Hinter Tür !

Professor Friedemann, Coco, Spanger und Ingo betraten einen rätselhaft verwinkelten, dunklen Gang.

Die Strahlen ihrer Helmlampen huschten umher und trafen auf trockene Fels- und hastig gemauerte Backsteinwände. Auf dem Boden lagen Schmutz, ein paar Steinbröckchen und Knochenreste. Die Luft roch abgestanden mit einer ungewöhnlichen Note von heftiger elektrischer Entladung und durchgeschmorter Elektronik. Der Geruch passte nicht zu blankem Stein.

»Lassen Sie mich nach vorne.« Spanger versuchte, die Führung zu übernehmen. Er hielt die MP5 verwegen mit einer Hand.

Doch Friedemann ließ ihn nicht passieren. »Ich sage Ihnen schon, wenn Sie auf was schießen sollen.«

Behutsam ging die Gruppe vorwärts. Bereits nach einigen Metern entpuppte sich der vermeintliche Gang als verbauter Raum, in dem sich keine weiteren Ausgänge befanden. Es blieb ihnen einzig jene Tür, durch die sie hereingekommen waren.

»Verflucht! Ich dachte …« Friedemann sah sich verärgert um. »Ich dachte, wir wären gleich am Ziel.«

»Keine vermisste Tochter«, stellte Coco mit Genugtuung fest. Ihr Pendel stand nach wie vor waagrecht in der Luft und wurde von der Silberkette gehalten, die goldene Spitze zeigte zum Ausgang. »Ich sagte es bereits. Es ist die Tür mit dem roten X.«

»Keine sonstigen Durchgänge …« Ingo betrachtete die unordentlich hochgezogene Backsteinwand zu seiner Linken; seine gelockten graugelben Haare bauschten sich im Nacken. »Es sei denn, man hätte was dahinter versteckt.« Seine Finger strichen an den Kanten entlang, die durch die nicht exakt aufeinandergesetzten Steine entstanden, und er schaute über den Rand seiner runden Nickelbrille. »Die Mauer sieht hastig gemacht aus. Jemand wollte schnell weg.«

»Eher raus aus diesem Loch.« Spanger stieß anklagend die Luft aus. Schon wieder kein bisschen Heldentum und Gelegenheit für eine ungefährliche Schießerei für ihn. »Was soll das denn? Wer baut denn …« Er schaute an Ingo vorbei zum Ausgang. »Scheiße! Die Tür fällt …«

Sanft schloss sie sich. In das leise Klicken mischte sich ein metallisches Geräusch, gefolgt von einem Knistern, als seien tausend Stecknadeln auf einen Glasboden gefallen.

Das Quartett verharrte wie angewurzelt, sowohl wegen des Schocks als auch wegen des unheimlichen Lauts; bei jedem richteten sich die Härchen im Nacken auf.

»Keine Panik«, sagte Friedemann überflüssigerweise. »Wir haben die Tür einmal dazu gebracht, sich zu öffnen. Das gelingt erneut.« Er bewegte sich auf den Ausgang zu. »Danach nehmen wir Ihre Tür, Mme. Fendi. Versprochen.«

Coco starrte auf das Pendel, das plötzlich lotrecht an der Kette herabbaumelte, ohne Spannung und Zug. »Was … was ist geschehen?«, raunte sie. »Diese Kammer! Sie unterdrückt meine … Fertigkeiten.« In ihrer Stimme wurde Furcht hörbar. Eingesperrt, abgeschnitten. Sie war isoliert. Kryptonit. Umzingelt von Kryptonit.

»Moment.« Ingo hob seinen Instrumentenblock und bewegte ihn auf der Suche nach Unerklärlichem hin und her. Die Zahlen und Kurven auf den kleinen Displays blieben innerhalb der regulären Parameter. »Zumindest gibt es physikalisch nichts, was uns beunruhigen müsste.« Er legte Coco eine Hand auf den Rücken, spürte die Hitze, die von ihr ausging. Das Adrenalin brachte sie zum Schwitzen. »Es kann uns nichts geschehen.«

Sie blickte auf das Pendel und verlor ihre Gesichtsfarbe. Sie hätte niemals ein weiteres Mal hier runterkommen dürfen. Nicht für alles Geld, das ihr van Dam zahlen konnte. »Das bedeutet nichts Gutes.«

»Hören Sie auf zu unken, und lassen Sie mich das machen.« Spanger drängte sich an dem Professor vorbei und wollte die Tür öffnen.

Die Klinke blockierte.

»Scheiße, echt? Wenn das ein Scherz von Troneg ist, hau ich ihm in die Fresse.« Spanger untersuchte das altertümliche Schloss und die Mechanik des Kastenaufbaus, dann rüttelte er am Griff, und schließlich hämmerte er gegen das Holz. »Troneg! He, Troneg! Hören Sie mich?«

»Van Dam? Sind Sie bei uns?«, versuchte es Ingo über Funk und bekam lediglich Stille als Antwort. Die Kammer absorbierte jegliche Signale. Nichts ging seit dem Einrasten des Schlosses hinein oder hinaus, weder Metaphysisches noch Elektronisches. »Es liegt an den Wänden. Sie sind zu dick. Denke ich.« Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass die Skalen nicht ausschlugen.

Coco sah Friedemann erbost an. »Sie haben uns in diese Falle geführt!« Sie streckte den Zeigefinger drohend gegen ihn, das Pendel schwang leicht an der Kette vor und zurück, wie um den Mann als Schuldigen auszuweisen. »Ich sagte von Anfang an, wir sollen meinem Pendel vertrauen, Professor. Mir vertrauen. Deswegen haben Sie mich doch als Medium dabei.«

»Ich verstehe das nicht.« Hilflos hob der Gescholtene die Arme. Das Wissen aus den Aufzeichnungen enthielt einige Lücken und Geheimnisse.

»Ich auch nicht. Aber was ich verstehe, ist: Wir sind am Arsch, wenn Troneg und Rentski draufgehen. Uns wird die Luft ausgehen, bevor wir verdurstet sind.« Spangers Blick wanderte zu den Gebeinresten. »Oder zweifelt jemand daran?« Er nahm eine Fackel vom Gürtel und zündete sie. »Ich suche den Raum mal gründlicher ab. Man sieht ja nix in dem Bums.«

Die Kammer füllte sich sofort mit rotem Licht und beißendem Rauch.

»Oh, Sie wollen uns ersticken, bevor wir verdursten?« Coco atmete weißgraue Schwaden ein und hustete. »Machen Sie dieses Ding aus!«

»Das geht nicht. Die brennen auch unter Wasser. Sand zum Draufkippen haben wir nicht.« Spanger kickte die Fackel in eine Ecke des kleinen Raumes. Daran hatte er in seinem Eifer nicht gedacht. »Wir … brauchen den Rauch aber, um … nach Spalten und Luftzügen zu suchen. Ich achte auf die Verwirbelungen.«

»Sie fetter Idiot«, zischte ihn Friedemann an. »Sie sind die Unfähigkeit in Person! Wie haben Sie es geschafft, eine Anstellung bei van Dam zu bekommen?«

Spanger konnte nichts darauf erwidern. Ihn trafen die Worte mehr, als er zugeben würde. Wie ein getadelter Schuljunge stand er im rötlichen Licht, umspielt von Qualm und mit vorwurfsvollen Blicken aus drei Augenpaaren bedacht.

Ingo, Friedemann und Coco begannen ihre Beratung, wie weiter vorzugehen sei, und schlossen ihn bewusst aus. Dabei hatte er nur helfen wollen. Cool sein wollen. Gemocht werden.

Unvermittelt fühlte Spanger die Präsenz erneut, der Geist, das Wesen, das ihm seinen Schutz angeboten hatte. Es war seltsam tröstlich, jemanden zu haben, der einen nicht hasste.

Mir scheint, die Situation ist ein wenig verfahren, sagte die Stimme nur zu ihm. So verfahren wie damals, Carsten. Habe ich recht? Und alle wünschen dich zum Teufel. Sie werden niemals deine Freunde sein. Ich schon.

Spanger sah die gelegentlichen Blicke des Trios auf sich, voller Verachtung, Wut und Abscheu, während sie sich leise besprachen. Es erinnerte ihn ganz genau an das Gefühl von damals.

An die Situation, die sein Leben in den Abgrund gerissen hatte.

Es ist schlimm, nicht wahr?, raunte die Stimme. Schlimm, wie sehr es immer noch schmerzt. Aber ich kann dein Beistand sein. Ein Wort von dir genügt. Ein Gefallen für einen anderen.

Die Bilder von einst stiegen in ihm empor und degradierten Carsten zu einem hilflosen Zuschauer seiner eigenen Erinnerungen. Er wollte das nicht sehen, nicht erneut fühlen, nicht wieder durchmachen. Aber es gab kein Gegenmittel gegen den Spuk aus der Vergangenheit. Gegen das Trauma.

Im kargen Büroraum des Discounters saß er unter Neondeckenlicht am Tisch und trug den üblichen Mitarbeiterkittel. Vor ihm stand ein alter Laptop, daneben stapelte sich ein Berg voller Listen. Zu seiner Rechten ruhte ein angebissenes Pausenbrot, eine Packung geöffnete Kekse war zur Hälfte leer gegessen.

Von draußen erklang die genervte Durchsage: »Kasse zwei öffnen, bitte. Kasse zwei öffnen!«

Carsten schaute auf den Monitor und regte sich nicht. Seine Hand legte sich auf das Buch mit dem Titel Der Weg zum Personenschützer. »Ich schaffe das«, murmelte er. »Dieses Mal schaffe ich es!«

Die Tür zum Personalraum öffnete sich.

Herein kam die Filialleiterin Svetlana Schiffner, eine blutjunge Frau im eng sitzenden Kittel, und blickte ihn unfreundlich an, dann ostentativ auf die Uhr. Sie stand für Kompetenz, Ehrgeiz und Fleiß in einem attraktiven Körper – das komplette Gegenteil von ihm. »Herr Spanger, haben Sie nicht gehört?«

»Ich habe Pause. Noch zwei Minuten.« Er deutete auf den Klapprechner. »Ich bin gerade am Arbeiten.«

»Wieder dieser Leibwächterunsinn?« Sie lachte auf, abwertend. »Schauen Sie sich mal an, Herr Spanger. Das ist nicht böse gemeint, aber es gibt schon einen Grund, warum Sie durchgefallen sind.«

Carsten hob langsam die graublauen Augen. »Es ist böse gemeint.«

»Nein, ich dachte nur … die sind trainiert.« Sie griff sich das Buch, blätterte darin. »Hier stehen auch Trainingseinheiten. Meine Güte, dagegen sehen meine Übungen im Fitnesscenter aus wie ein Sonntagsspaziergang. Haben Sie die schon gemacht? Alle?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, schaute auf den Monitor. »Sie melden sich für ein Bootcamp an? In zwei Wochen zum Personenschützer?« Erneut lachte sie, laut und höhnisch.

»Ich schaffe das.« Carsten spürte die lähmende Schwere in Geist und Körper.

Die Filialleiterin riss die mühsam aufgebaute Zuversicht mit Lachen und Fragen ein. »Ja. Genauso wie Sie Ihre Eignungsprüfung als Filialleiter geschafft haben. Also, nicht geschafft haben.«

»Ich war aufgeregt.«

»Sie hatten nicht genug gelernt. Dabei hatte ich mich für Sie eingesetzt. Passiert nicht wieder, Herr Spanger.« Svetlana gehörte nicht zu denen, die jemandem eine zweite Chance gaben. Sie sah erneut auf die Uhr. »Ihre Pause ist vorbei. Machen Sie Kasse zwei auf.« Dann ging sie hinaus.

Carsten wollte die letzten Angaben dennoch eingeben. Beim hektischen Herumklicken öffnete er aus Versehen das Mailprogramm, und sogleich wurde eine alte Mail sichtbar, die er schon viel zu oft gelesen hatte.

Es ist vorbei, Carsten.

Ich muss auch an mich denken.

Du wirst mir keine Perspektive bieten, und mit Mario habe ich das Gefühl …

Carsten löschte sie mit versteinertem Gesicht. Sie zu öffnen, war ein Versehen gewesen. Vieles in seinem Leben geschah aus Versehen, und kein solches Ereignis hatte sein Dasein verschönert. Dabei strengte er sich an, gab sich Mühe und wollte nichts anderes als einen Platz in dieser Welt. Einen besseren Platz.

»Ich schaffe es!«, schrie er den Computer an. »Ich zeige es allen!« Seine Finger ballten sich zu Fäusten. »Allen!«

Die Tür öffnete sich erneut, und der Auszubildende Tilo trat ein. Sechzehn, dynamisch, optimiert. Er warf Carsten einen angepissten Blick zu. »Hey, dicker Bruder von Chuck Norris! Du sollst endlich Kasse zwo –«

»Du Arschloch!« Carsten sprang auf. Hundertmal hatte er Tilo gesagt, er solle das sein lassen. Er versetzte dem jungen Mann einen genau gezielten Schlag mit dem Handballen gegen die Stirn. »Du blödes Arschloch!«

Tilo ging lautlos zu Boden. Und blieb liegen. Der Schlag hatte exakt die Wirkung, wie im Ratgeber beschrieben wurde: Der Angreifer war ausgeschaltet.

»Herr Spanger«, kam Svetlanas eisige Stimme aus dem Lautsprecher. »Gehen Sie bitte das Müsli-Regal auffüllen. Ich mache die Kasse selbst.«

»Echt, du bist so ein Arschloch.« Carsten stieg über den stöhnenden Tilo hinweg und verließ den Raum. Das Arschloch konnte sich allein auf die Beine stemmen. Sollte er doch danach zu Svetlana rennen und rumheulen. Er musste sich nicht andauernd beleidigen lassen. Abmahnung, Anzeige, ihm egal.

Carsten schwenkte von den Kassen weg zu den Regalen mit den Cerealien. Dort blieb er stehen und starrte auf die Verpackungen. In seinem Kopf drehte sich alles. Er versuchte, seine Wut auf sich, sein Leben und die Welt zu kontrollieren.

Eine ältere Kundin näherte sich, in der Hand eine volle Einkaufstasche. »Entschuldigung, ich suche die Sonderangebote. Können Sie mir sagen, wo ich den Bio-Lachs –«

»Nein«, sagte er abwesend und schloss die Augen.

»Aber Sie wissen doch noch gar nicht –«

»Nein!«

Die Frau sah ihn empört an. »Ich kann mein Geld auch woanders ausgeben.«

Carsten drehte langsam den Kopf und schaute sie an. Wie sie dastand, mit ihren Designerklamotten, mit ihrem teuren Parfum, mit der Arroganz. Äußerlich einen auf dicke Bluse machen, und dann im Discounter nach den Schnäppchen fragen. »Verpissen Sie sich.«

»Was?«

Carsten marschierte durch den Gang, floh vor der Frau. Es war ein beschissener Tag, von vorne bis hinten. Mobbing. Bossing. Überforderung. Der falsche Job. Definitiv der falsche Job. Dabei wollte er doch was Gutes tun. Was Sinnvolles in seinem Leben machen und nicht der ewige Verlierer sein.

»Das hat ein Nachspiel für Sie!«, rief ihm die aufgebrachte Kundin hinterher und sprach dann die vorbeilaufende Filialleiterin an.

Svetlana heftete sich umgehend an seine Fersen. »Herr Spanger!«

Er blieb stehen, wandte sich um. Der Ausdruck in seinen Augen machte Svetlana langsamer, als würde sie sich einem aggressiven Hund nähern.

»Ich arbeite seit zehn Jahren hier, jeden Tag, für einen scheiß Lohn.«

»Herr Spanger –«

»Meine Frau ist weg, ein Azubi macht sich über mich lustig. Sie machen sich über mich lustig.« Langsam ging er auf sie zu. »Sie sind seit sechs Monaten hier. Sie haben sich eingesetzt, ich weiß. Aber nur weil Sie hofften, ich würde dann in eine andere Filiale wechseln.«

Svetlana wich vor ihm zurück, wagte keinerlei Widerspruch.

Carsten nahm beiläufig eine Packung Müsli aus dem Regal. »Ich wollte das hier schon alles abfackeln. Oder den Laden erpressen. Und jedes Mal dachte ich: Nein, mach das nicht. Du versaust dir das Leben.«

»Herr Spanger, beruhigen Sie sich. Gehen Sie nach Hause, und morgen …« Svetlanas Stimme hatte ausnahmsweise das Höhnische und Herablassende verloren.

»Bekomme ich die Kündigung. Ich weiß.« Er blickte zur empörten Kundin, die an ihrer Perlenkette spielte und mit ihrem Smartphone telefonierte. »Dabei wollte ich nur was werden. Jemand sein. Wieso nehmen Sie sich das Recht heraus, mich zu demütigen?« Er ging an ihr vorbei, stellte die Packung ins Regal und hielt mehrere Sekunden inne.

Er bezwang den Aufruhr, den Sturm, die wilde See in sich. Er wollte es nicht versauen. Hatte er selbst gesagt. Also befolgte er seinen eigenen Rat.

»Ist viel los, Frau Schiffner. Ich mache die Kasse auf. Das Wechselgeld wird stimmen, nehme ich an.« Carsten ging an Kasse zwei und setzte sich hinein. Nach einem Knopfdruck und dem Durchziehen der Magnetkarte seines Ausweises leuchtete das grüne Zeichen über seinem Kopf auf. Niemand aus der riesigen Schlange nebenan wechselte zu Carsten, der hinter der Kasseneinheit saß und verkrampft lächelte.

Svetlana und die Bio-Lachs-Kundin sahen ihn an, abwägend und irritiert.

»Der Mann ist verrückt«, stellte die herausgeputzte Frau fest, als sei sie Expertin. »Ich verlange eine Entschuldigung. Und eine Abmahnung.«

»Herr Spanger! Herr Spanger, lassen Sie es gut sein«, rief Svetlana durch den Laden und machte scheuchende Bewegungen. »Gehen Sie nach Hause.«

Da stürmte Putzfrau Christel aus dem Pausenraum. Sie fuchtelte mit dem Lappen, die Hände in knallgelben Gummihandschuhen, deren Farbe noch weithin im Nebel sichtbar sein würde. »Unser Azubi! Der Tilo ist tot!«

So fand sich Carsten Spanger dreißig Minuten darauf erneut in dem kargen Büroraum unter dem Neondeckenlicht am Tisch wieder, nur dass ihm dieses Mal zwei Polizisten gegenübersaßen. Seine Sachen hatte er auf einen Haufen geschoben, den Laptop zugeklappt wie das Buch über den Beruf des Personenschützers.

»Herr Spanger, wollen Sie uns erzählen, was geschehen ist?«

Er blinzelte gegen den Oberkörper des Kommissars. Lederjacke, Diensthemd, schwarze Krawatte. Er wollte das Gesicht des Mannes nicht anschauen, weil er wusste, was er sehen würde: Teilnahmslosigkeit. Oder Abscheu.

»Verweigern Sie die Aussage?«

Carsten schüttelte langsam den Kopf.

»Also?«

»Ich wollte nur was werden. Was aus meinem Leben machen.«

»Herr Spanger, der Herr …«

»Jungsen, Tilo.«

»Herr Jungsen kam rein und …?«

»Sagte, ich bin der dicke Bruder von Chuck Norris. Das hat er oft gesagt. Das und schlimmeren Scheiß. Ständig.« Er betrachtete seine kräftigen Finger. »Dass das so leicht ist. Das steht in dem Ausbildungsbuch nicht.«

»Sie fühlten sich provoziert und schlugen zu.«

»Ich habe gar nicht fest geschlagen. Und zack, ist das Arschloch tot.« Er blickte auf die krümelverzierte Tischplatte, auf der Fingerabdrücke zu sehen waren. Christel hatte nach dem Fund des Toten die Arbeit eingestellt. »Der hat mein Leben versaut. So richtig. Ich wäre Leibwächter geworden, wissen Sie? Ein echt guter. Ich habe schon zehn Kilo abgenommen. Ist das Arschloch einfach tot.«

»Herr Spanger, ich nehme Sie erst mal mit zur medizinischen Begutachtung. Sie scheinen mir verwirrt. Schätzungsweise bleiben Sie vorerst in Untersuchungshaft, bis wir das geklärt haben.«

Carsten sah wieder auf seine Hände, als könne er nicht fassen, was sich zugetragen hatte. Gedemütigt.

Überführter Totschläger.

Vollkommen verloren.

Ein perfekter Verlierer – damals wie heute …

Hast du verstanden? Wenn du mich brauchst, Carsten, sagte die androgyne Stimme freundlich in seine Ohren, bin ich für dich da. Ich werde dich retten und dir einen Ausweg zeigen. Ich bin dein Freund. Dein einziger Freund, wenn die Toten auferstehen und kommen, um Rache zu nehmen.

Spanger rieb sich die Augen und über den Bart, dann blickte er auf die Uhr. Offenbar war keine Zeit vergangen, während sein Verstand ihn zurück in die dunkelste Stunde geworfen hatte. Die Toten. Die Toten kommen, um Rache zu nehmen, so hatte die Stimme es gesagt. Und er hielt es an diesem Ort für die Wahrheit.

»Was jetzt?«, fragte Spanger und hoffte, die anderen würden denken, das Kratzige käme vom Rauch, der dichter geworden war.

»Ich sagte: Troneg und Rentski werden uns rausholen.« Ingo berührte Cocos Schulter aufmunternd, das rote Licht der Fackel tanzte auf seinen und Friedemanns Brillengläsern. »Der junge Mann weiß ja, dass wir hier drin sind.«

»Schön. Sicherheitshalber machen wir uns selbst auf die Suche.« Der Professor zeigte auf die Wände. »Abklopfen. Und hoffen, dass wir was finden, was uns hilft. Solange die Kammer die Fertigkeiten unseres Mediums blockt, greifen wir auf bewährtes manuelles Absuchen zurück.«

Das Quartett pochte die Mauern Zentimeter um Zentimeter ab. Nichts unterschied sie von den Wänden im Außenbereich. Ein paar eingekratzte Sprüche, abgeschlagene Kanten und abgebröckelte Ecken – nichts, was den vieren weiterhalf.

»Ich frage mich die ganze Zeit, wie der Haken in den Fels kam«, sprach Coco mehr zu sich.

Spanger nutzte den Griff der MP gedankenverloren als Hammer. »Welcher Haken?«

»Herrgott, Herr Spanger!«, rief Ingo und deutete auf die Maschinenpistole. »Sichern Sie dieses Mörderding, wenn Sie damit herumhantieren.«

»Ist ja gut.« Spanger hasste Ingo, weil er eine erneute Unaufmerksamkeit aufgedeckt hatte. Ausgerechnet vor Friedemann.

»In der Wand, an dem das uralte, verrostete Stahlseil befestigt ist. Wir haben uns durch eine gigantische Höhle bewegt, ohne Decke und Boden und Seitenwände«, führte Coco aus. »Wer war der Erste, der sich in die Höhle wagte und dort einen Haken platzierte?«

»Das geht mit einer Abschussvorrichtung«, schlug Friedemann vor. »Und es ist nicht gesagt, dass er der Erste war.«

»Dann müsste derjenige aber doch wissen, dass es etwas zu treffen gibt«, hielt Coco dagegen. »Diese Person wusste genau, was sie zu tun hatte. Und das vor sehr langer Zeit.« Irgendjemand hatte weit vor ihnen versucht, dem Rätsel der Türen auf den Grund zu gehen. Nur wer? Weswegen?

Schweigend suchten sie weiter, während der Rauch ihnen mehr und mehr zusetzte. Gelegentlich hustete jemand.

Carsten, soll ich dir helfen?, wisperte die Stimme. Es wäre mir ein Leichtes. Und die Toten kommen näher. Glaube mir. Keiner von den Menschen aus deiner Gruppe kann dich beschützen. Sie werden dich verlachen, verhöhnen und zurücklassen. Einen Gefallen für einen anderen. Mehr ist es nicht.

»Der ganze Auftrag ist scheiße«, brach es aus Spanger hervor. »Hier passt nichts zusammen. Tote, Türen, die sinnlos eingebaut sind, dieses … Spukzeug, irgendwelche Söldner, die uns –«

»Fangen Sie bloß nicht an zu jammern, Herr Spanger«, schnarrte Friedemann und unterdrückte ein Husten. »Dafür ist es noch zu früh. Und dank Ihres … begrenzten Denkens räuchern wir uns grad selbst aus. Wir müssten jammern, und Sie müssten sich unentwegt bei uns entschuldigen.«

Ingo machte einen Schritt nach hinten, weg von der letzten Backsteinwand, die sie untersucht hatten. »Okay, wir können aufhören. Ich denke, dass die Mauern massiv sind. Hoffen wir auf Herrn Troneg, und sparen wir unsere Energie. Und flach atmen.« Er suchte ein Taschentuch aus der Hose und hielt es sich vor Mund und Nase.

Coco wollte nicht warten. Das Einatmen fiel ihr schwer genug, und die Angst wich nicht. Sie wandte sich zum Professor um. »Sagt Ihr Büchlein was dazu, Herr Friedemann?«

Er wirbelte herum und legte eine Hand verräterisch-beschützend auf die Tasche. »Was denn für –«

»Ich habe Sie vorhin damit gesehen. Sie haben reingeschaut und so komisch gelächelt. Hilft es uns hier raus?« Coco hätte es weniger als Frage formulieren sollen. Mehr wie ein Medium, das ganz sicher davon wusste, um Druck aufzubauen. »Es wäre ein guter Zeitpunkt.«

Spanger wandte sich Friedemann zu, und Ingo sah ihn auffordernd an.

»Äh … nein, das tut es nicht«, antwortete er.

»Zeigen Sie doch mal, Professor«, bat Ingo.

Friedemann lehnte mit einem kalten Blick ab. »Das überlassen Sie mal mir, Herr Kollege.«

»Es ist an der Zeit, über Ihre Erfahrungen mit diesen Türen zu sprechen«, beharrte Ingo. »Es ist sogar Ihre Pflicht als unser Anführer.«

Spanger hob langsam die Maschinenpistole. Manchmal wurde man zum Helden, wenn man sich gegen den Boss stellte, um alle zu retten. Eine Meuterei aus guten Gründen. »Ich finde aber auch, dass es eine gute Idee ist.«

»So? Nun, ich fände es besser, wenn Sie mal mit der MP auf die Tür schießen. Das Holz sieht ziemlich alt aus.« Friedemann nutzte das schwächste Glied der Gruppe, um von sich abzulenken. »Dass wir darauf nicht früher kamen.«

Spanger wandte sich um und musterte den Eingang. »Könnte ich. Dann bekommt Troneg auch mit, dass wir ihn brauchen.« Er sagte die Meuterei vorübergehend ab. Friedemanns Vorschlag gefiel ihm wesentlich besser.

»Falls er noch lebt«, warf Coco ein.

»Herr Professor.« Ingo wollte nicht lockerlassen und streckte die Hand aus. »Zeigen Sie mir das Buch. Unter akademischen Kollegen, wie Sie sagten.«

»Was erlauben Sie sich, Doktor?« Friedemanns Augen blitzten wütend aus tiefen Höhlen durch die Designerbrille. »Ich will auch nicht irgendwelche Messaufzeichnungen von Ihnen sehen. Gestatten Sie mir meine Kompetenz, und ich lasse Ihnen die Ihrige. Wie es sich unter akademischen Kollegen geziemt.« Er stieß die Hand so heftig weg, dass Ingo das Gleichgewicht verlor und gegen den überrumpelten Spanger taumelte, der daraufhin prompt abdrückte. Und weil er die vollautomatische Waffe entgegen dem Rat nicht gesichert hatte, röhrte die MP5 unkontrolliert los und spie ihre Kugeln bockend in alle Richtungen.

Coco schrie auf und sank zu Boden.