Hinter Tür X
Coco lag unter dem Dach des Farns zusammengekauert und hielt sich die Ohren zu.
Sie atmete schnell, zitterte, die Augen fest zusammengepresst. Nicht eine Sekunde länger hatte sie es ausgehalten, in der Gegend umherzustehen, während die Sirenen jaulten und das entfernte dunkle Wummern der Bombermotoren erklang. Der nach Gras und Erde duftende Nebel umwaberte sie mit kühler Barmherzigkeit, als versuchte er, sie vor dem Schrecken zu schützen.
Coco kannte diese Art von intensiver Angst nicht, die Denken und Bewegen unmöglich machte. Ihre Gedanken kreisten um die Bomber mit ihrer tödlichen Fracht, zeigten ihr Bilder von Detonationen, von Feuer und Flammen und Verderben.
Und Coco im Mittelpunkt.
Sie musste weg! Auf der Stelle!
Coco öffnete die Lider. Ihr Blick richtete sich auf das Pendel, das keine zwei Armlängen von ihr entfernt auf dem Erdboden lag und durch die weißen Gespinste schimmerte. Lockte. Nach ihr rief, um ihr den Ausweg aus dem anstehenden Bombenhagel zu zeigen.
Coco nahm eine Hand vom Ohr und streckte sie nach dem Pendel aus. Doch es fehlten ein paar Zentimeter.
Das Heulen der Sirenen wurde lauter, das Dröhnen der Bombermotoren brachte den Farn über ihr zum Wackeln. Die Maschinen mussten ganz nahe sein, die Schächte geöffnet und kurz davor, die vernichtende Fracht abzuwerfen. Inferno, überall Inferno und Tod.
Du wirst sterben, Beate, sagte eine leise Stimme in dem akustischen Chaos. In dieser rätselhaften Welt wirst du dein Leben verlieren. Wenn ich dir nicht beistehe.
»Wer … wer ist da?« Schnell blickte sie sich um, ohne jemanden im Nebel ausmachen zu können.
Die Stimme lachte gütig. Ein guter Geist, würdest du in deinen Bühnenséancen sagen. Ach ja, wie viele wissen, wie es um dich bestellt ist, Beate? Wie viele kennen die Wahrheit? Und deine Schuld?
Coco wusste, worauf der Unbekannte anspielte. Sie hasste ihn dafür, dass er sie mit ihrem echten Namen ansprach. Für einen Moment traten die Bomber und ihre Angst in den Hintergrund. »Hat Ingo mich verraten?«
Ingo hat nichts damit zu tun. Ich weiß viele Dinge. Über jeden von euch. Ihr seid in meiner Welt. Der Unbekannte blieb freundlich. Erinnerst du dich, Beate? An damals? Als dich keiner retten konnte?
Sie erinnerte sich genau, obwohl sie es nicht wollte. Doch die Erinnerung drängte sich durch Angst und Panik und verschaffte sich Platz und Gehör.
Beate saß plötzlich wieder in ihrem dunkelroten Auftrittskleid auf einem Stuhl und wurde von der aufgesetzten Lampe einer Kamera angestrahlt. Ein privater TV-Sender hatte sie um ein Interview gebeten, das sie vor dem geschlossenen Vorhang auf der Bühne gab, einige Tage vor der Show. Ihrer neuen Show.
»Danke, dass Sie Zeit haben. Fangen wir an. Jenny, Aufnahme.« Der Reporter, dessen Name sie vergessen hatte und den sie nicht sah, weil das Licht sie blendete, räusperte sich und legte eine Sekunde Stille ein. »Nach einem Jahr versuchen Sie sich nun an einem Comeback. Als Mme. Coco Fendi. Wie geht es Ihnen damit? Ihre Aufregung muss doch riesig sein.«
Sie lächelte. »Ich freue mich sehr darauf und verspreche Sensationen, die man nicht überbieten kann«, antwortete sie routiniert.
»Kein schlechtes Gefühl wegen damals? Dass sich ein Unfall wiederholen könnte?«
»Nein. Nächste Frage.« Sie behielt das höfliche Lächeln bei. Als Profi kannte sie die Medien und hatte mit fiesen Nachfragen gerechnet. Sie würde es im Anschluss herausschneiden lassen.
»Frau Rasputina …«
»Es heißt Coco Fendi. Oder Mme. Fendi.«
»Mme. Fendi, Sie gelten als Ausnahmetalent und legen Wert darauf, dass ein Großteil Ihrer Show nicht aus den üblichen eingekauften Illusionen besteht, wie sie Bühnenmagierinnen und -magier dieser Welt nutzen. Erklären Sie doch unseren Zuschauern, was Sie damit meinen.«
»Das ist richtig«, erwiderte Beate überlegen. Lügen ließen sich am besten mit größter Überzeugung verkaufen. »Ich habe Zugriff auf Mächte, die den meisten sogenannten modernen Menschen verborgen bleiben.« Ihr gelang es, dabei noch Bescheidenheit vorzutäuschen. »Bei Naturvölkern wäre ich eine von vielen.« Sie entzündete eine Zigarette an einem langen Silberhalter und imitierte gekonnt eine Marlene-Dietrich-Pose.
»Das bedeutet? Geister?«
»Das ist nur ein Teil des Ganzen. Aber ja, ich kann mit Verstorbenen sprechen. Sie nutzen das Ektoplasma, um sich zu manifestieren oder um Gegenstände zu manipulieren.« Mit ihrem perfekt geschminkten Mund formte sie Rauchkringel.
»Ich muss das fragen: Ektoplasma kennen einige von uns aus Ghostbusters. Ist das nicht dieser widerliche Schleim, mit dem das grüne Monster …«
»Slimer.«
»Slimer, genau! Ist damit nicht einer von den Ghostbusters …«
»Nun, die Gebildeten wissen, dass es sich mitnichten um eine Erfindung aus Hollywood, sondern um eine Art geistiger Energie handelt, die bereits vor 1900 erforscht wurde.« Nun erlaubte Beate sich ein bisschen sexy Herablassung und warf ihre langen blonden Haare zurück, die schwarze Strähne hing weiterhin herab und zeichnete einen Schatten auf ihr Gesicht, als ginge ein Riss hindurch. »Damals wagten sich die Medien noch an die Öffentlichkeit. Später wurden sie ausgelacht. Ich möchte den modernen Menschen zeigen, dass es Magie wirklich gibt.«
»Das ist sehr spannend, Mme. Fendi. Sie haben sich sogar freiwillig einem Test unterzogen, heißt es. Sie wären damit die erste Frau, die so etwas wie ein Zertifikat besitzt. Ein Geister-Zertifikat.«
Beate spürte, dass sie eine Sekunde genervt aussah, nickte aber. »Es heißt ein bisschen anders, aber im Grunde ist es der Nachweis, dass ich in der Lage bin, mit dem Jenseits Kontakt aufzunehmen. Unter anderem. Es kostet aber sehr viel Kraft und ist leider nicht aus dem Stegreif zu bewältigen.«
»Doktor Ingo Theobald vom parapsychologischen Institut aus Freiburg hat Sie auf Herz und Nieren geprüft.«
Beate nickte erneut. Sie bewegten sich für ihren Geschmack zu weit von der Werbung für die neue Show weg. Das war im Redaktionsgespräch nicht vereinbart gewesen. »Können wir –«
»Es gibt böse Zungen, die behaupten, Theobald und Sie hätten ein Verhältnis, und nur deswegen –«
»Nächste Frage. Und den Scheiß schneiden wir raus. Das hat da nichts zu suchen«, sagte sie kühl.
»Gut. Das andere ist vermutlich spannender, weil es darüber keine Gerüchte gibt.« Der Reporter räusperte sich ein weiteres Mal. »Mme. Fendi. Es kam vor anderthalb Jahren zu einem schweren Unfall bei einer Ihrer Vorführungen als Rasputina. Ein kleiner Junge verlor bei einem misslungenen Trick sein Leben. Sie wurden der fahrlässigen Tötung –«
»Nächste Frage. Zur Show vielleicht.«
»Dann lassen Sie mich doch mal schweben.«
»Ich wusste, dass Sie so was sagen würden. Dafür muss man nicht einmal ein Medium sein«, gab sie verächtlich zurück und stieß den Rauch angriffslustig direkt in die Kamera. »Aber ich bin keine dressierte Hündin, wissen Sie? Ich bevorzuge es, meine eigene Art von Beweis anzutreten.«
Gleichzeitig klickte es laut, dann fiel die Tonangel auseinander, stürzte ins Bild.
Beate wich ganz gemütlich aus, als hätte sie vorher gewusst, was geschah. »Das sollten Sie unbedingt senden.« Sie setzte sich gerade hin, schaute in die Kamera und schnipste.
Gellend schrie der Kameramann jenseits des grellen Lichts auf. »Scheiße, ich habe einen Stromschlag bekommen! Der Akku! Er hat sich entladen.«
Beate zwinkerte und zog nochmals an der Zigarette. »Wie ich sagte: Ich tue, nach was mir der Sinn steht.«
Die Stimme des Unbekannten lachte leise und drängte sich durch die Erinnerungen, die verblassten und in den Nebel übergingen, der sie umwehte. In der Entfernung waren erneut die Bomber und Sirenen zu hören. Du denkst, es war deine Fähigkeit, die das bewerkstelligte?
»Andere denken es. Das ist, was zählt«, gab sie matt zurück.
Aber was ist, wenn du übersinnliche Hilfe brauchst, um zu entkommen? Wenn auffliegt, dass du eine Betrügerin bist und wieder Menschenleben auf dem Spiel stehen?, plauderte die Stimme weiter. Erinnerst du dich an deinen Verrat, Beate? Den du an einem verliebten Herz begangen hast? Wie schwer wiegt deine Schuld?
Aus den Gespinsten stiegen die Erinnerungen an den Tag, an dem sie und Ingo sich in einem Café gegenübersaßen. Erneut schleuderte sie ihr Gedächtnis in die Vergangenheit.
Es war nicht irgendein Tag.
Es war der Tag.
Sie hielten kurz Händchen, dann zog er die Finger zurück und sah sich um.
Beates Lächeln wurde spöttisch. »Angst?«
»Abschied.« Er sah sie mit ernstem Blick an. »Ich hätte das nicht tun dürfen.«
»Mir gefiel unser Sex.«
»Du weißt, was ich meine: die Expertise über dich. Und dass wir eine Liebesaffäre hatten.«
»Liebe? Du meine Güte!« Beate grinste. »Wer weiß? Vielleicht habe ich dich mit meinen mentalen Kräften kontrolliert, und du konntest dich dagegen nicht wehren?« Sie nippte am Kaffee und strich die hellen Strähnen aus dem Gesicht. »Ich habe dich dazu gebracht, dich in mich zu verlieben. Wäre doch eine passende Erklärung, falls jemand Fragen stellt.«
Ingo lächelte verzweifelt, die runde Nickelbrille ließ ihn jungenhaft schüchtern wirken. »Ich weiß, es war eine einseitige Sache.«
»Es brachte dir schöne Stunden. Beschwere dich nicht.«
»Du weißt, dass ich mir mehr gewünscht habe als ein paar schöne Stunden.«
»Aber ich nicht.« Beate seufzte. »Ingo, benimm dich nicht wie ein verliebter Junge. Wir sind zwei Erwachsene, wir fanden uns gut. Mehr war es nicht.«
»Nicht für dich.« Ingo spielte mit dem Löffel auf dem Unterteller der Kaffeetasse. »Na schön. Es ist nun mal, wie es ist. Ich war ein sentimentaler Trottel. Und vielleicht hast du mich ausgenutzt. Das ändert nichts daran, was ich für dich empfand.« Er hob den Blick und wurde ernst. »Versprich mir, dass du keine Aufträge annehmen wirst, die andere Menschen in Gefahr bringen. Oder ich stelle dich bloß.«
»Was?«, fragte Beate irritiert.
»Nichts mit lebensgefährlichen Bühnenshows oder Polizeiarbeit und der Suche nach vermissten Personen.« Er senkte den Kopf. »Wir beide wissen, dass du ein exorbitantes Einfühlungsvermögen hast – aber mehr nicht. Ich kann nicht erlauben, dass du andere damit in Gefahr bringst oder falsche Hoffnungen weckst.«
Beate schaute aus dem Fenster. »So läuft das nicht. Ich brauche das für meine Zukunft.«
»Beate! Versprich es!«
»Sonst was? Dein Ruf wäre ebenso ruiniert. Die Uni würde dich auf die Straße setzen, und keiner würde dich mehr für irgendwas anstellen, wo du mehr als tausend Euro im Monat bekommst«, giftete sie.
Ingo lehnte sich zurück. »Wärst du eine Hellseherin, hättest du gewusst, was auf dich zukommt.«
Beate musterte ihn. Er sah entschlossen aus, aber sie erkannte die Weichheit hinter seinem ernsten Blick. Sie war die Siegerin und würde es immer bleiben, weil sie sein Herz erobert hatte und einen Teil davon besetzt hielt.
»Du wirst die Gefälligkeit nicht bereuen, Ingo.« Beate erhob sich. »Das kann ich dir versprechen. Mehr nicht.« Sie schob ihm die Zeitung von heute hin. »Seite elf.«
Ingo seufzte und schlug die Stelle auf. Sein vorgetäuschter Aufstand war zusammengebrochen.
MADAME FENDI – Deutschlands erstes zertifiziertes Medium mit der Lizenz zum Geister-Talk!
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Das war das letzte Mal, dass sie Ingo gesprochen hatte. Bis zu ihrem Wiedersehen auf dem Flughafen. Die Szenerie dieses Tages, an dem es zum Bruch zwischen ihnen gekommen war, zerriss und zerfloss zu Nebel und wippendem Farn.
Das Heulen der Sirenen brach über Coco herein, das Donnern der Flugzeugmotoren erklang so laut, als würden die Maschinen direkt neben ihr stehen. Die Todesangst erfasste sie erneut mit ganzer Kraft, und sie schluchzte verzweifelt.
Eine Täuscherin und eine Verräterin der Liebe bist du, Beate, sprach die Stimme, ohne einen Hauch von Hohn oder Verachtung. Du hast einen Freund dringend nötig, der dich aus dieser Lage rettet.
»Ja«, stieß sie hervor. »Bitte, ich tue alles!«
Das musst du nicht, Beate. Denke nur daran, dass ich eines Tages einen Gefallen von dir verlangen werde.
»Ja! Ja, natürlich!«
Gut. Ich gebe dir einen Hinweis, säuselte die Stimme. Folge dem Pendel. Es wird dich hinausbringen.
Ganz in der Nähe erklangen erste Explosionen der einschlagenden Bomben. Die Erde dröhnte und bebte, ein heißer Wind blies über den Farn und drückte ihn hinab. Der Bodennebel rollte unter der Druckwelle davon und ließ sie ohne Deckung auf dem Boden kauern. Sichtbar für alles. Aufspürbar für jeden.
Coco schrie vor Panik, die Blicke auf ihr goldenes Pendel geheftet, das nah und unerreichbar zugleich blieb.
Plötzlich bewegte es sich von ihr weg. Langsam rutschte es über den Boden, als würde es von etwas angezogen werden. Sie solle dem Pendel folgen, hatte die Stimme gesagt.
»Nein! Bleib!«, raunte Coco und kroch unter dem Farn entlang. Sie warf sich nach vorne, um die dünne Silberkette zu packen. »Nicht ohne mich! Du musst mich mitnehmen, ins Freie. Hinaus.«
Ansatzlos stieß ein schwarzer Herrenschuh von oben durch die Stängel und Blätter und drückte ihr Handgelenk in die weiche Erde. Der Saum einer Stoffhose mit Nadelstreifenmuster erschien vor Cocos Augen.
Und das Pendel an der Kette schnellte davon.
Coco schrie vor Furcht und Schmerzen. »Nein! Der Ausgang! Ich muss verschwinden! Das Pendel, es führt mich.« Ihre Blicke blieben auf die Furche gerichtet, welche das goldene Artefakt im Boden hinterlassen hatte. »Lassen Sie mich!«
»Mme. Fendi?«, rief Viktor nach ihr aus weiter Ferne. »Wo sind Sie?«
»Einen Ausgang suchen Sie?« Eine Hand schob sich in ihr Gesichtsfeld, weißes Hemd, Nadelstreifenjackett, goldene Manschettenknöpfe. Die Finger griffen in ihr blondes Haar und zogen sie in die Höhe. »Den kann ich Ihnen bieten.«
»Ja, bitte!« Coco schluchzte und konnte vor Tränen und Nebel kaum etwas erkennen. Der Mann wurde zu einem Umriss, der gut roch und direkt aus einer anderen Welt zu kommen schien, wo es Schönheit und Sicherheit gab. War er die Stimme? Hatte er mit ihr gesprochen? »Bringen Sie mich weg. Ich will weg. Die Bomben, sie werden mich zerfetzen!«
Der schemenhafte Unbekannte führte sie vorwärts, die Hand in ihre Haare geschlagen, und hielt nach einiger Zeit vor einer anderen Tür an.
Coco sah undeutlich, dass er einen Ring dagegenpresste. Es knackte und knisterte entladend, ein gespenstiges Leuchten schoss über das Türblatt, und der Eingang öffnete sich.
»Danke, danke! Sie haben mich gerettet«, wimmerte sie und wurde mit Kraft hindurchgeschoben.
Zusammen mit Coco ging der Unbekannte hinaus und schloss die Tür hinter ihnen.