Deutschland, Lerchesberg

Ingo sichtete die bereits übersetzten Unterlagen, die ihm van Dam zur Verfügung gestellt hatte. Parallel begutachtete er die Aufzeichnungen seiner eigenen Messgeräte, die er auf Speicherkarten mit nach oben genommen hatte, und verglich sie mit den Notizen. Immer wieder schüttelte er vor Faszination den Kopf und machte sich Anmerkungen. Es war das erste Mal in seiner langen Karriere als Parapsychologe und Wissenschaftler, dass alchemistische Formeln und nüchtern erfasste Werte ineinandergriffen.

Draußen wurde es hell. Ein neuer Tag zog herauf, von dem unklar blieb, ob er mit mehr Rätseln enden oder die ersehnte Rettung der Vermissten bringen würde.

Van Dam lief mit Headset unruhig auf dem Teppich auf und ab. Gelegentlich trank er vom x-ten Kaffee. »Troneg? Hören Sie mich?«

»Lassen Sie es sein. Troneg ist Profi genug, um sich zu melden, sobald er eine Verbindung hat.«

Van Dam blieb stehen und rang mit sich. Dann nahm er die Kanne und goss Ingo nach. Frau Roth hatte sie mit Nachschub und essbaren Kleinigkeiten versorgt. »Wenn es so einfach wäre, Doktor.«

»Wie meinen Sie das?« Ingo hob den Blick absichtlich nicht. »War es beim ersten Team etwa nicht so?«

»Woher …« Er biss sich zu spät auf die Lippe. »Ja, es stimmt. Sie hatten sich nicht mehr gemeldet, nachdem sie Anna gefunden hatten. Und deswegen mache ich mir große Sorgen.«

»Wäre schön, wenn Sie uns das gesagt hätten.« Ingo sah von den Unterlagen auf. »Was waren das für Leute?«

»Söldner. Männer, die jede Menge Erfahrung und Nerven aus Stahl mitbringen.« Van Dam sah in seine Tasse. »Ich verschwieg es Ihnen, weil ich Angst hatte, dass Sie sonst den Auftrag ablehnen. Mir erschien die Konstellation dieses Mal besser und einmalig. Ich hatte das Gefühl, ich brauche mehr als Feuerkraft, um meine Tochter zu retten.«

Ingo nickte. »Wie kamen Sie an uns?«

»Zum Teil per kurzfristiger Ausschreibung, zum Teil habe ich Freunde gebeten, sich nach … besonderen Menschen umzuhören. Sie und Mme. Fendi habe ich daraufhin eingeladen. Frau Rentski und Herr Troneg meldeten sich über die Börse für spezielle Aufträge. Friedemann … also den richtigen habe ich kontaktiert, weil er eine Koryphäe in Geologie und Höhlenforschung ist. Er sollte Ihnen als Fachmann helfen, die Lage dort unten einzuschätzen. Woher der falsche Professor davon erfuhr und was seine Motivation war: keine Ahnung.« Er trank vom Kaffee.

»Ich verstehe. Die zu lösenden Rätsel gehen über der Erde noch weiter.« Ingo lehnte sich zurück und ließ auf einem Monitor verschiedene Fotos anzeigen, die er von den Türen geschossen hatte. »Jedenfalls gibt es deutliche Übereinstimmungen zwischen den Aufnahmen und den Aufzeichnungen Ihrer Mutter.«

»Meiner Mutter?«

»Ja. Das ist die Handschrift einer Frau.« Ingo zeigte auf die Zeilen. »Sie hat versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Ich kann schon so viel sagen, dass die Zeichen auf den Türrahmen und den Klopfern aus verschiedenen Kulturen stammen: keltisch, babylonisch, römisch und manche, die ich dem Orient zurechnen muss. Das gilt auch für die Kritzeleien und Botschaften auf den Wänden.«

»Können Sie das Alter bestimmen?«

»Die Bauteile, Zargen und Türblätter sehen nicht antik aus, wenn Sie das meinen. Nicht in Gänze. Könnte sein, dass einzelne Elemente aus verschiedenen Jahrhunderten stammen und sie jemand zusammensetzte.«

»Woraus man schließen könnte, dass diese Art von … Durchgängen seit Jahrtausenden im Einsatz ist?«

»Könnte man.« Ingo zeigte auf ein Symbol. »Das ist vermutlich eine sengende Sonne. Ich habe es am häufigsten an den Wänden und an den Klopfern entdeckt.«

»Oder ein Auge … nein, ein explodierender Stern.« Van Dam begab sich neben den Parapsychologen und betrachtete das Zeichen. »Seine Strahlen verbrennen alles.«

Ingo wackelte abwägend mit dem Kopf. »Möglich.« Er umkreiste mit dem Finger verschiedene Stellen auf den Fotos. »Der Mittelpunkt bei den Türen mit den Klopfern ist ein Steinchen; in den Aufzeichnungen wird es Particula genannt. Durch den Schlag wird eine Reaktion ausgelöst, die das Kraftfeld aufbaut. Aber alles danach« – er hob die Achseln – »muss ich genauer untersuchen. Mit Geräten, die feiner messen als meine Instrumente.«

»Sie wollen da wirklich wieder runter? Abgesehen von den Türen und deren Tücken, schleichen da Bewaffnete durch die Gegend, die wesentlich mehr wissen als wir.«

»Beate … Mme. Fendi ist noch dort. Und ohne meine Expertise wäre sie nicht hier.« Ingo widmete sich erneut seiner Arbeit. »Ich bin schuld, dass sie da unten feststeckt, Herr van Dam. Ich werde sie nicht im Stich lassen.«

Plötzlich langte van Dam an sein Headset. »Troneg?« Er lauschte auf die Umgebungsgeräusche. »Ich verstehe Sie nicht! Ist das … Gewehrfeuer?«

Ingo sprang vom Stuhl auf und legte die Übertragung auf den Lautsprecher, um mitzuhören.

Das Rattern und Röhren von verschiedenen vollautomatischen Waffen dröhnte durch das Büro, in das sich Rufen, Schreien und Keuchen mischten.

»Sind auf dem Rückzug«, meldete Viktor. »Spanger hält uns den Rücken frei, wir haben Ihre Tochter dabei.«

»Gut, sehr gut«, rief van Dam begeistert und besorgt zugleich.

Das Geballere wurde leiser, dafür erklangen hastige Schritte mehrerer Menschen, die über Steinboden rannten.

»Noch einer!«, schrie Spanger außer sich. »So, ihr Wichser! Bin ich ein Blender?« Er feuerte eine ganze Salve. »Ich lasse euch nicht vorbei! Siehst du das, Jungsen? Ich bin mehr, als ihr alle angenommen habt!« Er klang ausgelassen.

»Spanger, kommen Sie!«, befahl Viktor. »Sie haben Ihren Job gemacht.«

Ingo und van Dam lauschten mit angespannten Gesichtern, die Bildübertragung streikte.

»Ich bin ein scheißguter Leibwächter. Das habe ich immer gesagt.« Spanger lachte wie ein Junge, dem ein großer Erfolg gelungen war. »Ich hab’s immer gesagt! Ein verfickter Held!« Dann erklangen ein dumpfes Ächzen und ein Rumpeln.

»Spanger? Spanger, melden Sie sich«, rief Viktor. »Rentski, sehen Sie nach ihm.«

Van Dam und Ingo wechselten bestürzte Blicke.

»Tot«, meldete Dana wenige Sekunden später.

»Sicher?«, fragte Viktor nach.

»Kopfschuss. Ich übernehme die Sicherung hinten«, verkündete sie angespannt. »Weiter mit Ihnen beiden!« Sie gab eine lang gezogene Garbe ab. »Gegner rückt nach. Viel Zeit haben wir nicht mehr.«

»Was ist mit Friedemann und Beate … ich meine, Mme. Fendi?« Ingo lauschte mit wummerndem Herzen auf die Antwort.

»Die sind nicht bei uns. Ich denke, die anderen haben sie sich gegriffen. Ein Mann namens Ritter«, erwiderte Viktor knapp. »Das erzähle ich, sobald wir entkommen sind.«

Ingo starrte auf die Displays, wo undeutliche Bilder aufflackerten. Beate war noch immer in der Höhle. Bei den Unbekannten. »Ich muss zu ihr! Sonst wird sie verloren sein.« Er sprang auf und hastete los, bevor ihn van Dam aufzuhalten vermochte.

* * *

Viktor und Anna-Lena erreichten schwer atmend den Vorsprung.

Ihre schlimmste Befürchtung erfüllte sich nicht: Das verrostete alte Stahlseil spannte sich unverdrossen durch die Finsternis bis hinüber zur Tür und in den Keller des van Dam’schen Hauses.

Aber mehrere Fasern waren gerissen und hatten sich aufgedröselt, wie sie im Schein der Helmlampe sahen. Der Bolzenschneider hatte letztlich doch Schaden an den korrodierten Drähten angerichtet.

»Kommen Sie.« Viktor klinkte sich ein und ließ Anna-Lena sich um ihn schlingen, dann sicherte er sie mit zwei Karabinerhaken an seiner Panzerung. »Bereit?«

»Ja.«

Behutsam stieß Viktor sich ab. Er glitt mit Anna-Lena zusammen durch die Höhle.

Sie streckten die Arme nach dem Seil aus und packten zu. Mit vereinten Kräften ging es zügig vorwärts in Richtung Tür.

Dana tauchte auf dem Plateau auf und warf das G36 weg. Das Magazin war leer, die Waffe wäre nur unnötiges Gewicht. Sie zog ihre Pistole und sondierte mit einem raschen Blick den Gang. »Alles klar. Keine Verfolger mehr.«

Viktor und Anna-Lena befanden sich bereits außerhalb ihres Lichtkegels. Das Seil federte bedenklich und gab Geräusche, als würde eine Gitarrensaite langsam, doch beständig überspannt. »Los, Rentski! Wer weiß, wie lange das Seil noch hält!«

Dana bemerkte erst jetzt das aufgedrehte Ende und fluchte. »Na, hoffentlich, bis wir drüben sind.« Sie erhob sich, den verletzten Arm mit der Pistole auf den stockfinsteren Gang gerichtet, und machte Anstalten, ihren Sicherungshaken und die Gleitrollen einzuklinken. Der Druckverband hielt, es zeigten sich keine roten Flecke. »Wünschen wir uns mal Glück. Auf den letzten Metern draufzugehen, das wäre –«

Wie aus dem Nichts erschien Ritter aus dem dunklen Korridor. Im Zickzack sprang er auf Dana zu. »Nicht so eilig!«

Sie feuerte, während er durch ihren tanzenden Lichtkegel huschte, und verfehlte ihn mehrmals. Ihr Ziel bewegte sich zu schnell.

Dann war Ritter heran und packte Dana an der Kehle; die Pistole schlug er ihr mit einer raschen Bewegung aus der Hand. »Aus dem Weg!« Er griff ihr ins Klettergeschirr, um sie daran in den Abgrund zu schleudern. »Ich habe noch etwas zu erledigen.«

»Das hat sich eher erledigt«, zischte Dana und zog einen der antiken Dolche aus der Gürtelhalterung am Rücken und stach zu.

Die Klinge bohrte sich durch den dünnen Stoff des Anzugs und blieb nach einigen Zentimetern im Brustbein stecken. Mit einem Schrei ließ Ritter Dana los und umfasste den Griff des Dolches. Dabei krümmte er sich vor Schmerzen.

Dana landete rücklings auf dem Boden und versetzte ihm im Liegen einen präzisen, harten Seitwärtstritt gegen die Hüfte.

Der Einschlag warf Ritter herum. Als er an ihr vorbei- und über die Kante des Plateaus stürzte, schnappte er sich im letzten Moment ihren Arm. »Einen von euch nehme ich mit!«, keuchte er erstickt.

»Nein.« Dana riss den Dolch aus seiner Brustwunde, und Ritter schrie auf. Sie stach die Klinge in den Unterarm und schlitzte ihn durch den Anzug auf, sprengte seinen Griff. »Du gehst alleine.«

Vor Wut brüllend, stürzte der Mann in die Finsternis.

Dana stemmte sich ächzend auf die Füße. »Ich komme«, rief sie Viktor und Anna-Lena hinterher. Sie klinkte sich ins Seil ein, nahm Schwung und schoss daran entlang.

Deutlich vernehmbar riss eine weitere verrostete Faser. Das angeschlagene Kabel löste sich auf.

* * *

Ritter stürzte hart auf einen simsartigen Felsvorsprung und hielt sich in letzter Sekunde mit der Hand des unverletzten Arms am grobporigen Gestein fest.

Ächzend richtete er den Oberkörper auf. Mit seiner Taschenlampe beleuchtete er die Verletzungen in Brust und Arm, die Hemd und Sakko mit seinem Blut tränkten.

»Scheiße.« Dann bemerkte er im hellen Licht das Fehlen des Particula-Rings. Er musste ihn beim Gerangel mit der Söldnerin verloren haben. Womöglich lag er noch auf dem Plateau – das könnte seine Rettung bedeuten!

Ritter versuchte, irgendwo an der Felswand Halt zu finden, um den Aufstieg zu beginnen. Die Wunden machten ihm zu schaffen. Warm blubberte sein Blut aus dem Loch in der Brust und dem Schnitt im Arm. Hustend hielt er inne. Die Lunge hatte möglicherweise etwas abbekommen. Dann zählte jede Sekunde, bevor ein Flügel zusammenfiel oder sie sich mit Blut füllte.

»Ich habe dich nicht aus den Augen gelassen. Eindringling«, sagte die vertraute boshafte Stimme, gefolgt von einem gehässigen Lachen.

Ritter zuckte zusammen.

Ein Schemen wurde in dem Licht sichtbar, nichts mehr als ein menschlicher Umriss. »Ich rieche dein Blut. Jemand war besser als du. Und jetzt fällst du mir vor die Füße wie der Umschlag, mit dem du mich anlocken wolltest, um mich zu töten.« Ein schadenfrohes Kichern erfolgte. »Versuchst du es dieses Mal selbst? Oder sprengst du dich mit mir in die Luft? Als ein großes Opfer für Erzengel und die Organisation?«

Ein Funke Hoffnung glomm in Ritter auf. »Hilf mir, nach oben zu kommen«, versuchte er es mit vorgetäuschter Selbstsicherheit, »dann helfe ich dir.«

Das Lachen wurde bösartig. »Dieses Mal möchtest du zurück?«

»Ich schwöre, dass du –«

»Es gibt für dich ebenso wenig ein Zurück wie für mich!«, unterbrach ihn die Stimme kalt. »Erst wenn das Arkus-Projekt seine wahre Stärke erreicht, ist da Hoffnung für mich.«

»Seine wahre Stärke? Was … meinst du?«, stammelte Ritter verblüfft. »Dann weißt du etwas darüber!« Damit hatte er nicht gerechnet. Zuversicht stahl sich in sein Denken. Sollte er Erzengel die Kreatur ausliefern, die er viele Jahre vor der Organisation erfolgreich verborgen hatte, könnte er seine Vorgesetzte vielleicht dazu bewegen, sein Versagen zumindest nicht zu bestrafen.

Über ihnen glitten die drei Entkommenen am Seil entlang, die Helmlichter leuchteten umher. Sie waren auf dem besten Weg, sich im Van-Dam-Keller in Sicherheit zu bringen.

Ritter wusste, dass es eine vorübergehende Sicherheit sein würde. Niemand gewann gegen sie. Niemand. Er würde sich gerne persönlich um die Eliminierung kümmern. Ihre Namen waren bekannt, ihre Wohnorte auch. Dass sie aus der alten Zentrale entkommen waren, bedeutete nichts. Vorausgesetzt, er schaffte es aufs Plateau, bekam seinen Ring und übergab sein lang gehütetes Geheimnis an Erzengel.

»Natürlich kenne ich das Arkus-Projekt. So lautet zumindest die Bezeichnung, die ihr dem Vorhaben gegeben habt. Doch bis es so weit ist, könnte ich andere Dinge tun«, sinnierte die Stimme. »Aus meinem Gefängnis entkommen. Über die Welt streifen und mich umschauen. Es gibt gewiss Orte und Plätze, die etwas Schönes haben. Vielleicht. Ich bin neugierig.«

»Nein! Nein, das wäre zu gefährlich«, sprach Ritter hastig und ächzte vor Schmerzen. Der Schwindel bedeutete, dass sein Kreislauf absackte. Blutverlust. Er musste zu seinem Team, das ihn verarzten konnte. »Ich habe dich doch hier unten gelassen, damit du sicher bist.«

»Damit deine Welt vor mir sicher ist, meinst du«, wisperte die Stimme. »Die Zeit des Wartens ist vorbei. Unsere Abmachung ist aufgehoben.«

»Das darfst du nicht!«, raunte Ritter und presste die Hand gegen das Loch in seiner Brust. Mit jedem Herzschlag wich seine Kraft. »Wenn du nach oben gehst, wirst du sterben. Hörst du? Die Sonne tötet dich. Es ist eine andere als jene, die du kennst.«

Wieder erklang das Lachen. »Du hast einst etwas Verbotenes getan. Ich bin die Konsequenz daraus. Deine Welt gefällt mir bestimmt, und du weißt, ich bin kein Kostverächter.« Dann schnalzte der Schemen mit der Zunge. »Dein Anzug wird mir stehen, bis ich was Besseres gefunden habe.«

Ritter wollte etwas entgegnen, da zuckte ein Schattenarm nach vorne.

Es knackte, als die Handkante das Genick mit Leichtigkeit brach.

Ritter kippte tot zur Seite und blieb auf dem Sims liegen, die Augen weit geöffnet und auf die umherschwenkenden Strahlen über ihm gerichtet. Die Lampe fiel dem Toten aus der Hand und kam schräg auf, beleuchtete die Wand und den schmalen Vorsprung.

Das indirekte Licht illuminierte die humanoide Gestalt, die sich an der Leiche zu schaffen machte. Schnell war Ritter ausgezogen und der Schemen angekleidet. Der Anzug passte seinem neuen Besitzer perfekt, das Blut, die Löcher und der Schnitt störten ihn nicht. Es war eine Übergangslösung.

Danach schwang sich der Gefangene am Stein empor. Seine Zeit der Freiheit brach an.

* * *

Viktor und Anna-Lena hingen am Seil, das beunruhigende Geräusche von sich gab und mehr durchhing als bei dem Weg hinein in die Höhlen. Die Spannkraft des Kabels ließ merklich nach, was es schwerer machte, sich vorwärtszuziehen.

Endlich traf der Schein von Viktors Helmlampe auf den rettenden Türrahmen, der zusammen mit der Felswand sichtbar wurde. »Gleich sind wir da«, verkündete er. Die Schultern schmerzten von der steten Belastung, die vergangenen Stunden hatten seinen Körper und seine geistige Kraft aufs Äußerste gefordert.

Anna-Lena, die vor Anstrengung schwitzte wie er, blickte ihn an und küsste ihn flüchtig auf die Wange. »Danke.«

Viktor lächelte schwach. »Sehr gerne.« Er freute sich auf kurze Momente der Ruhe, etwas zu essen und zu trinken sowie einige Stunden Schlaf, um später mit frischen Kräften in das Labyrinth zurückzukehren. Coco und Friedemann durften keinesfalls in den Händen der Unbekannten bleiben. Leuten wie Ritter war alles zuzutrauen.

Zurück blieben zudem eine Million Fragen: zu den Türen, den Irrgängen, der Zentrale, der Organisation, die Kontrolle über die Mächtigen hatte, die Börsenkurse der Zukunft kannte und, und, und. Die Antworten mochten sie in dem Büchlein finden, das Friedemann verloren hatte. Oder bei seinem nächsten Besuch, von dem Viktor hoffte, ihn nicht alleine bewerkstelligen zu müssen. Dana war angeschossen, aber einsatztauglich. Ingo hingegen brachte ihm wenig, wenn es ins Gefecht ging.

»Ich bin’s.« Licht fiel von hinten auf sie. Dana schloss zu ihnen auf, das Seil hing weiter durch. »Schneller! Es verabschiedet sich gleich!« Sie schob Viktor unsanft mit dem Fuß an und beförderte das Paar über die Schwelle in den Keller. »Es kann nicht mehr lange dauern, und –«

Mit einem Knall rissen die letzten Fasern, und es ging schlagartig abwärts.

Anna-Lena und Viktor landeten ineinander verschlungen auf dem sicheren Boden.

Dana aktivierte geistesgegenwärtig die Freilaufsperre ihrer Klettervorrichtung und verhinderte so, dass sie am losen Kabel in die Tiefe schoss. Sie krachte gegen die Felswand und pendelte zwei Meter unterhalb des Eingangs. »Ich bin in Ordnung«, rief sie und fühlte das Reißen an ihrem verwundeten Arm.

Ohne das sperrende Seil klappte die Tür zu.

»Schnell!« Anna-Lena löste die Haken, die sie mit Viktor verbanden, kroch über ihn weg und versuchte, ihr Messer als Keil zwischen Türblatt und Rahmen zu schieben, aber sie verhedderte sich im Stahltau, und ihr ausgestreckter Arm reichte mit der Klinge nicht bis zur Tür. »Nein!«

Der rettende Ausgang für Dana schloss sich – und blieb ohne ihr Zutun wenige Zentimeter vor dem Schließen stehen.

Eine Taschenlampe richtete sich auf Viktor und Anna-Lena. »Ihr seid in Sicherheit«, sagte Ingo hinter dem Licht. Seine Hand hatte verhindert, dass die Tür zufiel.

Anna-Lena erhob sich. »Das war knapp.«

»Wo … wo ist Beate?« Ingo half Viktor auf, während Anna-Lena die Tür wieder öffnete. »Oben war sie nicht. Ist sie …?«

»Holen wir Rentski hoch. Sie hängt am Seil.« Viktor gab dem Parapsychologen einen auffordernden Wink. »Mme. Fendi ist noch drüben. Dieser Anzugträger namens Ritter meinte, er habe sie und Friedemann gefangen und mit ihnen gesprochen.«

Ingo ließ sich seine Enttäuschung nicht anmerken und packte beim Ziehen mit an. »Es war ein falscher Friedemann«, sagte er und fühlte Übelkeit. Es war ihm nicht gelungen, Beate aus den Klauen der Unbekannten zu retten. Seinetwegen saß sie fest. Wegen seines Zertifikats war sie angeheuert worden.

Danas Helm erschien an der Schwelle. Anna-Lena sprang ihr zu Hilfe und stützte sie beim Hereinklettern. Die beiden lächelten sich an und reichten sich die Hände.

Ingo verkeilte ein kleines Regal an der Tür, damit sie sich nicht schloss. Er brauchte den Zugang in das Labyrinth. »Der echte Professor ist bei van Dam aufgetaucht.«

»Was?«, entfuhr es Dana. »Wir haben einen Betrüger dabeigehabt? Aber –«

»Zunächst mal raus hier. Bringen wir unserem Auftraggeber seine Tochter zurück. Danach gehe ich wieder rein«, verkündete Viktor entschlossen. »Jetzt erst recht.«

Sie eilten die Stufen hinauf.

»Ich bin dabei«, sagte Ingo, und sogar Anna-Lena nickte zur Überraschung der Männer.

Dana hingegen schwieg. Es gab allen Grund, Ritter zu fassen und ihm die Scheiße aus dem Leib zu prügeln. Wäre er alleine. Doch die Gepanzerten würden auf sie warten, und den Horror ihrer Blindheit hatte sie längst nicht vergessen. Alles sprach dagegen, dass sie in die alte Zentrale zurückkehrte. Sie überreichte dem Parapsychologen wortlos Cocos Pendel. »Ich finde, Sie sollten darauf achten, bis Sie es ihr zurückgeben können.«

Ingo musste sich beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen, und steckte es nach einem dankbaren Blick ein.

Da sich keiner von ihnen umdrehte, sahen sie nicht, dass sich hinter ihnen eine dunkle Silhouette in einem ramponierten Nadelstreifenanzug durch die verkeilte Tür schob.

* * *

Mit einem Headset im Ohr, ein Modell, das es nirgends zu kaufen gab und erst in nicht allzu ferner Zukunft zu erstehen war, stand eine kurzhaarige, platinblonde Frau auf dem Plateau am Rand des Abgrunds und ärgerte sich.

Ritters Vorgesetzte trug einen sehr teuren weißen Anzug mit millimeterfeinen schwarzen Nadelstreifen. Ihren wahren Namen kannten lediglich zwei Menschen auf der Welt. Es gab keine Unterlagen über diese Frau, und wenn doch, waren die enthaltenen Informationen gefälscht.

Freunde und Feinde nannten sie Erzengel, seit jemand laut festgestellt hatte, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit zur Rolle von Tilda Swinton als Gabriel im Film Constantine aufwies. Ihr Alter war schwer zu schätzen, irgendwas um die fünfzig. Aber Engel waren zeitlos.

Sie betrachtete die aufgefaserten, gerissenen Reste des rostbesetzten Seils und hielt einen deaktivierten Funkverstärker in der Rechten, den sie gefunden hatte. In der Linken trug sie einen batteriebetriebenen Suchscheinwerfer, mit dem sie die Umgebung ausleuchtete. Das Stahlseil hätte niemals toleriert werden dürfen. Ritters Alleingänge hätte sie niemals so lange tolerieren dürfen. Jetzt musste die Konsequenz gezogen werden. Die finale Konsequenz.

Achtlos schleuderte Erzengel den Sender über die Bruchkante. Das Weiß ihres Anzugs strahlte im Licht und machte sie wahrlich zu einer überirdischen Gestalt.

Das Headset fiepte, sie nahm den Anruf entgegen.

»Ja?« Erzengel hörte zu. »Das muss ich bestätigen. Es scheint so, als habe Ritter versagt. Ich habe Code Weltzerstörung ausgegeben.« Sie wandte sich um und ging zügig durch den Korridor. »Ich weiß, wir hätten das früher machen sollen. Vor vielen Jahren. Ritter hatte mir gesagt, er sei in den Gängen auf der Suche nach vergessenem Wissen.« Sie wurde von dem Anrufer unterbrochen und gezwungen, auf die Frage zu reagieren. »Nein, er muss noch irgendwo hier unten sein. Es ist mir gleich. Ich lasse die Türen ebenso vernichten. Wir gehen kein Risiko mehr ein.«

Hinter ihr leuchtete eine erste lautlose Explosion auf, die die Kaverne in spektakulären Farben ausleuchtete. Die Spektren hätten den echten Geologen Friedemann vor Begeisterung zum Weinen gebracht.

Erzengel beeindruckte das nicht. Sie kannte die Wirkung der Sub-Fusionsbomben, die sie gesetzt hatte. Gelassen marschierte sie den Gang entlang.

»Zwei Gefangene? Sind nicht von Bedeutung. Ritter hatte sie bestimmt zu seinem Privatvergnügen eingesammelt, anstatt sie gleich zu töten.« Sie überlegte. »Lassen wir sie hier. Dann ist es erledigt.«

Hinter ihr entstanden weitere grelle Lichter, ein Fauchen wie von einem aufkommenden Sturm erklang.

Erzengel bog in die Halle ab und blieb vor der mittleren Tür stehen.

Sie legte eine Hand an den Klopfer. Sie betrachtete die Fragezeichen auf den ersten drei Türen, welche die junge neugierige Frau mit Lippenstift darauf gemalt hatte.

Es war ein Wagnis, sich dem schadhaften Particula anzuvertrauen, aber die einzig rasche Möglichkeit, die alte Zentrale zu betreten und zu verlassen.

Grelles Licht flammte durch die Gänge. Stinkender, heißer Wind drängte in die Halle. Die Sub-Fusionsbomben zündeten durch, die zweite Stufe setzte Energien frei, die nichts übrig ließen von den Korridoren, den Sälen und Höhlen. Oder den Türen.

Für die Menschen, die in der Umgebung lebten, würde es wie ein Erdbeben sein, das die Gegend erschütterte und weite Teile des Waldes zum Einsturz brachte.

»Sagen Sie, hörten Sie schon mal vom Arkus-Projekt? Einer der Männer aus dem Suchtrupp erwähnte es. Ich habe das Gefühl, dass das eine Sache ist, der wir nachgehen sollten. Um nicht von etwas überrascht zu werden, was unsere eigenen Pläne durchkreuzt.«

Die Antwort veränderte Erzengels Gesichtsausdruck, er wechselte von genervt zu alarmiert. Sie betätigte den Klopfring, schlug das Particula kräftig herab.

Die Tür flirrte. Das Dröhnen und Donnern blieb aus, als würde das Portal fühlen, dass es zum letzten Mal genutzt wurde, und deswegen trauern.

Erzengel öffnete den Durchgang. »In altiberischer Schrift? Aus dem 4. Jahrhundert vor Christus? Baskischer Hintergrund?« Sie blickte hinter sich und sah das grellweiße Licht heranrasen. Alles verlief nach Plan. »Nein, ich wusste nicht, dass die baskische Kultur keine Verwandtschaft zu den sonstigen europäischen Kulturen aufweist. Sprachlich isoliert, aha.« Erzengel wartete auf die Erwiderung. »Und was hat das mit dem Arkus-Projekt zu tun?« Sie machte einen Schritt über die Schwelle in die Dunkelheit. »Wir reden später. Der Empfang wird gleich abbrechen.« Die Tür schloss sich hinter der Frau.

Das gleißende Licht erreichte die Halle, begleitet von einer lautlosen Explosionswolke, die den Fels zum Schmelzen brachte.

* * *