Kapitel V
Viktor kauerte am Eingang der Halle und sah Dana entgegen, als hinter ihm die spaltbreit geöffnete Tür aufflog. Krachend schlug sie gegen die Wand und federte zurück.
Viktor wirbelte herum, riss das Gewehr hoch, entdeckte nichts, auf das er schießen konnte. »Rentski! Kommen Sie her! Schnell!« Suchend schwenkte er den Unterlauflichtkegel umher. Er hatte nichts übersehen. Es sei denn, jemand verbarg sich hinter der angelehnten Tür.
Dana rannte in den Raum, ihr G36 ebenfalls im Anschlag. »Was ist?« Sie kniete sich neben ihn. »Wo ist der Rest?«
Viktor deutete auf die halb offene Tür, die er nicht aus den Augen ließ. »Die mit dem kaputten Klopfer sprang eben auf. Einfach so. Nehme ich an.«
»Und?«
»Ich … weiß nicht. Friedemann und die anderen sind durch die Tür ganz hinten rechts. Die mit dem Schloss und mit dem Ausrufezeichen drauf. Denke ich.«
»Sie nehmen an und denken?« Dana verzog den Mund. »Da hätte ich Sie für einen größeren Profi gehalten.«
»Ich habe Ihnen Lichtzeichen gegeben und den Korridor gesichert, weil Sie durchgaben, Sie hätten Angreifer gesehen. Schon vergessen?«, erwiderte Viktor beleidigt.
Dana leuchtete auf die halb offene Tür und den Rahmen. Irgendwie rechnete sie damit, dass dieses Hundewesen heraussprang und sie anfiel.
In dem Durchgang blieb es still und friedlich. Lediglich an der Schwelle haftete flüssige schwarze Farbe – die sich im Licht zurückzog wie eine verschreckte Schnecke bei Erschütterung.
»Haben Sie das gesehen?« Allmählich gewöhnte Dana sich an Verstörendes unter der Erde.
»Ja.«
»Und die Tür ist einfach aufgegangen?«
Viktor nickte. »Hcafnie os. Ekned …« Er biss sich auf die Lippen. »Einfach so«, wiederholte er bei Danas staunendem Blick.
»Haben Sie eben rückwärts geredet?«
»Ich … nein.« Er hatte die Worte richtig gedacht und gesprochen, aber die Halle veränderte sie. Drehte sie um. »Dieser Ort ist das Letzte. Was kommt als Nächstes?«
Dana überlegte, ob sie ihm von dem Zeitlupenerlebnis mit dem Schnellfeuergewehr erzählen sollte. Sie verschob den kurzen Bericht. »Ja, es ist der Ort.«
Zu zweit zielten sie auf den Spalt. Von ihrer Position aus war es unmöglich, einen Blick ins Innere zu werfen. Dahinter konnte alles liegen. Massives Gestein, ein Gang, eine Kammer oder etwas ganz anderes.
Und natürlich konnte dort alles lauern, wie eine hundeähnliche Bestie, die sich blitzschnell bewegte und ihre Konturen verschwimmen ließ.
»Worauf warten Sie?«, drängte van Dam über Funk. »Gehen Sie nachschauen!«
»Jawohl.« Viktor gab Dana das Zeichen, ihn zu sichern, und eilte los. Dabei hatte er das Gefühl, plötzlich etliches an Gewicht zu verlieren. Die verminderte Schwerkraft ließ ihn große Sprünge machen, als liefe er auf dem Mond.
Viktor bewegte sich im Halbkreis auf die Tür zu, hinter der es finster blieb. Seine Lichtstrahlen trafen im Innern auf aus dem Fels geschlagene Wände, die Bearbeitungsspuren waren deutlich zu sehen.
»Da ist was zum Erkunden.« Er rückte vor. »Keine Sackgasse, wie es aussieht.«
»Okay.« Dana wechselte ihren Standort und zielte abwechselnd in den Gang hinter sich und nach vorne auf die Tür. Auch sie hüpfte weit, bevor die Schwerkraft sie auf den Boden zurückdrückte. Kurz glaubte sie, dass sich sogar das Licht unter der unsichtbaren Macht krümmte. »Alles safe«, sagte sie gepresst.
»Frau Rentski, haben Sie in den Gängen was entdeckt?«, erkundigte sich van Dam. »Einen Hinweis auf –«
»Ja. Eine aufgegebene Zentrale, die –«
»Nicht jetzt!«, fauchte Viktor von der Schwelle aus. Der Geruch hatte ihn längst vorgewarnt. Sein Helmlicht fiel auf die zerfetzten Leichen von fünf Männern, die in dem kleinen Raum lagen. »Frau Rentski. Ich brauche Sie hier.«
Gliedmaßen hingen teils abgerissen, teils abgebissen vom Körper, das Blut bildete einen roten Spiegel auf dem Boden, der den Strahl von Viktors Lampen reflektierte. Die Wunden schienen von einer Kettensäge zu stammen. Er kannte kein Tier, das derartige Verletzungen zufügen konnte, wenn er die nachgezüchteten Raptoren aus Jurassic Park außen vor ließ.
Die Schwärze, die sie beide an der Kammerschwelle gesehen hatten, war verschwunden.
Dana rückte nach. »Bin gleich bei Ihnen.«
»Mein Gott«, entfuhr es van Dam entsetzt, der die Bilder über die Helmkamera sah.
»Das ist Ihr erstes Team?« Viktor leuchtete und filmte umher.
»Ja«, würgte der Geschäftsmann heraus. »Ja, ich … das sind sie.«
»Also doch! Wird Sie viel Geld kosten, van Dam, damit ich für einen Lügner hier unten bleibe«, knurrte Dana neben Viktor. Sie betrachtete die Leichen eingehend und dachte an das Wesen, das sie im Gang gesehen hatte. Zusammen mit den Toten vor der Kammer und am Plateau kam sie auf sieben. Fehlte noch einer. »Was verschweigen Sie uns? Was ist das für eine Scheiße mit den Türen? Sie wissen doch mehr!«
»Ich … kümmere mich gerade um weitere Informationen. Bitte, suchen Sie meine Tochter! Meine echte Tochter. Jeder von Ihnen bekommt eine zusätzliche Million Euro!«
Abrupt knackte es in den Ohrsteckern.
»Van Dam?« Viktor pochte gegen das streikende Funkgerät. »Van Dam?«
Stille.
Dana fluchte und wollte die Tür zudrücken, aber Viktor verhinderte es.
»Was haben Sie vor?«, fuhr sie ihn an. »Wollen Sie diese Gruft allen Ernstes untersuchen? Wir wissen, wer es ist. Und begraben kann man in der Höhle keinen.«
»Wir lassen sie auf.«
»Warum?«
»Damit wir hören, was sich darin tut.«
»Was soll sich darin tun?« Dana lachte voller Unglauben. »Denken Sie, die Toten erheben sich? Glauben Sie an Zombies? Oder Geister? Ich dachte, Doktor Theobald wäre unser Ghostbuster.« Sie überspielte ihr Unbehagen. Am liebsten würde sie die Tür verkeilen, zustellen, verschweißen und für alle Zeiten versiegeln.
Viktor behielt sein ernstes Gesicht. »Die Tür ging nicht von selbst auf. Sie wurde mit Schwung aufgestoßen. Von innen. Entweder es gibt da drin einen Geheimgang, durch den man sich anschleichen kann, wie es der Mörder dieser Männer gemacht hat. Oder …«
»Sie wollen mir nicht sagen, dass Sie wirklich an Geister glauben.« Dana machte mehrere Schritte rückwärts und sah ihn überrascht an. Insgeheim musste sie zugeben, dass es nicht unbedingt von der Hand zu weisen war. Nicht an diesem Ort. »Okay. Lassen wir sie eben auf.«
Viktor kontrollierte sicherheitshalber die restlichen Türen. Sie blieben verschlossen, bis auf jene, hinter der sich nach wie vor eine massive Felswand offenbarte. »Hoffentlich sehen wir die anderen wieder.«
»Bestimmt.« Dana rettete sich in Spott. »Sie haben doch das Medium dabei. Die Kraft des Übersinnlichen wird ihnen den Weg weisen. Das Pendel des Todes!«
»Das wäre dann eher Vincent Price, Frau Rentski.«
Beide zogen sich an den Eingang der Halle zurück. Sie sicherten sowohl in den Raum als auch in den Gang, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, während die Bengalfackeln niederbrannten und letzte Flämmchen ausspuckten.
Viktor zündete zwei neue und warf je eine in den kathedralengleichen Saal und den Korridor. »Bevor Sie uns berichten, was Sie in den Gängen erlebt haben, verraten Sie mir: Was haben Sie damals in Darfur gemacht?«, versuchte er es erneut.
»Meine Zwillingsschwester –«
»Es gibt keine Zwillingsschwester. Ich habe Sie dort gesehen.«
Dana setzte zu einer heftigen Erwiderung an, dann musterte sie ihn irritiert. »Moment. Sie haben dort gesagt. Sie sprachen zuerst von Aufklärungsfotos, aber eben haben Sie dort gesagt!« Ihre Augen verengten sich. »Sie waren in Al-Fashir! Was wird das?«
»Sie haben recht. Ich war in Al-Fashir.« Viktor senkte langsam den Kopf. »Nicht offiziell. Und nicht auf der gleichen Eties eiw Eis.«
»Scheiße! Sie haben rückwärts gesprochen! Geht das wieder los?« Dana ließ das Al-Fashir-Thema gern fallen. Die Vergangenheit war unwichtig. Sie musste Viktor von der Verlangsamung des Feuerstoßes aus ihrem G36 erzählen. »Das Rückwärtssprechen ist verrückt, aber nicht das einzig Seltsame.« Sie spürte, dass sie erneut leichter wurde und sich vom Boden löste wie eine Astronautin. Schwerelosigkeit ließ sie aufsteigen, bevor sie eine Kante zu fassen bekam. »Was zum …«
Aber dieses Mal endete der Null-G-Effekt nicht sofort.
»Festhalten! Irgendwo!« Viktor begann ebenfalls einen unkontrollierten Flug. Seine hastigen Armbewegungen versetzten ihn in ungewollte Rotation.
Alles Lose hob wie die beiden ab. Die fauchende, rauchende Fackel schwebte umher und ließ die Schatten mit den trudelnden Flammen wandern.
»Das ist die Wirkung der verfluchten Türen! Habe ich gelesen, in der Zentrale.« Dana zeigte hinab zu den fünf Rahmen. »Es ging um irgendwelche Splitter, Particu… irgendwas, und um Anomalien und dass man sich den Türen nicht nähern sollte. Friedemann oder Theobald sind studiert genug, um das zu begreifen.«
»Der Professor hat ein Büchlein, in dem etwas über diesen Ort oder über die Türen geschrieben steht. Ich habe es gesehen.« Viktor schaffte es nicht, seinen Flug zu steuern. »Wir werden ihn befragen, sobald er auftaucht.«
»Er hat ein Büchlein?«, rief van Dam unvermittelt in ihren Ohren. Sie wussten nicht, wie lange er ihnen zugehört hatte. »Wieso sagt er das nicht gleich und spielt den Dummen?«
»Still«, zischte Dana und stieß sich mit dem Fuß leicht an der Wand ab. »Da war was.« Sie hob das G36 und dirigierte ihre beiden Lichtkegel in den Gang. »Oh, scheiße! Das ist das Vieh!« Wie sie es befürchtet hatte, kam die Bestie, um sich einen Happen zu gönnen.
Viktor schaffte es, mit dem Kopf nach unten einen Blick in den Korridor zu werfen.
Im rötlichen Schein der schwebenden Fackel und dem weißen Licht der gebündelten Lampenstrahlen sah er dasselbe wie Dana: ein doggengroßes Wesen, eine Kreuzung aus Krokodil und Hund, den Rachen leicht zum Biss geöffnet.
Es rannte an der Seitenwand entlang und schien mit der Schwerelosigkeit keine Probleme zu haben. Sein muskulöser Körper war teils gepanzert, teils von Fell bedeckt, und die Augen glommen wie Kerzenflammen.
»Troneg! Troneg, drehen Sie sich irgendwie mehr zu mir, und knallen Sie das Ding ab, sonst sind wir gleich so tot wie die armen Schweine in der Kammer!«
Viktor manövrierte, so gut es ging. Die Handhabung des Schnellfeuergewehrs war aus seiner Position heraus mehr als ungewohnt, und was geschah, sobald er abdrückte, konnte er nur erahnen. Der Rückstoß würde ihn vermutlich quer durch die riesige Halle katapultieren.
Er hatte den Gegner erfasst, sein Zeigefinger krümmte sich zum Schuss. »Jetzt?«
»Auf drei«, erwiderte Dana. »Wir haben nur eine …«
Ansatzlos kehrte die Schwerkraft zurück.
Schlagartig ging es für Viktor abwärts. Geistesgegenwärtig rollte er sich über die Schulter ab, verlor aber das G36. Immerhin schaffte er es, sich nicht das Genick oder einen Knochen zu brechen.
Dana landete geschickt auf den Füßen und ließ sich auf ein Knie herab. Ihre Mündung schwenkte auf die Bestie, die von der Wand auf den Boden sprang, ohne das Rennen zu unterbrechen. Wichtig blieb, nicht erneut in Panik zu verfallen, ganz egal, welche Tricks ihr Gegner beherrschte. In den Fingern musste Ruhe bleiben. »Troneg, achten Sie drauf, wo das Vieh rauskommt.« Sie gab rasche Einzelschüsse ab.
»Tmmoksuar?« Viktor griff seine Waffe und hob sie an. Deutlich sah er, wie die Kugeln zwei Zähne abbrachen, ein Loch tat sich am hinteren Gaumen auf.
Anstatt unter den Treffern zusammenzubrechen, verschwammen die Umrisse der Kreatur. Mit dem nächsten Herzschlag erschien das wütend fauchende Wesen unmittelbar vor Dana. Teleportiert. Durch die Dimensionen bewegt. Zu schnell für die menschliche Wahrnehmung gerannt – was auch immer.
»Oh, fuck!« Viktor schaltete auf Dauerfeuer und setzte das gesamte Magazin in die Flanke und den Schädel des Gegners. Der Rückstoß rüttelte in seiner Schulter, aber er hielt unbeirrt auf sein Ziel.
Trotzdem bekamen die fingerlangen, gleißend weißen Fänge den Lauf von Danas G36 zu packen.
Fix sprang sie rückwärts und zog die Finger weg. »Erledigen Sie das Ding!«, rief sie und riss die P99 aus dem Holster.
Zu Viktors Freude hackten sich die Projektile durch die dünnere Hautpanzerung und das Fell. Ein Auge der Bestie platzte unter dem Beschuss, weißgrünliches Blut spritzte durch die Halle, gegen die Türen und auf den Boden; beißender Rauch stieg von den Rahmen auf.
Kreischend fuhr die Kreatur herum. Erneut waberten ihre Konturen und erschwerten das Zielen. Sie schleuderte das erbeutete Gewehr zur Seite.
Und spurtete auf Viktor zu.