Kapitel II

Deutschland, bei Frankfurt

Die Fahrt in dem schwarzen Transporter der Reisegruppe Höhlen verlief zunächst schweigend.

Der Mercedes mit den abgetönten Scheiben rollte über die Autobahn, die sie weg vom Flughafen brachte. Matthias fuhr sicher und mitunter mutig, nutzte sämtliche Spuren, um rasch vorwärtszukommen.

Coco Fendi wühlte in ihrer Box mit den Gegenständen, die sie als Medium und Hellseherin benötigte, und begann mit dem Ordnen der durcheinandergeworfenen Steine, Runen und anderem Krimskrams. Dafür klappte sie das Case komplett auseinander und breitete sich weit aus, was die übrigen Mitfahrer zum Zusammenrücken und Ausweichen zwang. Aber es beschwerte sich keiner.

Viktor betrachtete das Gesicht von Dana Rentski in der Reflexion der Scheibe. Sie kam ihm bekannt vor, doch er wusste nicht, woher. Er hatte in der Vergangenheit an diversen Climbing-Wettbewerben teilgenommen, und es war nicht auszuschließen, dass sie sich da über den Weg gelaufen waren. Doch sobald er Anlauf nahm, sie darauf anzusprechen, gab sie mit ihrer Haltung zu verstehen, dass sie keinerlei Interesse an einer Unterhaltung hatte. Sie las auf ihrem Smartphone ein Buch und wollte nicht gestört werden.

Sollte sein Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein, mit seinem alten Beruf zu tun haben, konnte es unschön werden. Es würde bedeuten, dass sie nicht auf der gleichen Seite gestanden hatten.

Spanger döste schmatzend vor sich hin und brummte bei jeder Bodenwelle.

»Nun gut.« Rüdiger Friedemann ergriff als Erster das Wort. Resolut faltete der dürre Mann die Zeitung zusammen, die er soeben ausgelesen hatte, und ließ seinen mokanten Blick durch die Designerbrille durch den Fond schweifen. »Was haben wir hier also?« Er zeigte auf sich. »Einen Geologen und Höhlenforscher.« Dann deutete er auf Dana und Viktor. »Zwei Freeclimber.« Fingerzeig auf die kramende Coco. »Und ein Medium.« Seine braunen Augen richteten sich auf Ingo. »Sie sind unser Doktor, und Sie« – er wandte sich zu Spanger, der die Augen beim Klang der Stimme geöffnet hatte – »stellen bei der Mission unseren Techniksupport dar, wenn ich raten müsste.« Süffisant lächelnd blickte er an dem Mann mit dem auffälligen Bart herab. »Sie sind ein bisschen zu korpulent für schmale Höhlen.«

Spanger rieb sich die Lider und setzte mit einem Räuspern zu einer Erwiderung an.

»Kein Arzt«, kam ihm Ingo zuvor. »Sondern Doktor der Physik und Parapsychologe. Vom parapsychologischen Institut aus Freiburg.«

Friedemann lachte auf. »Ein Geisterjäger? Herr im Himmel! Was für ein Team!«

»Ich bin nicht nur Climberin«, warf Dana ein. »Nebenbei mache ich noch ein bisschen Kampfsport. Es reicht, um Dieben in den Arsch zu treten. Oder arroganten Typen. Das Alter spielt für mich dabei keine Rolle.«

»Touché«, erwiderte Friedemann amüsiert. »Da hat jemand Courage. Sehr erfrischend.«

»Seien Sie ein bisschen netter, Friedemann. Nur weil Sie Professor sind, müssen Sie sich auf Ihren Titel nichts einbilden«, warf Spanger säuerlich ein. »Ich sage ja auch nicht, dass man Ihnen beim Sturm eine Leine an den Zeh binden und Sie als Drachen benutzen kann. Oder als Klappergestell in der Geisterbahn. Oder …«

»Bei allem Respekt: Das ist die merkwürdigste Truppe, die ich jemals bei einer Erkundung zu führen hatte.« Friedemann sah sich im Innenraum um.

»Sie?«, kam es ungläubig aus Danas Mund. Ihr Blick machte deutlich, dass sie ihm nicht zutraute, auch nur eine Stunde im Klettergeschirr zu überstehen. »Sie führen unsere Truppe an?«

Friedemann lächelte. Er hatte seinen Spaß. »So steht es in meinem Vertrag.«

Die Umgebung, die draußen vorbeizog, hatte sich auffallend geändert. Der Mercedes fuhr durch eine noble Vorstadt mit alten Villen und riesigen Gärten.

Viktor war sich mittlerweile sicher, dass er Danas Gesicht nicht mit dem einer Climberin verband. »Helfen Sie mir«, sagte er zu ihr. »Wir kennen uns doch von irgendwoher. Aber es hatte weniger mit Höhlen oder dem Klettern zu tun, oder?«

Sie zuckte mit den Schultern und blickte auf ihr Smartphone und in ihr Buch.

Danas Verhalten war Viktor unerklärlich. Umso mehr forschte er in seinem Gedächtnis, aber die Begebenheit, bei der sich ihre Wege gekreuzt hatten, lag verborgen im Nebel. Oder wurde er Opfer seiner eigenen Einbildungskraft, weil sie jemandem ähnelte, den er kannte?

»Fragen Sie doch unsere Hellseherin, Herr von Troneg.« Friedemann lächelte die sortierende Coco an, während der Transporter langsamer wurde und mit einem sanften Schaukeln anhielt. »Sie wird Ihnen gewiss sagen können, wo Sie sich begegnet sind. Oder in welchem Leben.« Er rollte die Zeitung zu einem dicken Zeigestock zusammen und pochte gegen ihr aufgeklapptes Case. »Mme. Fendi. Gehen Sie doch dem Herrn geistig zur Hand. Beeindrucken Sie uns.«

»Für solche Auskünfte und das Beeindrucken nehme ich Geld«, sagte sie und beendete das Sortieren. Sorgsam schloss sie das Behältnis. »Wir haben alle Rechnungen zu zahlen.« Demonstrativ laut klackte sie die Schnallen zu und warf ihre blonde Lockenmähne mit der schwarzen Strähne nach hinten, eine melodramatische und einstudierte Geste.

Spanger lachte bitter. »Da sagen Sie was. Ich bin übrigens nicht der IT-Nerd, Professor Friedemann. Ich bin Personenschützer.«

Das Lächeln des älteren Geologen wurde bösartig. Ihm lagen eine Million Erwiderungen auf der Zunge, die sich um die Korpulenz des Mannes drehten, aber er behielt die Späße über Kugelfang, Schutzschild und dergleichen für sich. »Sie waren sicher der Beste.«

Das Team stieg aus, Friedemann vorneweg.

Der Mercedes stand in der Auffahrt vor einer imposanten Jugendstilvilla inmitten eines gepflegten Parks. Die Sonne schien warm und freundlich auf die Bäume, es roch nach letzten Sommertagen, obwohl der Herbst sich bereits über das Land legte.

Matthias ging um das Sextett herum und öffnete die Heckklappe. »Bemühen Sie sich nicht. Ich kümmere mich ums Gepäck.«

»Wie bei den anderen?«, entgegnete Dana. Sie hatte sich den Versprecher auch gemerkt.

»Achten Sie bitte darauf, dass sich nichts öffnet«, ermahnte ihn Coco. »Und keine Kratzer! Auch Koffer können Schmerzen spüren. Vor allem, wenn sie so teuer sind.« Das Case mit ihren Utensilien behielt sie in der Hand. Sie zog ein goldenes Pendel an einer silbernen Kette unter ihrem Mantel hervor und richtete es auf die Villa. »Viele Sorgen sind in diesem Haus«, murmelte sie mystisch dunkel.

Ingo bedachte sie mit einem warnenden Blick, aber sie lächelte ihn abschmetternd an. Sie wollte das lebende Klischee sein.

»Sorgen. Und noch mehr Geld«, fügte Spanger hinzu. »Gut für uns. Dann ist es sicher, dass wir unsere Kohle kriegen.«

»Gehen Sie nur«, forderte Matthias sie freundlich auf. »Sie werden von Herrn van Dam sehnsüchtig erwartet.«

Sogleich öffnete sich die Eingangstür, und eine Bedienstete in einem ähnlichen Anzug, wie ihn der Chauffeur trug, bat sie herein. »Folgen Sie mir bitte, Herrschaften. Es ist alles für Sie vorbereitet.«

Die Gruppe ging die Treppe hinauf, durch ein imposantes Entree und quer durch üppig eingerichtete Zimmer und Salons des Untergeschosses. Viktor kam sich vor wie in einem Museum und sah sich staunend um. Er hatte keine Ahnung von Kunst, aber die Bilder, die er auf das 18. Jahrhundert schätzte, hatten sicher ein kleines Vermögen gekostet, ebenso wie der Rest der Kostbarkeiten in den Räumen.

Spanger imitierte die forsche Gangart der Bediensteten und schwenkte seinen großen Hintern nach rechts und links. Coco pendelte unentwegt und machte ein gravitätisches Gesicht, während Ingo, die Hände auf den Rücken gelegt, dahinschritt wie ein nachdenklicher Philosoph.

»Wir sind da.« Die Bedienstete führte sie nach einem knappen Pochen und einer vernehmbaren Aufforderung von der anderen Seite durch eine eindrucksvolle doppelflügelige Tür in das Büro ihres Auftraggebers. »Sollten Sie bestimmte Erfrischungen wünschen oder Allergien haben, lassen Sie es mich wissen. Ich kümmere mich um Ihr Wohl.« Niemand äußerte Sonderwünsche, und sie deutete in den Innenraum. »Ich kehre sofort zu Ihnen zurück, meine Damen und Herren.«

Es roch nach frischem Aftershave, das gut zu dem Raum passte. Die dunkel gehaltene Einrichtung war ein wüster Mix aus Altem und Modernem, Bauhaus und Barock, alles mit Stahl, Leder und etwas Holz angefertigt wie aus der Laune eines progressiven Designers heraus. Dicke, alte Bücher sowie nahezu antike Ordner standen in den funktional nüchternen Regalen, in einer Ecke stand ein großer, mit aufwendigem Schnitzwerk versehener Schrank, der geradewegs nach Narnia führen mochte.

Walter van Dam thronte in einem feinen, dunkelbraunen Anzug hinter seinem Schreibtisch und arbeitete konzentriert an einem Klapprechner. Er war wie Friedemann jenseits der fünfzig, hatte grau melierte Haare sowie einen gleichfarbigen Schnauzbart und Koteletten. Er blickte auf und deutete auf die sechs Stühle vor seinem Schreibtisch. »Meine Damen. Meine Herren.«

Sie grüßten und setzten sich. Die Bedienstete schob einen Wagen mit Kaffee, Mineralwasser sowie Gebäck herein. Danach zog sich die Angestellte zurück. »Ich muss mich vorab für die Eile entschuldigen, mit der ich Sie zum Aufbruch drängen werde. Mir läuft die Zeit davon. Bitte nehmen Sie es nicht persönlich, sollte ich Ihnen unhöflich erscheinen«, eröffnete van Dam. »Darf ich Sie einander vorstellen, oder haben Sie das auf der Fahrt erledigt?«

»Ist bereits geschehen«, verkündete Friedemann. »Sie wissen, dass ich die Leitung innehabe.«

»Dann haben Sie verstanden, dass Sie ein besonderes Team sind«, sagte van Dam geschäftsmäßig. »Mit einem Medium.«

»Allerdings.« Viktor legte den Kopf ein wenig schief. Auf ihn machte van Dam nicht den Eindruck eines esoterischen Spinners, sondern eines geerdeten Businessmannes. »Das wird einen gewichtigen Grund haben?«

»Verzweiflung, nehme ich an«, murmelte Spanger.

Das Geschäftsmäßige an van Dam bröckelte, und er sackte ein wenig hinter dem Rechner zusammen. »Richtig, Herr Spanger. Ich bin verzweifelt«, räumte er leise ein. »Unendlich verzweifelt.«

Die Gruppe tauschte kurze Blicke.

Coco wollte was sagen und richtete das Pendel auf ihn, aber Ingo berührte sie sacht am Arm, damit sie es ließ. Es war für diesen Augenblick wahrlich zu viel des Guten. Sie fügte sich.

Van Dam räusperte sich und nahm einen Schluck Wasser aus dem Glas neben ihm. Einige Tropfen verfingen sich am Bart und ließen ihn glitzern. »Meine Tochter ist seit einer Woche verschwunden.« Er drehte einen Bilderrahmen um, sodass das Gesicht einer rothaarigen jungen Frau sichtbar wurde, höchstens zwanzig Jahre alt, mit Sommersprossen und einem kecken Lächeln. »Ich vermute sie in einem unerforschten Höhlensystem. Allein.«

»Das tut mir leid«, erwiderte Viktor spontan. Er wusste zu gut, wie es war, sich große Sorgen um einen geliebten Menschen zu machen. Als er nachfragen wollte, wo die Tochter abhandengekommen war, wurde er rüde abgewürgt.

»Polizei und Feuerwehr wären dann wohl eine gute Idee«, sagte Spanger und machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Er hatte mit etwas Aufregendem gerechnet. »Oder das Technische Hilfswerk.«

Van Dam bekam seinen geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck zurück. »Ich habe nichts gegen Behörden, aber manche Dinge gehen den Staat nichts an. Eine Hundertschaft neugieriger Feuerwehrleute oder Polizisten sind das Letzte, was ich auf meinem Grund und Boden haben möchte.«

»Ich werde Ihre Tochter aufspüren. Egal, wo sie ist«, versicherte Coco in einem Bühnentonfall, als müsste sie das Publikum unterhalten. Sie konnte es nicht ablegen, sosehr sie es versuchte. »Das verspreche ich Ihnen, Herr van Dam.«

»Genau darauf vertraue ich, Mme. Fendi. Da Sie Doktor Theobalds parapsychologischen Prüfungen standgehalten haben, sind Sie prädestiniert dafür!« Er presste die Hände zusammen. »Wie ich sagte: Mir läuft die Zeit davon. Meine Tochter …« Er unterbrach sich, atmete tief ein und rang um Fassung.

»Wie konnte sie denn auf Ihrem Grundstück verloren gehen?«, wagte Viktor das Nachhaken.

»Und was soll unser Ghostbuster?«, erkundigte sich Dana nüchtern. »Rechnen Sie allen Ernstes mit Geistern?«

»Es gibt keine Geister«, fügte Ingo hinzu. »Nach zweihundert Einsätzen und Untersuchungen wüsste ich das.«

»Ich habe Doktor Theobald zu dieser Unternehmung eingeladen, weil … er naturwissenschaftlich umfassend gebildet ist. Ich möchte Sie sechs bei der Expedition auf alles vorbereitet wissen, um mit jeder Situation klarzukommen«, sprach van Dam nun rasch. »Das Wie ihres Verschwindens sollen Sie herausfinden, Herr von Troneg. Sie erhalten modernste Höhlenforscherausrüstung, genug Proviant, Helmkameras und Senderverstärker, die Sie unterwegs platzieren, damit das Bild bis nach oben zu mir reicht. Meine Klaustrophobie verhindert, dass ich Sie begleite, sonst würde ich meine Tochter persönlich befreien. Wenn ich schon nicht dabei sein kann, möchte ich wissen, was da unten vor sich geht.« Er zögerte kurz. »Verschiedene Schusswaffen und leichte Panzerung gehören ebenso dazu.«

Spanger lachte auf. Seine Laune stieg. »Hoppla! Weil?«

»Wie Sie vielleicht wissen, bin ich ein wohlhabender Mann. Normalerweise sichern Leibwächter meine Tochter, sobald sie sich aus dem Haus bewegt. Aber bei ihrem letzten Ausflug hat sie darauf verzichtet.« Er sah kurz auf seinen Rechner. »Es besteht die Möglichkeit, dass Verbrecher die Gelegenheit nutzten und meine Tochter dort unten festhalten. Deswegen haben Sie unter anderem Herrn Spanger dabei. Als Experte im Umgang mit Feuerwaffen.« Er erhob sich und strich die Weste sowie die Krawatte glatt. »Wie ich sagte: Auf alles vorbereitet sein.«

»Gab es eine Lösegeldforderung?« Viktor kamen die Erläuterungen merkwürdig vor.

»Nein. Die Entführung ist nur eine Vermutung.« Van Dam deutete auf die Tür. »Entschuldigen Sie bitte meine Unhöflichkeit. Und halten Sie mich nicht für unprofessionell, weil ich Sie im Vorfeld nicht einweihte, aber die Prominenz meiner Tochter und die Art der Angelegenheit erfordern höchste Diskretion. Ihre Verträge sind unterzeichnet, die ersten Raten bereits überwiesen. Bitte prüfen Sie gerne Ihre Konten.« Er umrundete den Schreibtisch, den Arm weiterhin auf den Ausgang gerichtet. »Die Zeit drängt, meine Damen und Herren! Zeit, von der meine Tochter womöglich nicht mehr viel hat. Alles, was Sie über die Höhle und Ihre Teammitglieder wissen müssen, steht in den Dossiers, die Ihnen Matthias aushändigt. Sie werden sofort aufbrechen. Professor Friedemann als erfahrenster Höhlenforscher und Geologe leitet das Team, wie er mich darum gebeten hatte. Wenn Sie jetzt bitte …«

Viktor hob die Hand, was van Dam geflissentlich übersah. Trotzdem sprach er: »Entschuldigung, eine Frage zum Abschied: Haben Sie schon mal ein Team ausgeschickt?«

»Nein.«

Die Erwiderung kam rasch und resolut. Nach der Andeutung des Chauffeurs war nun allen klar, dass sie wirklich Team Nummer zwei waren, das aufbrach, und Nummer eins vermutlich nicht zurückgekehrt war. Das gelogene, sehr sichere Nein unterband jedes weitere Nachfragen.

Die Gruppe erhob sich.

Friedemann betrachtete im Aufstehen eingehend den Schrank hinter van Dams Schreibtisch. »Diese Schnitzarbeiten sind spektakulär.« Sein Gesicht bekam einen Glanz, der Experten beim Anblick einer Anomalie oder einer spektakulären Entdeckung eigen war. »Ich habe so ein Exemplar schon einmal gesehen. Und es ist unermesslich wertvoll.«

»Dieses nicht. Es stammt von einem Flohmarkt. Darin befindet sich meine Hausbar.« Van Dam zeigte mit Nachdruck auf den Ausgang. »Bringen Sie mir mein Kind zurück. Lebendig. Und ich mache Sie zu reichen Leuten. Zu sehr reichen Leuten. Die hunderttausend Euro, die jeder und jede von Ihnen bekommen hat, werde ich verzehnfachen, sobald ich meine Anna-Lena wohlbehalten zurückhabe.«

 

Das Team wurde im gleichen schwarzen Transporter, mit dem sie vom Flughafen abgeholt worden waren, durch eine zunehmend abgeschiedene Gegend kutschiert. Es gab viel Wald und wenige Häuser. Matthias verkündete, dass sie innerhalb weniger Minuten ankommen würden. »Stören Sie sich nicht an der Verlassenheit. Es wird Ihre Arbeit nur erleichtern.«

Schweigend las sich das ungewöhnliche Team die Ausdrucke durch.

Sie trugen einheitliche dunkle Militärkleidung, Klettergeschirr, leichte Kevlarwesten sowie Pistolen an Oberschenkelhalterungen oder im Achselholster. Die Halbautomatik sah an Coco aus wie ein Fremdkörper, aber Friedemann hatte darauf bestanden, dass sie nicht nur esoterische Gegenstände zur Verteidigung mit sich führte. Zwei leichte Rucksäcke standen vor ihm und Spanger.

Viktor fand es gewagt, Menschen ohne gesetzliche Erlaubnis und Erfahrung im Umgang mit Feuerwaffen mit Pistolen auszurüsten, Privatbesitz hin oder her. Und dass Laien mit Waffengewalt etwas gegen mögliche Entführer ausrichten konnten, bezweifelte er ernsthaft.

Friedemann legte den Ausdruck zur Seite und tastete an sich herum, als suche er etwas, dann zog er ein abgegriffenes Notizbuch aus der rechten Beintasche. Der Einband sah alt aus, sowohl von der Machart als auch dem Grad der Abnutzung her. Erleichtert warf Friedemann einen Blick hinein und verstaute es unter seiner Kevlarweste, was Viktor nicht entging.

»Viele Infos sind das nicht«, murrte Spanger über seiner Lektüre. »Hier steht nur was zu van Dams Tochter.«

»Was erwarten Sie?« Dana steckte sich einen Kaugummi in den Mund. »Van Dam sagte doch, es geht in ein unerforschtes Höhlensystem.«

Viktor und Coco lachten leise.

Er fand, dass sie ohne diesen überkandidelten Designerklamottenkram viel hübscher und natürlicher erschien. Das stärkte auf wundersame Weise seine Zuversicht, dass das Medium mehr vermochte, als das Offensichtliche zu verkünden. Viktor hatte sie auf die offizielle Untersuchung durch das parapsychologische Institut ansprechen wollen, weil er noch nie von einer echten, geprüften Hellseherin gehört hatte, aber sie blockte ab. Sie müsse sich konzentrieren und mischte ihren Kartensatz neu. Nach dem Auftrag werde sie mit ihm darüber reden, lautete ihr charmantes Vertrösten.

»Ich bin auf die Höhle sehr gespannt.« Ingo legte die Blätter zur Seite. »Ich kenne sonst niemanden, der eine Kaverne sein Privateigentum nennt.«

Spanger fluchte. »Ich mag keine Höhlen.«

»Wundert mich nicht, mein Lieber. Sie sehen eher nach jemandem aus, der viel Platz benötigt. Schmale Gänge sind nicht Ihre Sache.« Friedemann schaute aufmerksam in die Runde. »Ich gehe nicht von einer Entführung der jungen Dame aus.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Viktor bei, der das Dossier bereits auswendig kannte. »Sonst hätte van Dam Leute angeheuert, die sich auf Geiselbefreiung verstehen. Alles andere bringt seine Tochter in Gefahr. Kann sein, dass das erste Team genau so etwas war und mit den Umständen nicht zurechtkam.«

»Danke für Ihre Zustimmung«, sagte Friedemann mit spöttischem Unterton. »Ich rechne mit keinen Problemen. Wir folgen dem Sicherungsseil, von dem im Handout die Rede ist. Ich denke, Anna-Lena van Dam liegt irgendwo verletzt herum und wartet auf Hilfe.«

»Was macht Sie als Geologe eigentlich so besonders, dass Sie unser Anführer sind?« Dana lächelte kühl. Sie stellte Friedemanns Führungsqualitäten infrage, die sie von Anfang an bezweifelt hatte. »Nur aus Neugier.«

Friedemann blieb gelassen. »Sie denken, weil Sie wie ein kleines Gibraltar-Äffchen einen senkrechten Stein hinaufkommen, sollten Sie uns führen?« Er rieb den Daumen über die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger. »Ich sehe, wo das Gestein brüchig ist, wo es gefährlich wird, wo Bruchstellen sind, wo die Besonderheiten liegen. Und welche Wege man besser nicht nimmt. Ich leitete schon Dutzende Expeditionen an den entlegensten Orten dieser Erde. Alle kehrten heil zurück.« Er erwiderte die kalte Freundlichkeit. »Nur zur Information.«

Danas Lächeln erlosch. Sie war dennoch nicht überzeugt.

»Was ist mit dem ersten Team?«, warf Spanger ein. »Was könnte denen geschehen sein, dass van Dam es uns nicht sagen will?«

Coco beendete das Mischen der Karten. »Sie können abgestürzt sein oder haben sich aus dem Staub gemacht oder …« Sie zog das Pikass. »Oh.«

»Oh?«, echote Spanger.

»Das ist die Todeskarte«, hauchte sie und warf dem Personenschützer einen langen Blick zu.

Dana schnaubte verächtlich und band den Pferdeschwanz enger. »Wie gut, dass ich sie nicht gezogen habe.« Sie blickte aus dem Fenster. »Na, was ist das denn? Sieht aber nicht aus wie eine Höhle.«

Der Mercedes-Transporter hielt vor einem heruntergekommenen, monumentalen Sandsteinhaus, das vom Stil her um 1900 errichtet worden war. Eine Prise Klassizismus war an der Fassade noch zu sehen, die sonstigen Verzierungen traten zugunsten von prächtig ausgestalteten Türmchen und Erkern zurück. Farbiges Bleiglas war verbaut worden, es gab Rosetten und kirchengleiche Fenster, deren bunte Scheiben tagsüber für faszinierendes Licht im Inneren sorgten. Für ein verspuktes Geisterhaus sah es trotz seines verlotterten Zustands zu schön aus.

Unmittelbar daneben erhoben sich die Reste einer kleinen Fabrik, die einem Brand zum Opfer gefallen sein musste, wie die Spuren an dem eingestürzten Gebäude verrieten.

Viktor nahm das Dossier und überflog, ob er überlesen hatte, was es damit auf sich hatte. Er fand nichts. Seine Sorge galt der unbekannten Anna-Lena, knappe zwanzig Jahre alt. Eine Woche reichte aus, um zu verhungern, und zweimal, um zu verdursten. Van Dam hatte recht gehabt: Es gab keine Zeit zu verlieren.

Schräg vor den Gebäuden parkte ein schwarzer Rolls-Royce Wraith Black Badge, den Staubspuren nach nicht erst seit gestern. Das Auto gehörte Anna-Lena van Dam und war der sichere Indikator, dass sie sich an diesen Ort begeben hatte. So stand es auch in den Unterlagen.

Viktor prüfte auf seinem Smartphone rasch nach, was er über Friedemann im Netz finden konnte, weil ihn Danas Skepsis angesteckt hatte. Aber die Aussagen stimmten. Der hagere Professor war wirklich eine Koryphäe, nur ähnelte er sich auf den Bildern nicht, sondern wirkte wie ein entfernter Verwandter. Wahrscheinlich sind die Fotos uralt, dachte Viktor.

»Wir sind da«, verkündete Matthias und stieg aus, dabei hielt er einen Tabletcomputer in der Linken. »Wenn die Herrschaften ihre Vorkehrungen treffen möchten?«

Das Team kletterte aus dem Transporter. Viktor und Spanger warfen sich die Rucksäcke mit einem Riemen über die Schulter.

»Dann wollen wir mal.« Dana prüfte ihre Pistole routiniert, nahm das Magazin heraus und ließ den Schlitten mehrmals vor- und zurückgleiten, danach sicherte sie den Abzug und lud die Halbautomatik.

Coco beobachtete sie dabei ganz genau. »Das sah … versiert aus.«

»Schützenverein«, erwiderte die blonde Frau grinsend.

»Ich bringe Sie zum Eingang.« Matthias ging auf die Tür des Gebäudes zu; dabei zückte er einen Schlüsselbund.

»Im Keller liegt also der Eingang zur Höhle.« Ingo zeigte auf den Rolls-Royce. »Warum ist der noch hier?«

»Herr van Dam wollte ihn stehen lassen, falls seine Tochter aus eigener Kraft aus der Höhle findet. Damit sie gleich losfahren oder um Hilfe rufen kann. Es ist ein Notsystem eingebaut.« Matthias ging die Stufen zur Tür hinauf. »Ah, und vergessen Sie die Gewehre nicht. Sie sind unter der Abdeckung im Kofferraum.«

Spanger eilte zum Heck des Transporters, entfernte den Sichtschutz und blickte auf G36-Schnellfeuergewehre mit etlichen Ersatzmagazinen und einklappbarer Schulterstütze. »Das wünscht man sich doch!« Er nahm sich eins und steckte zwei Ersatzmagazine ein. »Das können wir gut brauchen.« Unkundig fummelte er daran herum und suchte den Magazinauswurfknopf, dann zog er am Verschluss, ohne dass sich was rührte. Nicht ein Handgriff ließ den Eindruck entstehen, dass er sich damit auskannte.

Coco und Ingo verständigten sich mit Blicken, keins zu nehmen. Sie konnten ohnehin nicht damit umgehen.

Viktor und Dana betrachteten die vollautomatischen Waffen, als wären es Andenken in einem Touristenladen oder Waren in einer Auslage.

»Gebrauchen kann man die, um sich mit Terroristen anzulegen, ja. Aber nicht in einem Höhlensystem.« Viktor klopfte auf die Pistole in seinem Achselholster. »Die reichen vollkommen auf kurze Entfernung.«

Zu seiner Verblüffung nahm Dana ein G36 aus der Halterung. Sie musterte es knapp, legte an und schwenkte umher, justierte das Fernrohr leicht nach. Dann klinkte sie ein volles Magazin ein, lud durch und sicherte, um sich das Gewehr umzuhängen. Danach steckte sie zwei Patronenfächer in die Halterungen an der Weste. Ohne etwas zu sagen, drehte sie sich um und folgte Friedemann, Ingo und Coco.

Spanger und Viktor sahen ihr verblüfft nach.

»In Höhlen kann es alle möglichen gefährlichen Tiere geben«, rief sie über die Schulter. Sie wusste genau, dass die Männer ihr hinterherblickten. »Höhlenbären, zum Beispiel.«

Viktor zögerte. Niemand ging von einer Entführung, sondern von einer Notlage aus, in die Anna-Lena van Dam geraten war. Er fand es zwar nicht gut, Opfer eines kleinen Anfalls von Paranoia zu sein, aber er griff sich ebenfalls eine vollautomatische Waffe. Die Prüf- und Ladebewegungen fielen ihm ebenso leicht wie Dana. »Da hat sie recht.« Dann ging er los.

Spanger schaute noch verwirrter und lief dann los, was ihn wie einen ungeschickten Bären wirken ließ. »Hey, Rentski! Können Sie mir zeigen, was ich mit der Waffe machen muss?«

»Am besten nicht benutzen«, kam ihre karge Antwort.

Die übrige Gruppe lachte. Sie legten Headset-Funkgeräte an, setzten ihre Helme auf und befestigten sie mit dem Kinnriemen. In speziellen Halterungen befanden sich Kameras, die ihre Bilder via Verstärker aus der Höhle bis zu ihrem Auftraggeber sendeten. In den Rucksäcken befand sich das nötige elektronische Equipment, das es zu platzieren galt.

»Können Sie uns sagen, was das für eine Zaubervilla ist?«, bat Coco Matthias und pendelte unaufhörlich. In einer Gürteltasche verwahrte sie jene Utensilien, die sie zum Aufspüren nutzen wollte. »Das ist sehr, sehr starke Energie, die ich empfange. Hier ist etwas Schreckliches geschehen.« Tatsächlich wirkte ihr Gebaren weniger aufgesetzt als am Flughafen und im Büro.

»Wir sehen die abgebrannte Bude daneben auch«, murrte Spanger. »Aber nur zu. Ich höre mir die Geschichte an.«

»Der Brand des Holzwerkes ist schon ewig her.« Matthias öffnete die Verriegelungen an der bronzebeschlagenen Doppeltür, deren Sturz sowie Einfassung von einem exzellenten Steinmetz mit floralen Elementen verziert worden war. »Das ist ein altes Anwesen, das der Familie van Dam schon lange gehört. Seit das Feuer die Fabrik vernichtet und der Großvater von Herrn van Dam sich von dem Sitz zurückgezogen hat, findet sich keine Verwendung dafür. Das dazugehörige Waldstück ist an eine Jagdgenossenschaft verpachtet«, erklärte er und drückte die schwere Tür auf. »Schalten Sie nun die Helmlampen bitte ein. Es gibt keinen Strom.« Er nutzte sein Pad, um sich Licht zu verschaffen.

Die Gruppe wurde vom Chauffeur durchs verlassene Haus geführt.

Die Möbel lagerten unter weißen Tüchern, dicke Spinnweben spannten sich in den Ecken, und das fellverzierte Skelett eines Hundes lag in einer Ecke.

»Das ist nicht das, was ich spüre.« Coco zog einen Flakon heraus, mit dem sie duftendes Wasser versprühte. »Es hat nichts mit dem Feuer zu tun. Es … es ist etwas Schlimmeres.«

»Uuuh«, machte Spanger und lachte meckernd wie ein kleiner Junge, der »Pimmel« gesagt hatte.

»Reißen Sie sich zusammen, Mann«, schnauzte Friedemann ihn an. »Wer weiß, zu was es gut ist, was unsere talentierte Mme. Fendi erspürt. Achten wir ein wenig auf das Ungewöhnliche um uns herum. Es wird nicht schaden.«

Lediglich die einsamen Spuren von Damenabendschuhen führten durch den Staub und Schmutz. Coco machte Ingo darauf aufmerksam. Er wunderte sich wie der Rest der Truppe.

»Sagen Sie, ist das erste Team nicht durch das Haus gekommen, um nach Frau van Dam zu suchen?«, erkundigte sich Viktor, als wüsste er mit Sicherheit, dass bereits eine Suchmannschaft ausgeschickt worden war. »Außer den Abdrücken in Größe 36, die zu Schuhen gehören, mit denen eine Dame auf einen Ball oder in die Oper gehen würde, kann ich nichts entdecken.«

»Verzeihen Sie, aber das entzieht sich meiner Kenntnis«, gab Matthias zurück. Er öffnete eine weitere Tür, hinter der Sandsteinstufen steil nach unten führten. »Weiter werde ich Sie nicht begleiten, Herrschaften.«

Er aktivierte das Display, ein Internetchatprogramm wurde geöffnet. Auf dem Monitor erschien van Dams angespanntes Schnauzbartgesicht. Er wirkte erschöpft und aufgeregt zugleich. »Dort unten beginnt Ihre Mission«, schepperte seine Stimme aus dem Tablet. »Bitte, beeilen Sie sich! Folgen Sie dem Seil! Es ist die beste Spur. Und denken Sie an die Signalverstärker für die Helmkameras, damit ich sehen kann, was Sie sehen.«

»Denken wir, Herr van Dam. Keine Sorge«, beteuerte Friedemann.

Coco nahm eine Kristallkette aus der Gürteltasche und hängte sie sich um. »Wir finden Anna-Lena! Die kosmischen Kräfte sind mit uns.«

»Klar sind sie das. Und die Feuerkräfte auch.« Spanger hantierte am G36, bis Dana es ihm ruppig wegnahm und schussbereit machte.

»Für einen Personenschützer wissen Sie erstaunlich wenig.« Sie deutete auf die Sicherung und hob den Zeigefinger, um deutlich zu machen, dass er auf die Hebelstellung achten musste.

»Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Finden Sie meine Tochter.« Van Dam nickte, das Signal wechselte auf Stand-by.

»Dann los.« Friedemann deutete auf Spanger, der sich in Bewegung setzte. Dana und Friedemann folgten, danach gingen Viktor und Coco; den Schluss bildete Ingo.

Ausgetretene Stufe um ausgetretene Stufe ging es abwärts. Die Lichtlanzen der Helmstrahler zuckten im Raum herum und huschten über alte Backsteinwände wie die verwirrten Strahlen von winzigen Leuchttürmen. Es roch weder muffig noch abgestanden, nur nach kaltem Fels und Staub. Stützstreben aus behauenem Sandstein hielten die gemauerte Gewölbedecke.

Spanger hielt das G36 schief im Anschlag, der Zeigefinger lag nervös am Abzug, als fürchtete er, bereits an diesem Punkt ihres Einsatzes angegriffen zu werden. Sein Helmlicht fiel abrupt auf ein waagrecht gespanntes, rostbesetztes Stahlkabel. »Ich habe das Seil gefunden!«

Er schaute daran entlang zurück: Das Ende des Stahlseils war mehrmals um eine Säule gewickelt und mit einem Karabiner verankert, der alt aussah.

Spanger drehte den Kopf in die andere Richtung, das Licht folgte. Das fingerdicke Kabel führte waagrecht durch eine nach innen geöffnete Tür in die Dunkelheit. Der Strahl seiner Lampe verlor sich in der Finsternis, ab und zu blinkte das gespannte Stahlseil in der Ferne auf. Keine Wände, kein Boden, keine Decke waren jenseits der Tür zu sehen.

»Scheiße, was …?«, entfuhr es Spanger ungläubig. »Das müsst ihr euch ansehen!«

Die anderen erreichten nacheinander den Sandsteinboden. Alle blickten erstaunt auf die offene Tür und näherten sich langsam. Coco hob dabei den Kristallanhänger, aber Ingo drückte ihre Hand nach unten.

»Das nenne ich Höhle, Herrschaften!« Friedemann schob sich nach vorne und leuchtete in das Schwarz. Auch sein Strahl traf nicht auf Widerstand, abgesehen von dem Seil. Mit einer Hand fuhr er am Türrahmen entlang und lächelte, als habe er etwas unsagbar Wertvolles, Herausragendes gefunden.

»Ich höre kein Echo.« Ingo hob einen Steinsplitter vom Boden und warf ihn in die Finsternis. »Mal sehen, wie tief es ist.«

Auch nach etlichen Sekunden des Wartens erklang kein Aufschlaggeräusch.

»Das … ist nicht gut«, raunte Coco.

»Nein, ist es nicht«, stimmte Viktor zu. Seine Nackenhärchen richteten sich auf. »So was habe ich noch nie gesehen. Diese Höhle muss … riesig sein.« Er blickte zu Friedemann. »Was sagen Sie dazu? Kennen Sie so etwas?«

»Nein. Ich schließe mich Ihrer Einschätzung an.« Friedemann sah unschlüssig in die Schwärze.

Dana machte einen Schritt an den Männern vorbei. Sie klinkte einen Sicherungskarabiner sowie eine Leichtlaufrolle in das alte Stahlseil ein und ließ sich in ihr Klettergeschirr fallen. »Hält«, stellte sie fest. »Folgt dem Seil, sagte van Dam.« Sie nahm Anlauf und sprang durch die Tür, schoss am Stahlseil entlang in die Dunkelheit.

»Los, Spanger! Hinterher«, befahl Friedemann.

Spanger fluchte und hakte sich ein. Mit einem Sprung folgte er Dana, während Friedemann umständlich an seinem Klettergeschirr herumnestelte. Es gelang ihm nicht, die Karabiner am Kabel zu befestigen. Ingo assistierte Coco derweil, die letzten Gurte um den Körper festzuzurren, wobei sie ein wenig jammerte.

Viktor betrachtete Friedemann bei seinem linkischen Versuch. Auch das fand er seltsam. Ein Höhlenforscher dieser Güte sollte solche Bewegungen im Schlaf beherrschen. »Ist es das erste Mal, dass Sie so was benutzen?«

»Ja. Bei meinen sonstigen Expeditionen brauchte ich kein Geschirr«, erklärte der dürre Geologe fahrig und fluchte. »Nicht solches jedenfalls. Ich konnte das mal, Herr Troneg.«

Viktor half ihm, aber seine Blicke machten seine Zweifel an der Aussage deutlich. »Kann passieren, Professor«, sagte er.

»Dann los. Retten wir das Mädchen. Sie bilden den Schluss.« Friedemann hetzte Dana und Spanger hinterher; es folgten der Parapsychologe und das Medium.

Viktor hörte das Surren der Leichtlaufrollen aus der Dunkelheit und sah die fünf Lichtlanzen verloren durch die Schwärze huschen. Anstatt sich auf den Weg zu machen, prüfte er die Befestigung des Seils an der Säule. Obwohl fünf Erwachsene daran hingen, zeigte sich das korrodierte Kabel unbeeindruckt von der Last.

»Hier stimmt gar nichts«, sagte er zu sich selbst und verzog den Mund. Eine junge Frau, die in einer Nobelkarosse zu einem abgelegenen Haus fuhr und mit Abendschuhen an den Füßen an einem Stahlseil auf Erkundung ging? In eine Höhle ohne Boden und Decke? Ein Suchtrupp, der keine Spuren hinterließ? Niemals. Die Dossiers zur Einführung taugten nichts, es gab keine Karte, und ihr Auftraggeber verschwieg, dass es ein erstes Team gegeben hatte.

Aber Auftrag blieb Auftrag. Und hunderttausend Euro mit Aussicht auf eine Million waren nicht zu verachten. Die konnte er sehr gut gebrauchen. Das G36 an sich zu spüren, war ihm vertraut, auch wenn er gehofft hatte, so etwas nie wieder fühlen zu müssen, geschweige denn einzusetzen. Sein altes Leben ließ sich nicht abschütteln.

Viktor betrachtete den geschnitzten Türrahmen. Sein Helmlicht huschte über die Zargen. Ein eingelassenes Steinchen, das ein wenig an Katzengold erinnerte, reflektierte die Helligkeit.

Eine Tür in ein Höhlensystem, dachte er. Wer baut solchen Unfug? Er klappte die Tür leicht zu, bis die Kante auf das Kabel traf, und entdeckte auf der Innenseite einen rätselhaft geformten Türklopfer: Ein Fratzenkopf hielt einen korrodierten Metallring zwischen den Fängen.

Was ist denn das? Viktor berührte den Schädel des Fantasiewesens und fuhr über die grob gestalteten Zähne. Etwas Ähnliches hatte er schon mal gesehen. In seinem alten Beruf. Die Bilder poppten in seinem Verstand auf: das Rattern der Waffen, der heiße Wind, das Blut und die Schreie.

Schnell suchte er nach etwas, worauf er sich konzentrieren konnte, um nicht gänzlich in die Vergangenheit zu kippen. In das Trauma, das man nie besiegte. Wie es wohl klingt, wenn man klopft? Seine Finger hoben den Ring behutsam an.

Erneut kribbelte es in seinem Nacken, die Härchen richteten sich auf. Durch die Handschuhe glaubte er, unsichtbare Energie in dem Metall fließen zu spüren. Keine gute Idee?

»Troneg! Wo stecken Sie?«, kam Friedemanns Stimme aus weiter Entfernung und ohne Echo. »Alles in Ordnung?«

Viktor senkte den schweren Ring langsam ab, was ein unheimliches Quietschen erzeugte. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn mit Wucht herabsausen zu lassen. Auch ohne ein Medium zu sein, warnte ihn ein leises Stimmchen im Hinterkopf, dass etwas Unvorhersehbares geschehen könnte, sollte er es ausprobieren.

»Ich komme. Habe nur die Verankerung geprüft.« Viktor klinkte sich ein und nahm Anlauf bis zur Säule, um möglichst viel Geschwindigkeit zu erreichen. Tief atmete er durch. »Was immer das ist: Es ist keine einfache Höhle«, murmelte er und rannte los.

Mit einem Satz warf er sich am Seil durch die Tür.

Gleichzeitig erklang Spangers Schrei aus großer Entfernung. »Scheiße, nein! Nein!« Ein G36 röhrte auf, und weit vor Viktor schnitt grelles Mündungsfeuer durch die Dunkelheit.

Und das Licht reflektierte auf Fels.