Kapitel IX

Hinter Tür X

Friedemann spurtete ohne Helm durch den Wald, schlängelte sich durch die dicht stehenden Bäume und den hüfthoch wachsenden Farn. Das Funkheadset hatte er längst abgeschaltet.

Er blieb keuchend stehen, um zu horchen. Seine Lungen brannten, die Luft schien nicht genug Sauerstoff zu enthalten. Der Eindruck des Verwirrten, den er für Dana gespielt hatte, schwand von einer Sekunde auf die nächste. Den Knüppel warf er weg, er stützte sich auf seine Oberschenkel und versuchte, seine Atmung zu beruhigen. Nach ein, zwei Minuten atmete er wie gewohnt und gönnte sich ein Lachen.

Er nutzte die Pause, um seine Brille zu reinigen, auf der sich Dreck und Schweißtropfen festgesetzt hatten. Danach suchte er das Büchlein heraus.

»Ihr bekommt mich nicht. Ich kenne eure Tricks«, raunte er und blätterte. Als Besitzer des Notizheftchens war ein unleserlicher Name eingetragen, verwischt durch die Dekaden, die es durchlebt hatte, und er lautete erkennbar nicht Friedemann.

Seite um Seite flog unter seinen Fingern dahin, mehrmals erschienen die Bezeichnungen Arkus, arcus und Arc Project, doch er suchte etwas anderes. Schließlich fand er im hellen Vollmondlicht die entscheidende Stelle. Handschriftlich war eingetragen:

TIMIDUS

- Kammer mit Ängsten und Schreckensszenarios; manche für sämtliche Personen gleich, manche divergieren

- als Falle konzipiert gegen Eindringlinge

- sich bewusst machen, dass es künstlich ist!

- Durchgangstür 2 mit beliebigem Particula zu finden und zu öffnen

- längeren Aufenthalt vermeiden. Kann bleibende Nervenschäden auslösen

»Professor?«, erklang Viktors besorgte Stimme von weiter weg. »Wo stecken Sie?«

»Rentski? Fendi? Irgendwer?«, schallten Spangers Rufe hinterher.

Friedemann wischte sich den Schweiß von der Stirn und lachte leise. »Ihr unwissenden Trottel.«

Er öffnete im hinteren Einband des Büchleins eine kartonierte Umschlagtasche, in der ein fingernagelflaches Steinchen lag. Der Verfasser hatte dieses und weitere Fragmente Particula genannt. Über die Herkunft wurde spekuliert, man vermutete ein unbekanntes Metall aus dem Erdinneren oder Meteoriten. Das Stück ähnelte Schiefer, glänzte jedoch glatt und poliert, als wäre es eine Legierung. Für dieses kleine Ding hatte so mancher gemordet, und zwar nicht nur einmal.

Vorsichtig nahm Friedemann das hauchdünne Steinplättchen zwischen Daumen und Zeigefinger, drehte sich um die eigene Achse, bis er ein leichtes Schimmern auf dem Stück zu sehen glaubte. Das Particula zeigte ihm den Weg zum zweiten Ausgang, wie es der Verfasser des Büchleins notiert hatte.

»Sehr gut.« Beruhigt steckte Friedemann das Notizbuch ein und rannte in die vom Particula vorgegebene Richtung; dabei versuchte er, so wenig Geräusche wie möglich zu machen.

Friedemann ignorierte sowohl das Geheule der Bestien, das Jaulen der Sirenen und das Donnern der Flugzeuge und die Explosionen der Bomben. Nichts davon wurde real, solange man sich dem Szenario nicht unterwarf. Der Timidus, die Furcht, musste abprallen, sonst manifestierte er sich und vermochte alles und jeden zu töten, auf den er traf. Das war die Wirkung des Raumes. Die Besonderheit dieses Ortes.

In den Aufzeichnungen stand, dass diese Kammer zur Ablenkung und Abwehr von Feinden fungierte. Die Eingeweihten gelangten hindurch und verließen sie durch die zweite Tür, aber alle Unwissenden mussten entweder in die Halle zurückkehren, oder sie starben durch das, was ihnen der Timidus als wahr vorgaukelte.

Friedemann eilte weiter.

Durch die Bäume näherte sich das Blitzen einer starken Lampe. Die gegnerische Truppe bewegte sich auf ihn zu.

Er schlug einen Bogen, um ihnen zu entwischen. Dabei entdeckte Friedemann im Lichtkegel eine junge Frau in Kampfrüstung, die auf dem Boden lag. Das angeleuchtete Gesicht mit den Sommersprossen, das blitzende Nasenpiercing, die roten Locken gehörten eindeutig Anna-Lena van Dam. Über ihr ragte die Silhouette eines Gepanzerten auf, der ein Gewehr mit aufgesetzter Lampe auf sie richtete.

»Viel Glück, Kleines«, murmelte Friedemann und setzte seinen Weg fort. Er hatte Größeres zu vollbringen, als das Leben einer zu neugierigen Frau zu retten. Am ausgestreckten Arm hielt er den Splitter in der Hand und ließ sich von ihm führen.

Es dauerte nicht lange, und er erreichte jene zweite Tür, von der im Büchlein die Rede war, gut verborgen und im Gestein eingelassen, aber sichtbar, sobald man wusste, dass sie existierte.

»Ha«, machte Friedemann triumphierend und nahm das Notizheft wieder heraus.

Nach ein wenig Suche fand er die Passage, die ihm verriet, wie er dieser Umgebung entkommen konnte: Es gäbe eine Stelle im Türrahmen, die mit einem der besonderen Steine berührt werden solle. Nur wer wisse, wie die Markierung aussah, werde sie finden. Danach solle man Druck ausüben, um eine Reaktion in Gang zu setzen. Das könne leicht oder mit einem Schlag geschehen.

Friedemann machte sich an die Arbeit, und: »Da ist sie ja.«

Behutsam presste er seinen hauchdünnen Splitter gegen die markierte Stelle. Er wagte nicht, fester zu drücken, um das Gestein nicht zu zerbrechen. Er hatte in den Aufzeichnungen etwas von einer starken exothermen Reaktion gelesen, mit der die Particulae sich zersetzen konnten. Er hatte nicht vor, in einer Explosion zu verglühen.

Sein Pressen reichte jedoch nicht aus. Die Tür blieb verschlossen.

Hinter Friedemann erklangen schwere Schritte, ein Funksprechgerät gab elektronische Piepsgeräusche von sich. »Die Kleine haben wir. Auge vier hat sie geschnappt. Aber da ist noch eine Spur. Wir folgen ihr.«

Friedemann erhöhte den Druck auf das Steinchen. Fangen lassen wollte er sich gewiss nicht. Er stand kurz davor, weitere Rätsel um die Türen und die Particulae zu lösen, sein Plan hatte ihn nach Jahren der Vorbereitung endlich an diesen Ort geführt. Das durfte kein hässliches Ende finden. Dafür hatte er in der Vergangenheit zu viel geopfert.

Stumm fluchend versetzte Friedemann dem Splitter einen leichten Schlag mit der Faust.

Die Tür flirrte, klickend entriegelte sich das Schloss.

Das Geräusch ließ die Verfolger aufmerksam werden. »Wir haben einen«, erklang der aufgeregte Ruf. »Hey! Stehen bleiben!«

Friedemann dachte nicht daran. Er riss den Ausgang auf, sprang über die Schwelle – und fand sich in dem hallengleichen Raum mit den fünf Türen wieder, aus dem sie aufgebrochen waren. Zwei Bengalleuchten zuckten mit schwachem, letztem Schein. Schwarze Schatten krochen unbemerkt von ihm über den Boden und sickerten in den Spalt unter der zweiten Tür mit der zerstörten Pochvorrichtung.

»Was? Wieso?« Friedemann machte ein paar Schritte weg und versetzte der Tür mit der Fragezeichen-Markierung, aus der er gestiegen war, einen wütenden Stoß. Hier hätte er nicht landen sollen. Er behielt den Splitter in der Hand und blätterte hektisch in dem Notizbüchlein. Was hatte er falsch gemacht?

Noch bevor sich der Ausgang schloss, flog die Tür wieder auf. Zwei Männer in olivfarbener Panzerung und mit geschlossenen Vollhelmen sprangen heraus und richteten kompakte, futuristisch wirkende Gewehre auf ihn.

Friedemann riss die Arme in die Höhe, in der einen Hand das Buch, in der anderen das Particula. »Nicht schießen! Ich ergebe mich.« Er stand so kurz vor seinem Ziel, es musste sich etwas arrangieren lassen. »Ich möchte mit Ihrem Anführer sprechen. Es geht um das Arkus-Projekt.«

»Kann ich mir vorstellen, dass du dich ergeben willst. Knarre weg«, befahl der Rechte mit verzerrter Lautsprecherstimme. »Langsam.«

»Was denn für ein Projekt?«, raunte der andere. »Habe ich noch nie gehört.«

Du wirst einen Freund brauchen, erklang unvermittelt eine leise Stimme in Friedemanns Ohr. Ich kann dir helfen und beistehen. Denn du bist ganz alleine.

Sein Funkgerät war ausgeschaltet. Es konnte kein Frequenzirrläufer sein. Friedemann blickte sich vorsichtig in dem hohen Raum um, entdeckte aber nichts Auffälliges.

Ich bin keine Einbildung, sprach die unbekannte Stimme. Ich kann dir beistehen und dir helfen. Wenn du mir einen Gefallen tust. Quid pro quo.

Friedemann ignorierte das. Er hatte sich in der Vergangenheit schon oft selbst retten müssen, das würde ihm auch jetzt gelingen. Langsam klemmte er das wertvolle Büchlein zwischen seinen Rücken und den Gürtel und zog mit spitzen Fingern die P99-Halbautomatik aus dem Halfter, legte sie auf den Boden. »Diese Arkus-Projekt-Pläne sind eine Gefahr. Für uns alle.«

»Ist mir egal. Ich habe nur einen Job: dich fangen«, erwiderte der Rechte. »Ist mir gelungen, was?«

»Jedenfalls laufen hier mehr rum als von Ritter angekündigt. Ich dachte, es wäre diese rothaarige Lockentussi und noch einer aus dem ersten Rettungsteam«, sagte der Linke. »Ich frage besser mal nach, wie die Lage ist.«

»Verstehen Sie denn nicht? Wir sind in Gefahr!«, rief Friedemann in dramatischem Ton, um die Dringlichkeit zu verstärken. »Ich kann etwas zur Lösung beitragen, bevor eine Katastrophe geschieht. Ich habe das Wissen dafür.« Je unverständlicher und vager er blieb, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn zu ihrem Vorgesetzten führten. »Ich bitte Sie, bringen Sie mich zu –«

»Halt die Fresse!« Der Rechte hob drohend den Lauf seiner Waffe.

In Friedemanns Kopf arbeitete es fieberhaft. Er presste die Hand schützend um den fingernageldünnen Splitter. Improvisation. Darin war er gut.

»Ich erreiche Ritter nicht. Beschissene Interferenzen. Na ja. Nützt nichts. Geh raus ans Seil«, wies der Rechte seinen Begleiter an. »Wir kappen es, dann sind die restlichen Penner aus dem Spiel. Mir gleich, wie viele es noch sind.«

Der Linke ging langsam los. »Und der?« Er zeigte auf Friedemann.

»Was wohl?« Der Finger am Abzug ruckte verräterisch.

Friedemann spurtete wie ein Rugbyspieler mit gesenktem Kopf los und rannte den überraschten Gegner um. Der Zusammenprall tat höllisch weh, die Panzerung hatte Kanten, die sich in seinen dünnen Leib drückten. Aber der Professor gab nicht auf. Er versetzte dem Widersacher einen Ellbogenschlag gegen dessen Helmvisier. Ächzend sank der Mann nach hinten, seine Waffe fiel ihm aus den Händen.

»Scheiße!«, erklang der Ruf des zweiten Gerüsteten, der, ohne zu zögern, auslöste. »Du mieser …«

Der Schuss blieb aus.

»Scheiße!« Panisch fummelte der Mann an seinem klemmenden Gewehr herum und lud mehrmals durch, bis die Blindgängerpatrone seitlich aus dem Auswurf flog.

Friedemann eilte unterdessen zur Tür mit dem zerstörten Klopfer. Um sicherzugehen, dass ihm die Gegner und auch sonst niemand folgte, wählte er diese und hob die Hand mit dem Particula. Er wollte die Nutzung eines Ringes mit seinem Steinsplitter simulieren.

Das Fragment traf auf die Schlagplatte – und zersprang mit einem hässlichen, lauten Ton. Die Tür blitzte auf, ein Kreischen war dahinter zu vernehmen. Anstelle des bekannten Dröhnens hallte ein leises Knacken von der Decke des hallenhohen Raumes zurück.

»Nein«, raunte Friedemann entsetzt und starrte auf die rieselnden Stückchen, die auf den Steinboden bröselten und ihren Glanz verloren hatten.

»Jetzt bist du fällig«, rief der Gepanzerte in seinem Rücken und hob das Gewehr erneut.

Friedemann überwand seinen Schrecken, öffnete die Tür und sprang in die lebendige, zischelnde Dunkelheit dahinter, ohne zu wissen, was ihn erwartete.

* * *