Kapitel VI

Deutschland, Lerchesberg

Walter van Dam starrte auf das Bildschirm-Triptychon vor sich, die Hände zu Fäusten geballt und die Zähne zusammengebissen, dass es knirschte und in den Gelenken schmerzte. Er hatte es nicht mehr im Sessel ausgehalten. Das Sakko hatte er längst abgelegt, Weste und Krawatte geöffnet. Luft. Luft zum Atmen.

Auf den Monitoren flackerten die Ereignisse, welche die Kameras von Viktor und Dana übertrugen. Die miese Verbindung zeigte dem Mittfünfziger halb bewegte Bilder, mal gefror die Übertragung mittendrin ein, mal verwischte und verwackelte sie.

»So eine …!« Er fuhr sich durch die grau melierten Haare und wusste nicht, wohin mit sich. Es war unmöglich zu verfolgen, wie sich die beiden im Kampf gegen diese plötzlich aufgetauchte Bestie schlugen. Der schlechte Ton tat sein Übriges.

Die Signalverstärker verrichteten ihren Dienst nicht wie vorgesehen. Sabotage. Ein unerwarteter Gegner. Warum hatte er das Erzählte seiner Großeltern und seiner Mutter früher nie ernst genommen? All das, was er als junger Mann und danach an Schilderungen, Erzählungen und Bitten verlacht oder abgetan oder verschoben hatte, rächte sich nun an ihm.

Neben den Monitoren lag ein aufgeschlagenes Buch von 1921 mit Beschreibungen der unterschiedlichsten Türen sowie die Loseblattsammlung, die sein Großvater einst angelegt hatte. Daneben stapelten sich seitenweise Notizen, die er in den letzten Stunden angefertigt hatte, bis ihn die Müdigkeit, die Medikamente und der Alkohol bezwungen hatten.

Eingeschlafen. Er war einfach eingeschlafen, während die Truppe nach seiner Tochter suchte. Nach seiner echten Tochter.

Er fragte sich, wo sein Chauffeur Matthias blieb. Er sollte ihm die Person bringen, die seiner Anna-Lena bis aufs Haar glich – abgesehen von der Augenfarbe.

Van Dam glaubte Matthias, der seine Tochter etliche Jahre kannte, dass dies nicht die echte Anna-Lena war.

Nur wer oder was war diese Person?

Oder war es doch sein eigen Fleisch und Blut, das durch die Türen verändert worden war?

Hatten die Türen ein identisches Abbild erschaffen?

Wusste diese Person, wo seine Tochter abgeblieben war?

Er musste sich konzentrieren, musste zusehen, dass er die Benommenheit abschüttelte.

Kaffee. Kaffee wäre mehr als gut. Er strich sich die buschigen grausilbernen Koteletten und den Schnauzbart glatt. Konzerne lenken, Geschäfte abschließen, mit Behörden streiten, Börsengänge vorbereiten und störrische Kontrahenten einschüchtern waren ein Klacks im Vergleich zu dem, was er just erlebte. Durchlebte.

Hätte er auch nur eine ungefähre Ahnung gehabt, was ihm noch bevorstand, wäre er umgehend zu Alkohol und Medikamenten zurückgekehrt.

Erneut froren die Bilder auf den Displays ein, überzogen mit einem Muster aus schwarz-weißen Punkten und Linien.

Van Dam schloss die Augen. Er fühlte sich wie kurz vor einem Herzinfarkt. Sollte diese Bestie auf seine Tochter gestoßen sein, war sie verloren. Das durfte einfach nicht sein!

Seine Blicke richteten sich auf seine Funde.

Herausgesucht hatte er Baupläne des herrschaftlichen Anwesens im Spessart und alte Katasterauszüge, die sich zu unordentlichen Türmchen häuften. Es gab nicht einen Hinweis, wie sich das Labyrinth unter der Villa und dem ehemaligen Sägewerk mit angeschlossener Schreinerei aufbaute. Darauf hatte er eigentlich gehofft.

Seine Großmutter hatte die Werkstatt dereinst in Brand gesetzt, angeblich in einem Anflug von jener Verwirrung, die sie in regelmäßigen Abständen heimsuchte. Sie hatte in solchen Stunden von Bestien gesprochen, von gespenstigen Menschen, von Türen, die ins Nichts und überallhin führten. Von Sklaven und Geopferten, von Ermordeten und schändlichen Verbrechen. Und von Verschwörern, welche die Welt beherrschten.

Danach hatte van Dams Mutter als junges Mädchen einen weiteren Versuch unternommen. Ihr Vorgehen war cleverer gewesen und die Werkstatt nicht mehr zu retten. Im Anschluss daran hatte man der Villa den Rücken gekehrt.

Van Dam erinnerte sich an die Streitereien zwischen seinen Großeltern, das eiserne Schweigen seines Vaters und die geheimnisvollen Erzählungen seiner Mutter, wenn sie die Enkelin besuchte. Bis auf Anna-Lena hatte ihr keiner geglaubt.

Das war seiner Tochter zum Verhängnis geworden.

Plötzlich klingelte sein Smartphone. Die Nummer seines Chauffeurs leuchtete auf dem Display.

Erleichtert nahm van Dam den Anruf entgegen. »Matthias, endlich! Wo stecken Sie?«

Keine Antwort.

»Matthias? Hören Sie mich?«

»Wenn Sie Ihre Tochter wiedersehen wollen, van Dam«, wisperte eine unbekannte Stimme, »und zwar lebend und mit allen Körperteilen, dann pfeifen Sie die zweite Truppe zurück, die Sie nach unten sandten.«

»Was?«

»Das erste Team war bereits ein Fehler. Sie haben es schlimmer gemacht, van Dam.«

»Aber … wer sind Sie? Woher wissen Sie … ?« Er streckte die Hand nach dem letzten Schluck Whiskey aus, hielt inne. »Geht es um Lösegeld? Ich zahle jede Summe, die Sie von mir haben wollen. Bringen Sie mir mein Kind wieder!«

»Sie haben mich verstanden: Pfeifen Sie dieses zweite Rettungsteam zurück, und warten Sie auf weitere Anweisungen. Oder Ihre Tochter stirbt. Ihre echte Tochter. Nicht die Doppelgängerin. Das meine ich ernst.«

Die Leitung wurde unterbrochen.

Van Dam starrte auf die eingefrorenen Bildschirme. Unschlüssig. Durcheinander. Verwirrt und ratlos. Er wusste nicht mal, wie es um Viktor und Dana stand oder wo der andere Teil der Truppe abgeblieben war. Seine Hoffnungen zerbröckelten von Sekunde zu Sekunde.

Die geraunte Drohung machte deutlich, was er befürchtet hatte: Jemand hatte Anna-Lena entführt. Seine Anna-Lena. Und die zuerst Gerettete war tatsächlich eine Kopie.

Sein Handy gab einen Signalton von sich, ein Bild wurde an ihn übermittelt. Absender war Matthias’ Smartphone.

Van Dam öffnete voller böser Vorahnung die Nachricht.

Auf dem Foto lag Matthias auf den Stufen der Veranda, ein dünnes Messer steckte bis zum Heft in seinem Nacken. Darunter stand geschrieben: Denken Sie an Ihre Tochter!

* * *