energie, an der die Hoffnung nicht ganz unschuldig war. »Duschen, frische Kleidung, und dann geht’s los. Wir haben einiges herauszufinden.« Er legte sich Beates Pendel als Kette um und zeigte auf das Notizheft. »Kann ich mal sehen?«

Anna-Lena reichte es ihm.

»Ich muss jemanden anrufen«, sagte Dana und seufzte. »Und ein Arzt wäre gut, bevor mein Arm abfällt. Diskret. Schusswunden müssen eigentlich gemeldet werden.«

»Es wartet bereits ein fähiger Chirurg in den Gästeräumlichkeiten, Frau Rentski.« Van Dam gab seiner Sekretärin telefonisch Bescheid. »Ich hatte ihn vorsichtshalber herbestellt. Das wird ohne Aufhebens geregelt.«

»Wen wollen Sie denn anrufen?«, erkundigte sich Viktor neugierig. »Sagen Sie ein Date ab?«

»Alexanders Vater. Er wird keinen Tisch mehr für ein Essen bestellen müssen. Ich hätte ihm gerne etwas anderes berichtet.« Dana ging hinaus.

Viktor stand auf. »Ich brauche eine Dusche und ein paar Stunden Schlaf. Sonst geht nichts.«

»Sollen Sie bekommen. Sagen Sie Frau Roth, was Sie benötigen. Die Gästezimmer stehen Ihnen zur Verfügung«, bot van Dam an.

»Mache ich glatt. Bis nachher.« Viktor ging hinaus.

Ingo fand unterdessen in dem erbeuteten Büchlein eine Liste. »Ah, hier sind die Türen, die wir uns anschauen sollten. Die Verfasserin des Heftchens hat sie gesondert markiert.« Er zeigte sie van Dam und seiner Tochter. »Sogar mit Standorten. Wir müssen lediglich hinfahren und uns umschauen.« Er brannte darauf, alsbald aufzubrechen. Beates Wohl stand über allem.

»Und mit welcher fangen wir an?« Anna-Lena beugte sich vor und betrachtete die Seite. »Die sind arg verstreut.«

»Das entscheiden wir gemeinsam. Nachher.« Mit einem langen Seufzen berührte Ingo das Pendel um seinen Hals. Gleich morgen ging es los. Dafür sorgte er.

»Ich mache mich ans weitere Übersetzen der Aufzeichnungen, die mein Großvater hinterlassen hat«, verkündete van Dam und unterdrückte ein Gähnen. »Womöglich sind darin wichtige Hinweise verborgen.«

Ingo rieb sich über die müden Augen. Auch wenn es ihm schwerfiel, er würde schlafen müssen. Ohne klaren Verstand kämen sie nicht weit. Geist und Körper forderten eine Pause.

Das Telefon auf van Dams Schreibtisch läutete.

Nach kurzem Innehalten hob der Geschäftsmann ab. Ihm stand nicht der Sinn nach einer Diskussion über Business. »Walter van Dam.«

Er hörte zu, seine Züge erbleichten. Er runzelte die Stirn und aktivierte die Lautsprecher sowie die Aufzeichnungsfunktion, um Viktor und Dana die Unterredung später vorzuspielen. »Würden Sie das bitte wiederholen? Ich habe die Freisprechanlage eingeschaltet.«

Ein leises Frauenlachen erklang. »Gewiss, Herr van Dam. Sie kennen mich nicht, aber Ihre Tochter und deren neue Freunde machten die Bekanntschaft von uns. Ich bin die Vorgesetzte des verstorbenen Herrn Ritter, wenn Sie so wollen.«

Anna-Lena und Ingo hielten gleichzeitig die Luft an. Sie hatten damit gerechnet, irgendwann auf Widerstand zu stoßen und das Interesse der Organisation zu wecken, aber dass sich die Gegenseite derart schnell melden würde, war eine böse Überraschung.

»Was haben Sie mit Beate gemacht?«, platzte es aus Ingo heraus.

»Meine Kontaktaufnahme ist eine einmalige Sache und Ihrer aller Tapferkeit geschuldet. Sie sollen wissen, dass es uns ein Leichtes wäre, Sie auszuschalten. Binnen Minuten«, sprach Erzengel weiter. »Sie haben eine beachtliche Leistung da unten abgeliefert, und deswegen gewähren wir Ihnen das Leben. Betrachten Sie sich jedoch als eine Bombe mit einem immensen Radius. Sollten Sie irgendjemandem gegenüber erwähnen, was Sie erlebt haben, gehen Sie hoch, und es endet mit Ihrem Tod. Dem Tod Ihrer Familie. Ihrer Freunde. Ihrer Freundesfreunde.« Die Frau atmete laut aus. »Sollten Sie weitere Nachforschungen anstellen, gehen Sie hoch. Sehen wir Sie in der Nähe der besonderen Türen, gehen Sie hoch.«

»Das ist eine Unverschämtheit!«, flüsterte van Dam mit unterdrückter Wut.

»Das ist die Wahrheit. Und Sie wissen, dass wir keine leeren Drohungen ausstoßen, Herr van Dam«, sagte Erzengel harsch. »Verhalten Sie sich ruhig, werden wir Friedemann und Schüpfer in einem Jahr freilassen. Sie werden beobachtet, meine Damen und Herren. Tun Sie irgendwas, was uns missfällt, sind Sie das Verderben. Von diesem Tag an reißen Sie alles in den Tod, was Ihnen etwas bedeutet oder das Sie angefasst oder angeschaut haben.« Sie räusperte sich, und merkwürdigerweise klang es zufrieden. »Wir senden im Laufe des Tages einen Boten, der Ihre Unterlagen abholen wird: das Notizbüchlein und alles, was die Familie van Dam zu den Türen besitzt. Den Splitter hätte ich auch gerne zurück. Sagen Sie das Ihrer Tochter.«

»Den hat mir Ritter abgenommen«, rief Anna-Lena geistesgegenwärtig. Wenigstens wusste sie nun, was Ritter von ihr hatte zurückhaben wollen. »Er sagte, er wollte ihn für seine eigenen Zwecke einsetzen. Wegen des Arkus-Projektes.«

»Oh, dann hat er doch mehr gewusst, als mir lieb ist. Dieser kleine Bastard. Nun ja. Er hat seine Strafe bekommen«, erwiderte Erzengel und schluckte die Lüge. »Ein angenehmes Leben wünsche ich. Nutzen Sie es weise.«

Klack.

Ingo fühlte Wut, Hilflosigkeit und unfassbaren Hass auf die Entführer. Äußerlich blieb er eine Statue, unbeweglich und ungerührt. Seine Augen richteten sich auf die verstreuten Unterlagen, das Notizbüchlein in Anna-Lenas Hand, danach auf van Dam und die junge Frau.

Langsam kristallisierte sich in dem Trio die grausame Erkenntnis, dass die eben noch enthusiastisch angedeuteten Pläne an dieser Stelle erstarben. Die Organisation würde jeden Menschen in ihrer Umgebung auslöschen. Weil sie es konnte. Weil sie die Mittel besaß.

»Wir können das nicht verantworten«, raunte Ingo tonlos und stemmte sich aus dem Sessel wie ein Greis. »Ich sage es Rentski und Troneg. Sie müssen sich die Botschaft anhören und werden zum gleichen Schluss kommen.«

»Doktor Theobald, ich …«, setzte Anna-Lena schockiert an.

»Lass«, sagte van Dam und legte eine Hand auf ihre. »Er hat recht. Sie sind uns überlegen. In allen Belangen.«

Ingo wankte durch das Büro auf die Tür zu. Betäubt ging er in den angrenzenden Raum, wo Dana gerade eine Verabschiedung in ihr Smartphone sprach und Viktor einen Bademantel sowie Handtücher von einem Bediensteten gebracht bekam.

Sie sahen ihm sofort an, dass etwas Schlimmes geschehen war.

»Es ist vorbei«, presste Ingo heraus und brach in Tränen aus.