Kapitel I
Deutschland, Frankfurt am Main
Viktor trat durch den Ausgang für Flugpassagiere, die nichts zu verzollen hatten. Den schlichten weißen Seesack über der rechten Schulter und die leger sportliche Kleidung machten ihn zu einem unauffälligen Mann inmitten vieler Menschen in der Ankunftshalle.
Die Maschine hatte aufgrund eines schweren Gewitters einen Umweg nehmen müssen, sodass aus knappen vierzig Minuten Flugzeit mit Kreisen und Warten auf eine freie Landebahn zwei Stunden geworden waren. Viktors Laune bewegte sich daher auf unterdurchschnittlichem Niveau. Hunger hatte er auch.
Er sah auf sein Smartphone und las noch mal die Nachricht von seinem künftigen Auftraggeber:
Sehr geehrter Herr von Troneg,
freue mich auf Ihre Bekanntschaft und dass Sie gewillt sind, den Auftrag kurzfristig anzunehmen. Sie werden von meinem Chauffeur Matthias in der Ankunftshalle abgeholt. Halten Sie bitte nach ihm Ausschau.
Grüße
Walter van Dam
Viktor schaute sich um.
Es gab nicht wenige Wartende, die Schilder oder Tabletcomputer in der Hand hatten, auf denen Firmenbezeichnungen oder Personennamen geschrieben standen. Seiner war nicht dabei.
Daher setzte er den Weg durch die Halle fort und ließ seine Blicke schweifen. Seine blauen Augen lagen hinter einer Sonnenbrille, auf dem Kopf trug er ein weißes Basecap. Das Gewicht des wasserdichten Seesacks spürte er kaum, der Mittzwanziger war gut im Training, weswegen er es binnen kürzester Zeit nach dem Ausscheiden aus seinem alten Beruf unter die besten Höhlenkletterer geschafft hatte.
»Wo ist denn der Chauffeur?«, murmelte Viktor und hob das Telefon, um seinen Auftraggeber zwecks Nachfrage zu kontaktieren, als er einen Mann in dunkelblauem Anzug mit Kappe und schwarzen Lederhandschuhen entdeckte. Er hielt einen Ausdruck mit Reisegruppe Höhlen vor sich und machte mit Haltung und Miene den Eindruck eines britischen Butlers.
Van Dam hätte ihn Charles nennen sollen, dachte Viktor. Als Arbeitspseudonym.
Viktor schwenkte herum und bewegte sich durch die Menge auf Matthias zu; dabei dachte er über Walter van Dam nach, über den er im Internet wenig gefunden hatte.
Der gebürtige Niederländer stand an der Spitze eines weltweit agierenden Export- und Importunternehmens, dessen Grundstock seine Vorfahren bereits im 18. Jahrhundert mit Überseehandel gelegt hatten. Über ihn selbst war wenig bekannt, er hielt sich aus der Öffentlichkeit heraus und sandte meistens Delegierte zu offiziellen Anlässen. Angeblich war die Van-Dam-Familie weitverzweigt, aber auch darüber hatte Viktor nichts Näheres gefunden. Das war verständlich. Sehr reiche Menschen wurden gerne entführt. Je weniger die Öffentlichkeit über sie wusste, desto besser.
Letztlich spielte es für Viktor keine allzu große Rolle, solange der Niederländer keine kriminellen Geschäfte machte, in die er Viktor hineinzog. Die erste Anzahlung war bereits auf seinem Konto. Und diese war weitaus höher als das, was ihm einst der deutsche Staat für weitaus gefährlichere Aufträge gezahlt hatte.
Neben dem Chauffeur stand ein hagerer Mann von geschätzt fünfzig Jahren, der in seinem karierten Anzug an einen Oxford-Professor erinnerte. Einen Fuß hatte er auf seinen liegenden, sehr teuren Alu-Koffer gesetzt, als wollte er ihn an der Flucht hindern, und er las in einer Zeitung. Sakko und Hose waren Maßanfertigungen, die braunen Schuhe auf Hochglanz poliert. Vor seinen Augen saß eine Designerbrille, die ihn arrogant wirken ließ.
»Guten Tag, die Herren.« Viktor setzte die getönten Gläser ab, in denen sich für eine Sekunde sein Dreitagebart spiegelte. »Herr van Dam erwartet mich. Mein Name ist Viktor Troneg.«
»Willkommen in Frankfurt.« Der Chauffeur deutete eine Verbeugung an. »Ich bin Matthias. Wir warten noch auf die anderen.« Er zeigte auf den Lesenden, der nicht reagierte und sich weiterhin seiner Lektüre widmete. »Darf ich die Herrschaften bekannt machen: Professor Friedemann, seines Zeichens anerkannter Höhlenforscher und Geologe.«
Viktor nickte ihm zu. Friedemann, das schüttere lange graue Haar in einem Zopf zusammengefasst, nickte zurück, ohne den Blick zu heben; das kantige Gesicht hatte etwas Totenschädelhaftes.
»Das ist Herr von Troneg, Höhlenkletterer und Freeclimber«, stellte Matthias Viktor vor. »Soweit ich weiß, von beachtlichem internationalem Ruf.«
»Schön, schön.« Friedemann blätterte um und vertiefte sich in den nächsten Artikel.
Viktor wusste jetzt schon, wen er am wenigsten mochte, egal wer noch zum Trupp gehören würde. »Waren wir alle im gleichen Flugzeug?«, fragte er.
»Exakt, Herr von Troneg.«
»Bitte lassen Sie das von weg. Ich stehe nicht so auf verblichene Adelstitel.« Dann grinste er. »Und wenn es abgestürzt wäre?«
»Das Flugzeug? Unwahrscheinlich«, erwiderte Matthias. »Und zumindest die Hellseherin wäre wohl nicht an Bord gegangen.« Er lachte trocken.
»Hellseherin? Na, das ist doch mal was.« Viktor lupfte das Basecap und strich die längeren schwarzen Haare obenauf glatt nach hinten, bevor die Kopfbedeckung an ihren Platz zurückkehrte. »Und wenn sie doch eingestiegen wäre?«
»Wäre sie schlecht und zu Recht gestorben«, kommentierte Friedemann, ohne aufzuschauen. Mit einer exakten Bewegung richtete er seine Designerbrille.
Viktor grinste und wollte etwas erwidern, als eine Frau seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Und nicht nur seine Aufmerksamkeit, sondern die so ziemlich aller Passagiere, die sich in der Halle befanden.
Gekleidet in ein auffälliges cremefarbenes enges Designerkleid, schob sie einen großen, sündhaft teuren Designerkoffer vor sich her, eine schicke Handtasche baumelte am rechten Arm und gab ihr die Aura eines aufgetakelten Models, inklusive der kaschierenden Sonnenbrille. In der Linken hielt sie ein Behältnis, das vage an ein Beautycase erinnerte. Ihre langen blonden Locken schmückte eine theatralisch schwarze Strähne.
Viktor musterte sie. »Beeindruckende Erscheinung.«
»Ich hoffe, das war Ironie.« Friedemann sah nun doch von der Zeitung auf und verdrehte die Augen. »Schreckliche Person. Saß im Flugzeug hinter mir und verlangte die ganze Zeit Sekt. Man hätte sie mit der Flasche ersticken wollen.«
»Das ist Mme. Coco Fendi«, stellte der Chauffeur klar und hob den Arm, um auf sich aufmerksam zu machen. »Die Hellseherin, Gentlemen.«
»Wirklich? Coco Fendi?« Viktor musste lachen. »Toller Künstlerinnenname.«
»Und wieder hoffe ich, dass Sie ein Freund der Ironie sind, junger Mann. Coco Fendi – eine Mischung aus Handtasche und Modemarke. Ich nehme an, dass sie in Wahrheit Sabine Müller heißt«, steuerte Friedemann bei. »Ein doppeltes Imitat, wenn Sie mich fragen. Nur Imitate haben es nötig, derart klischeehaft aufzutreten, ohne Wirkung zu entfalten.«
Fendi ging suchend ein paar Schritte durch die Halle, dann löste sich der Verschluss am Case, und der Inhalt verteilte sich auf den Hallenboden. Pendel, Kristalle, Tarotkarten, Knochenwürfel und Runensteine kullerten und hopsten umher, als wäre der Zauberkasten eines Magiers explodiert. Es fehlten nur die weißen Kaninchen, eine schwarze Kerze sowie ein bemalter Totenschädel.
»Das hat sie nicht kommen sehen.« Friedemann blickte wieder auf die Zeitung. »Kein gutes Zeichen, Herrschaften.« Das Brillenglas blitzte wie zum Unterstreichen seiner Aussage auf.
Fendi fluchte derart laut und derb, dass es bis zu den Wartenden drang, was im Kontrast zu ihrer Erscheinung stand. Sie ließ den Koffer los und bückte sich aufgrund des engen Kleides ungelenk, um den verstreuten Inhalt zusammenzusammeln.
Viktor wollte sich gerade in Bewegung setzen, um ihr zu helfen, da näherte sich ihr ein breit gebauter Mann in einem engen Sakko, ausgebeulter Jeans und verknittertem Hemd vom Zeitschriftenstand. Nach einem raschen Gruß stellte er sein Gepäck ab und ging in die Hocke, um sich am Aufklauben zu beteiligen.
»Der weiße Ritter für das holde Medium in Not«, befand Friedemann gleich einem sarkastischen Kommentator.
»Mit Verlaub: Das ist Doktor Ingo Theobald«, erklärte Matthias. »Er gehört ebenfalls zum Team.«
»Ah, ein Arzt? Gut.« Viktor kreuzte die Arme vor der Brust. Das Eingreifen konnte er sich sparen, Fendi und Theobald kamen mit dem Aufklauben gut voran. »Trotzdem schade. Ich hatte gehofft, wir hätten noch eine junge Dame im Team.«
»Ich wette, dass Sie den Wunsch bald bereuen würden«, warf Friedemann mit der Grandezza eines versnobten Fünfzigjährigen ein. »Es geht selten etwas über die Weisheit des Alters. Wissen ist Macht. Und diese Dame besitzt weder Alter noch Wissen.«
Viktor wunderte sich, wie der Mann seine Umgebung wahrnahm, ohne die Augen darauf zu richten. Ein Meister des peripheren Sehens, dachte er.
Coco Fendi war so sehr mit dem Zusammenwischen ihrer Utensilien beschäftigt, dass sie ihren Helfer erst bemerkte, als er neben ihr kniete.
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ihr enges Designerkleid zwickte und behinderte sie bei den Bewegungen. Aber das war der Preis von schöner, teurer Kleidung, die sie sich leistete; auch ihre ungebändigten hellen Locken raubten ihr die Sicht, hingen wie ein Vorhang vor ihren Augen. »Ein wahrer Gentleman.«
Ihren riesigen Luxus-Reisekoffer setzte sie wie einen Schild ein, damit niemand sonst ihr Eigentum aufsammelte. Dahinter verschwand die kleine Gruppe um den Chauffeur, der sie zu van Dam bringen sollte.
Coco wandte sich ihrem Retter zu, strich die Haare aus dem Gesicht und erkannte Ingo Theobald, einen Mann Anfang vierzig, der seine graugelben Haare nackenlang trug. In seinem unrasierten Gesicht saß eine jugendlich nerdige Nickelbrille.
»Du?«, lachte sie mehr, als zu sprechen – und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
Ingo ließ es sich gefallen, wenn auch aus Überraschung. »Was machst du hier?«, fragte er verblüfft.
»Arbeiten«, gab sie schnippisch zurück, weil sie hörte, dass es ihm nicht passte, auf sie zu treffen. Sie hob die Tarot-Karten auf. »Und du? Ein Fall, den es zu untersuchen gibt?«
»Arbeiten.« Er musterte sie, dann sah er an ihrem Koffer vorbei zum winkenden Chauffeur in Uniform. »Sag nicht …«
Coco hob den Blick und begriff. »Nein! Du auch?«
Ingo seufzte und nahm ihre freie Hand. »Tu das nicht, Beate. Es wird sicherlich gefährlich!«
»Es ist sehr gut bezahlter Job«, entgegnete sie. »Und nenn mich nicht so. Ich bin Coco Fendi, Medium und berühmte Hellseherin. Bekannt aus Funk, Fernsehen und Internet. Weißt du, wie viele Follower ich habe?«
Sie hatten die verstreuten Sachen eingesammelt und wüst durcheinander in dem Case verstaut. Zum Sortieren war später noch Zeit.
Ingo fasste es nicht, Beate wiederzusehen, und dann noch zu erfahren, dass sie für das gleiche Unternehmen angeheuert worden waren. Er blickte sie vorwurfsvoll an und wollte etwas erwidern. Etwas Gemeines. Dass sie doch hätte wissen müssen, dass sie sich am Flughafen begegnen würden, als Hellseherin. Er ließ es. »Glaubst du nicht, dass dein Outfit ein bisschen too much ist? Du bestätigst jedes Vorurteil, das man gegenüber medial begabten Menschen nur haben kann.«
»Das ist Teil meiner Vermarktung. Ich bin wie Elvira, Mistress of the Dark. Nur eben die stilvollere Version.«
»Du weißt, dass Elvira das Horror- und Gothic-Genre persiflierte?«
»Mir egal. Ich gebe den Menschen, was sie erwarten. Das macht sie glücklich. Die Leute lieben Klischees. Du weißt, dass ich es anders versuchte und scheiterte. Also kriegen sie die überkandidelte extravagante Hellseherin.« Coco küsste ihn noch mal hinter dem Koffer und berührte seine Wange. »Spiel mit. Bitte. Wir haben heißen Sex, sobald wir wieder oben sind, das verspreche ich dir!« Eindringlich sah sie ihn an. »Bitte, Ingo! Du hast es doch erst mit deinen Expertisen ermöglicht, dass ich diesen Job bekommen habe!«
»Wir reden aber nicht von einer deiner Unterhaltungsshows, bei denen du deine Follower bespaßt«, gab er besorgt zurück.
»Lass mich einfach meine Sache machen, okay?«, bat sie merklich kühler. Die beiden Küsse hatten ihre bezirzende Wirkung verfehlt, und das ärgerte sie. Sie schloss das Case, klackend rasteten die Schnallen ein. »Dieses eine Mal noch. Dann habe ich genug Geld zusammen.«
Ingo verzog den Mund und schwieg, während sie sich erhoben. Beate war immer in finanziellen Nöten, was an ihrer Vorliebe für ein kostspieliges Leben lag. Sie sah sich in der Tradition der Diven aus den Goldenen Zwanzigern, nur dass sich heutzutage keine edlen Spender mehr unter den Männern fanden, die einer Spiritistin aus Achtung den Unterhalt finanzierten. Dass sie wie ein übergrelles Abziehbild wirkte, störte sie nicht. Ihre Erklärung dazu fand er einleuchtend, teilte sie aber nicht. Beate war alt genug, um zu entscheiden, wie sie wahrgenommen werden wollte.
»Im Gepäck geirrt?«, sagte eine strenge Frauenstimme hinter ihnen.
Ingo und Coco wandten sich um.
Keine zwei Meter entfernt stand eine Mittdreißigerin in Stadttarnhose und einem engen Feinripp-Unterhemd, darüber trug sie eine abgewetzte braune Lederjacke im Militärlook; in der rechten Hand hielt sie einen Kaffeebecher, aus dem heißer Dampf aufstieg.
Der Satz hatte nicht ihnen gegolten, sondern einem jungen Mann mit rundem Anglerhütchen, der ertappt dreinblickte. Mit ihrem rechten Stiefel hatte sie seinen Koffer angehalten – der eigentlich Ingo gehörte.
»Hey! Das ist meiner«, protestierte Ingo.
»Passiert ja leicht, an einem Flughafen, dass man sich den falschen Koffer nimmt«, sagte die trainierte Unbekannte, die ihre halblangen blonden Haare in einem Zopf trug. Sie bildete den absoluten den Gegenentwurf von Coco, was das Erscheinungsbild einer Frau anging. Mit der einen konnte man Kriege gewinnen, mit der anderen Soldaten an der Front unterhalten.
»Lassen Sie mich!« Der Dieb wollte tatsächlich mit seiner Beute an ihr vorbei. Die Gier schlug die Vernunft.
Die Mittdreißigerin machte einen Ausweichschritt und sandte ihn mit einem Schlag gegen seinen Solarplexus zu Boden. Keuchend blieb der Mann liegen und hielt sich die Brust.
Sie grinste auf ihn nieder und trank schlürfend von ihrem Kaffee. Es war nicht ein Tröpfchen aus dem Becher verschüttet worden. »Ist glatt hier. Da kann man sich ratzfatz auf die Fresse legen. Gut, dass du dir nichts gebrochen hast.« Sie hob ihre Hand. »Meine Manus ist härter als dein Sternum. Finde raus, was das heißt.«
Zwei aufmerksam gewordene Sicherheitskräfte näherten sich. »Kann man Ihnen helfen?«, erkundigte sich einer und hob sein Funkgerät, um die Zentrale zu benachrichtigen.
Die Unbekannte wandte sich mit einem bösen Grinsen an Ingo. »Sicherheitshinweis: Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt.«
Er lächelte und reichte ihr die Hand. »Danke! Ohne Sie wäre ich aufgeschmissen gewesen.«
»Gut, dass Sie da sind.« Coco erklärte den Security-Mitarbeitern, was sich zugetragen hatte. Der Dieb wurde aufgehoben und mit Kabelbinder gefesselt.
»Ah, die Herrschaften der Reisegruppe Höhlen haben zueinandergefunden«, sagte der Chauffeur, der mit den beiden Männern unbemerkt zu ihnen getreten war. »Matthias ist mein Name. Herr van Dam schickt mich, um Sie alle zu ihm zu bringen.« Er deutete in der Runde umher und stellte sie einander vor. Auch die militante Kaffeetrinkerin gehörte dazu.
»Die aufmerksame Dame ist Frau Dana Rentski, ihres Zeichens Freeclimberin«, schloss Matthias die Vorstellungsrunde. Allgemeines Händeschütteln setzte ein.
»Aber noch sind wir nicht vollzählig«, sagte Matthias. »Eine Person fehlt uns noch. Dann können wir aufbrechen. Alle weiteren Erklärungen erhalten Sie von Herrn van Dam.« Matthias wandte sich den beiden Flughafenmitarbeitern zu und reichte ihnen eine Visitenkarte – falls es noch weitere Fragen gäbe, welche die Aussage und die Sicherheitskameras nicht abdeckten –, dann führten die Männer den ertappten Dieb ab.
»Schöne Show«, sagte Viktor zu Dana. Ihm waren weder der feste Händedruck noch die sportliche Figur entgangen.
»Danke.« Sie trank ihren Kaffee aus und warf den Becher zielsicher in den Papiermülleimer. »Ich helfe, wo ich kann.«
Über die konträre Gruppe bereitete sich Schweigen aus, keiner wollte ein Gespräch beginnen. Friedemann las wieder in der Zeitung.
Währenddessen eilte ein übergewichtiger Mann in verknitterter heller Stoffhose und einem geschmacklosen bunten Hemd aus der Abfertigung. Offenbar hatte er versucht, Bart und Frisur des Comichelden Tony Stark zu kopieren, aber der restliche Look und die Physis wollten nicht dazu passen, und so wirkte er mehr wie eine Karikatur von Magnum.
Viktor ahnte, dass es sich um die erwartete letzte Person handelte, die van Dam angeheuert hatte. Der Mann war ihm auf den ersten Blick unsympathisch. Noch unsympathischer als Friedemann.
Die billige Magnum-Kopie sah die Gruppe, hob den Arm zum Gruß und stampfte auf sie zu.
»Pass doch auf«, schnarrte er einen kleinen Jungen an, der an der Hand seiner Mutter ging, und bahnte sich rücksichtslos seinen Weg zu den Wartenden. »Sorry. Da war eine lahme Oma, die ihren Koffer nicht vom Band bekam. Ich musste ewig warten, bis ich an meinen kam. Die wollte ihren Rollator nicht loslassen und humpelte ihrem antiken Schrottkoffer in Zeitlupe nach.« Er nickte in die Runde. »Freut mich. Carsten Spanger mein Name, aber ihr könnt mich Tony nennen.«
»Helfen hätte geholfen«, kommentierte Dana kühl.
Carsten kratzte sich am Kopf. »Wer hätte mir denn helfen sollen?« Dann lachte er, um klarzumachen, dass er sie absichtlich falsch verstanden hatte. »Und? Bin ich der Letzte?«
»Solange Sie nicht das Letzte sind«, erwiderte Dana.
Viktor lächelte gewollt halbherzig.
»Du meine Güte. Ich hab’s ja verstanden«, gab Spanger zurück. »Machen Sie keinen Aufstand. Das nächste Mal bin ich ein netter Pfadfinder und helfe älteren Damen.«
»Wir sind vollzählig.« Matthias übernahm die Führung, bevor der Schlagabtausch der beiden in eine neue Runde ging. »Wenn Sie mir folgen möchten?«
Gemeinsam verließen sie die Halle und standen alsbald vor einem schwarzen Mercedestransporter. Nacheinander stiegen sie ein, Viktor und Dana halfen dem Chauffeur rasch beim Verstauen der Koffer im Laderaum.
»Danke, sehr freundlich. Das waren die anderen nicht«, sagte Matthias und reckte die Arme nach der Heckklappe, um sie nach unten zu ziehen.
»Die anderen?«
Matthias merkte, dass er sich verplappert hatte. »Die anderen, Herr Troneg.« Er schloss den Kofferraum, lächelte verhuscht und deutete auf den Einstieg, bevor er auf den Fahrersitz flüchtete.
»Bitte sehr, nach Ihnen, Frau Fendi.« Carsten ließ ihr den Vortritt und musterte ihren Hintern, als sie sich zum Einsteigen nach vorne beugte, und wackelte mit den Augenbrauen wie eine lüsterne Bauchrednerpuppe. »Ich bin jetzt schon Ihr Fan.«
Viktor dachte über Matthias’ Worte nach. »Die anderen«, wiederholte er leise. Sie waren wohl nicht die Ersten, die van Dam angeheuert hatte.
Was sowohl ihm als auch dem Rest der sogenannten Reisegruppe Höhlen entging, war ein unauffällig gekleideter Mann Mitte vierzig, der ganz in der Nähe des Zwischenfalls mit dem Beautycase auf einer Wartebank saß und einen Minilaptop auf den Knien hatte. Es gab auch keinerlei Grund, ihn zu bemerken, denn nichts unterschied ihn von anderen Wartenden, abgesehen von dem ungewöhnlich besorgten Gesichtsausdruck – als habe er soeben von einem Ereignis erfahren, das den Verlauf der Menschheitsgeschichte für immer verändern würde.
Gelegentlich sah der Mann über das aufgeklappte Display zur Anzeigetafel, wo die Ankunftszeiten der Maschinen aufleuchteten, als interessiere er sich dafür. Dann wandte er den durchdringenden Blick wieder nach rechts und schaute zu den Leuten, die eben einander vorgestellt wurden.
Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirn.
Im geöffneten Chatfenster stand von ihm geschrieben:
Mit Troneg in FFM angekommen.
Wird in Empfang genommen.
Gehört zu einem Einsatzteam. Sende gleich Fotos der Beteiligten.
Instruktionen?
Der Mittvierziger langte nach seinem Pappbecher und kostete von dem Gebräu, das sie ihm als Espresso verkauft hatten. Er hielt es für braune Plörre, vergessener und von der Wärmeplatte einreduzierter Kaffee von gestern, den man nicht hatte wegschütten wollen.
Mit einem Piepsen kam die Antwort im geöffneten Fenster:
Verfolgen.
Bei Gelegenheit Troneg ausschalten.
Kollateralschäden akzeptabel.
Neben dem Chatfenster hatte der Mann ein Foto geöffnet, auf dem Viktor mit einem hochgerüsteten G36 im Anschlag vor einer heruntergekommenen Hütte zu sehen war. Wo und wann es aufgenommen wurde, war nicht ersichtlich, die beigefarbene Tarnuniform sprach für Irak. Oder Afghanistan. Oder ein anderes Sandland. Er war dort zusammen mit einer deutschen Spezialeinheit gewesen, die offiziell gar nichts an diesem Ort zu suchen hatte.
Das war nicht der Grund, weswegen Viktor von Troneg auf der Abschussliste stand. Deutsche Spezialeinheiten bewegten sich unentwegt durch verbotenes Gelände, ohne dass der Bundestag oder andere Kontrollgremien jemals davon erfuhren.
Darunter zeigte sich auf einem weiteren Foto, das deutlich vergrößert und gröber erschien, eine antik wirkende Steintür mit Türklopfer aus schwarzem Metall in Form eines Löwenmauls, das einen goldenen Ring zwischen den weißfleckigen Zähnen trug. Die Zeichen und Symbole darauf waren zu grob gepixelt und nicht entzifferbar. Die Tür gehörte zu der Hütte, vor der Viktor von Troneg auf dem ersten Foto kniete und nach Feinden Ausschau hielt, ohne einen Blick hinter sich zu werfen. Was bei dieser Art von Tür ein tödlicher Fehler sein konnte.
Der Mann tippte Verstanden und hob sein Smartphone, um Fotos von der Gruppe zu schießen und sie gleich abzusenden, während das Sextett und der Chauffeur die Halle durchquerten.
In aller Ruhe machte sich der Mittvierziger an die Verfolgung, den Minilaptop zusammengeklappt unter dem Arm tragend sowie einen Sportrucksack auf dem Rücken. Er war damit einer von unzähligen Geschäftsreisenden, die sich tagtäglich durch das Terminal bewegten. Niemand erahnte seinen wahren Auftrag oder für welche Organisation er arbeitete.
Der Mann verließ das Gebäude, lehnte sich etliche Meter entfernt vom schwarzen Mercedestransporter gegen eine Säule und blickte sich nach einem Taxi um. Nur ein Wagen stand an der dafür vorgesehenen Haltebucht.
Die Gruppe hatte fertig eingeladen, der Transporter setzte vorschriftsmäßig den Blinker und fuhr los.
Der Mann ging zielstrebig zum letzten Taxi. »Hallo. Fahren Sie bitte –«
»Tut mir leid. Hab gerade eine Fahrt über Funk bekommen«, wehrte der Fahrer durch das Fenster ab und machte eine bedauernde Geste. »Die Kollegen sind bestimmt gleich da.« Er startete und fuhr davon.
Gleich war zu lange. Weit und breit gab es kein anderes Taxi.
Fluchend wandte sich der Mittvierziger ab und zückte sein Smartphone, während er dem verschwindenden Mercedes nachblickte. »Ich bin’s«, sagte er, nachdem sein Anruf mit einem gegrummelten Gruß entgegengenommen worden war. »Ich brauche den Halter eines schwarzen Transporters.« Er gab den Wagentypus und das Nummernschild durch.
Sekunden darauf wusste er, wohin er fahren musste, um Viktor von Troneg zu finden.
Anstatt auf das nächste Taxi zu warten, ging der Mann zur nächstgelegenen Autovermietung. Sein Auftrag war klar und musste erfüllt werden.