Kapitel IV

Dana entfernte sich einige Schritte von der Gruppe, die sich nicht darüber einig wurde, hinter welcher Tür sie Anna-Lena van Dam suchen sollten. Es passte ihr nicht, dass keiner auf ihre Rücken achtete. Immerhin war nicht ausgeschlossen, dass weitere Bewaffnete hier unten herumschlichen. Zwei Tote hatten sie bereits gefunden; einen erschossen, den anderen mit durchgeschnittener Kehle.

Sie spähte in den schummrig rötlichen Gang, der vom Streulicht nicht mehr als zwanzig Meter weit ausgeleuchtet wurde; danach schwand die Helligkeit wie ersterbende Glut. Ihre Lampen an Helm und Waffe hatte Dana ausgeschaltet, um etwaigen Verfolgern keinen Hinweis zu geben, wo genau sie sich befand. Sie ärgerte sich, dass ihnen van Dam keine Nachtsichtgeräte mitgegeben hatte. Sie hätte eine aus ihrem Privatbestand mitnehmen können, doch das hätte Fragen aufgeworfen. Vor allem bei Viktor.

So musste Dana mit den rauchenden Magnesiumfackeln hantieren, deren Geruch durch die Korridore zog und ihre Anwesenheit ganz ohne Lichtschein verriet. Sie hatte diese Dinger schon immer gehasst. Bei jedem ihrer Aufträge.

Abgesehen von Friedemanns, Ingos, Viktors und Cocos Stimmen, deren hitzige Unterredung durch die rot beleuchtete kathedralenhafte Halle mäanderte, hörte Dana zwischendurch ein Wispern und Raunen. Als versuchten die Geister der Toten dieses Ortes, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Sie sprachen Dana mit ihrem Namen an, klangen freundlich und lockend, wie man in einem Restaurant an den besten Tisch anstatt an den Platz neben der Toilette gebeten wurde.

Dana deklarierte das Ganze als Interferenzen des Funks. Schlimm genug, dass der Parapsychologe vor Begeisterung aus dem Häuschen geriet. Etwas in diesen Höhlen war messbar, aber unerklärlich.

Das beunruhigte Dana.

Ihre Blicke blieben trotzig in den Gang gerichtet.

Sosehr sie Viktor als einzig verlässlichen Mann hier unten einschätzte, so sehr nervte Dana sein ständiges Nachgefrage, wann und wo sie sich genau begegnet waren. Sie würde ihm gewiss nicht auf die Sprünge helfen. Denn sie wusste es.

Das Quintett hinter ihr diskutierte ungebrochen darüber, welche Tür es nun öffnen sollte. Dana überließ Friedemann die Wahl. Er war der Anführer, also durfte er die Verantwortung dafür tragen.

Im Korridor kam Bewegung an der Stelle auf, wo das sterbende Rot in Finsternis überging. Ein hundeähnlicher Schatten streifte unschlüssig im Schutz der Dunkelheit hin und her. Das Wesen schien noch unentschlossen, was es tun sollte. Hunger, Blutdurst, Neugier, Revierverteidigung mischten sich zu einem treibenden Gesamtimpuls.

Dana schaute durch das Visier und justierte die Vergrößerung. Es blieb zu duster, um zu erkennen, worum es sich bei dem Vierbeiner handelte. »Wenigstens kein Höhlenbär«, sagte sie leise und versuchte, einen besseren Blick zu erhaschen. »Wie kommst du nach unten, du Streuner?«

Das eröffnete die Möglichkeit, dass mehr als ein Ein- und Ausgang in das Kammersystem existierte. Gut für die kleine van Dam, schlecht für ihre Truppe. Die Hinweise auf den Türen konnten sich als falsch erweisen und die Suche in die völlig verkehrte Richtung gehen.

Der doggengroße Vierbeiner wusste, dass er beobachtet wurde. Geschickt nutzte er die Schatten und bewegte sich zielstrebig durch den Gang vorwärts.

Gelegentlich sah Dana durch die vergrößernde Zielhilfe lange Fangzähne aufleuchten. Ihr Puls beschleunigte sich. Das Wesen hatte die Lefzen angriffsbereit zurückgezogen.

Dana ging das Wagnis ein, die Unterlauflampe anzuschalten.

Der gebündelte, blaugrelle Strahl zuckte über die Wände und forschte nach einem Ziel.

Gerade wollte Dana die streitende Gruppe warnen, da verschwammen die Umrisse der Kreatur, als hätte sie eine Tarnvorrichtung aktiviert, noch bevor der Lichtkegel sie erfasste – und erschien im nächsten Moment unmittelbar vor Dana im Korridor, die Kiefer weit geöffnet und mit einer gespaltenen Zunge, die zwischen den Zahnreihen hervorschnellte.

Reflexhaft drückte Dana ab.

Das G36 jagte gehorsam einen langen Feuerstoß aus dem Lauf, das Mündungsfeuer blitzte grell auf und blendete sie. Dana hielt den Abzug gedrückt, spürte den anhaltend rhythmischen Rückstoß in der Schulter und stellte sich vor, wie das Wesen unter den Einschlägen zuckte.

Das Röhren des Sturmgewehrs wurde plötzlich eine Tonlage tiefer. Die Feuerblume vor dem Lauf flammte in Zeitlupe, und auch die seitlich ausgeworfenen Hülsen wirbelten mit immenser Verlangsamung.

Dana wunderte sich noch über das Superzeitlupen-Phänomen, da klang das G36 unvermittelt, wie es klingen sollte: Nach einem letzten Knall klickte es.

Sie nahm den Finger vom Abzug und kauerte mit pochendem Herzen neben dem Eingang zur Höhle, keuchend schaltete sie die Lampe aus. Um sie herum lagen leere Hülsen, Schweiß rann ihr den Rücken hinab.

Schnell wechselte sie das Magazin. In Panik hatte sie sämtliche Patronen verschossen. Sie benahm sich wie eine beschissene Anfängerin.

»Frau Rentski?«, rief Friedemann alarmiert. Er hatte wie Coco den Kopf zwischen die Schultern gezogen und überragte sie dennoch. Ingo hingegen sah fasziniert auf seine Geräte, als habe es die Dauersalve gar nicht gegeben.

»Ich schwöre, da war was.« Dana lud durch, ließ den Verschluss nach vorne schnappen und blickte über die Schulter. Spanger kauerte in ihrer Nähe, ebenso Viktor, die ihre Waffen im Anschlag hielten. »Wer auch immer herausfinden kann, wo das Mädchen steckt: Schneller!«

»Na, ›da war was‹ ist aber schon ein bisschen vage«, beschwerte sich Spanger. Zu gerne hätte er beim Schießen mitgemacht. »Das war viel Geballere.«

»Ein Schemen. Groß wie eine Dogge. Kam aus dem Gang, und als ich das Feuer eröffnete, verschwand er.« Dana ließ die gespaltene Zunge, die tödlichen Zähne und das undefinierbare Wabern weg und schob diese Eindrücke auf ihre angespannten Nerven. Wie die Interferenzen, die ihren Namen raunten.

»Spanger, schauen Sie nach«, befahl Friedemann. Er gefiel sich in der Rolle des Tonangebers und versuchte, seine Aufregung wegen der Türen nicht zu sehr zu zeigen.

»Ich? Troneg und Rentski benehmen sich, als wären sie eben von der GSG9-Schule gekommen. Sollen die doch gehen.« Er tippte an seine Pistole im Holster. »Ich hab außerdem nur die. Und die MP5 ist so gut wie leer. Bin total unterbewaffnet für die Aufgabe.«

»Da haben Sie nicht ganz unrecht.« Friedemann lächelte und legte eine Hand auf die zweite Tür von links, bei der die Pochvorrichtung abgerissen war, als berührte er einen verloren geglaubten Freund. »Aber Sie sind unser Mann für den Schutz. Das sagten Sie doch.«

Spanger glotzte den Professor an und konnte es nicht glauben. Nichts gegen eine Schießerei, aber alleine in die Dunkelheit? Er dachte fieberhaft darüber nach, wie er dem Befehl entkam, ohne als Feigling dazustehen.

Ingo blickte zu Coco, die ansatzweise mit den Schultern zuckte zum Zeichen, dass es ihr egal war, wer nachschaute, was sich im Gang bewegt hatte. Sie zog an der straff gespannten Kette des goldenen Pendels, das unbeirrt auf die Tür mit dem X wies.

»Meine Messgeräte zeigen mir die rätselhaftesten Werte an, aber … hier gibt es nichts, das so stark wäre, um Edelmetall auf diese Weise zu beeinflussen.« Ingo tippte gegen das Pendel, das leicht in der Luft federte und sofort seine alte Position wieder einnahm wie ein hartnäckiger Fährtenhund. »Woher hast du es?«

»Gefunden.«

»Gefunden? Wo?«

Coco presste die Lippen zusammen. Sie wollte die Wahrheit nicht verraten. »Auf dem Flohmarkt. Die … Ausstrahlung. Ich spürte sie.«

Dabei war es ein Geschenk gewesen. In einem Päckchen, unversichert und zerrupft wie einmal um die Welt gereist.

Absender: unleserlich.

Anbei: ein handgeschriebener Zettel mit der Notiz, dass dies ein Artefakt sei, mit dem eine Reihe bedeutender hellsichtiger Persönlichkeiten ihre Weissagungen getätigt hätten.

Coco hätte es beinahe weggeworfen, aber nachdem der Juwelier ihr versichert hatte, dass es sich um Gold handele, behielt sie es. Heute zeigte es zum ersten Mal seine Kräfte.

»Wir beide wissen, dass du kein echtes Medium bist. Du hast nichts fühlen können.« Ingo warf einen raschen Blick zu den anderen, die diskutierten, weil Spanger sich weigerte, dem Befehl nachzukommen. »Du bist eine schlechte Lügnerin. Wer hat dir das verkauft?«

Coco räusperte sich und machte zwei Schritte weg von ihm. Sie schloss inzwischen aus, dass es sich bei dem Geschenk um einen Zufall handelte. Das Pendel sollte zu ihr gelangen. Als eine Art Vorsehung.

»Professor, warum, denken Sie, wäre es nicht der richtige Weg, um die Vermisste zu finden?« Ingos zugreifenden Fingern wich sie geschickt aus.

»Ich habe einen Vorschlag.« Spanger hob erklärend die Maschinenpistole. »Ich sichere. Rentski hat geschossen, dann kann sie auch nachschauen. Ist nur fair.«

Dana verdrehte die Augen. »Im nächsten Leben werde ich so ein toller Typ wie Sie, Leibwächter. Und zielen Sie gefälligst mit der MP nicht in meine Richtung!«

»Wir machen das anders«, sagte Viktor und gab Dana das Zeichen zum Vorrücken. »Sie, Spanger, behalten die fünf Türen im Blick. Ich sichere Rentski.« Er setzte die ausgeklappte Stütze des G36 an die Schulter. »Bereit?«

»Bereit.« Dana pirschte mit dem Gewehr im Anschlag vorwärts. Die Helmlampe und die Unterlauflampe sorgten für Spotlicht, in dem sie sah, wohin sie ging. Dieses Mal spürte sie keine Angst.

Immer wieder blieb sie stehen, lauschte, machte zwei, drei Schritte. Sie leuchtete nach oben und unten und bewegte sich in militärischer Haltung vorwärts, leicht vorgeneigt und mit gebeugten Knien. Meter um Meter legte sie in dem Gang zurück und entfernte sich von der Halle. Und von der restlichen Truppe.

Sie fand keinerlei Hinweise auf die Bestie.

Dafür entdeckte sie Projektilreste des G36, zersplittert und gestaucht, ohne Blut oder herausgefetzte Gewebeteile. Dabei war sie sicher, den monströsen Vierbeiner getroffen zu haben. Erneut schlich die Furcht heran, grub sich in ihren Nacken und kroch von dort in ihre Gedanken. Eine schusssichere Bestie hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Und?«, blökte Spanger hinterher, seine Stimme hallte durch den Korridor. »Haben Sie was erwischt?«

»Dämlicher Idiot«, murmelte Dana und aktivierte den Sprechfunk. »Wir haben Funk, Spanger. Wenn Sie das andere Team über uns informieren wollen, schreien Sie ruhig weiter.«

»Sorry!«, rief er erneut. »Aber nach Ihrem Geballer werden die eh wissen, dass wir hier sind, oder?«

Dana verdrehte die Augen.

»Warten Sie. Ich mache es auch für Sie heller.« Spanger warf eine Fackel dicht an ihr vorbei in den Gang, bevor sie ihn davon abhalten konnte.

»Ich schwöre, ich stecke diesem Magnum für Arme so ein Ding in seinen Hintern, wenn er das noch mal macht«, fluchte sie und kickte die Fackel weiter, die von der Wand abprallte und in einem abknickenden Korridor verschwand.

Leise knallend entstand die rötliche Flamme; es rauchte und rauschte aus der Hülse, als das chemische Gemisch unlöschbar verbrannte.

Eine Kreuzung wurde sichtbar, die ebenso leer vor ihr lag wie der Gang, durch den sie geschlichen war. Keine Bestie, kein Blut, keine Gegner.

»Da war nichts. Kommen Sie zurück, Rentski. Wir wollen die Türen erkunden«, hörte sie Viktor über Funk. »Die Kleine hat Vorrang.«

Unvermittelt erklangen aus den umliegenden Gängen leise Schritte und das Rumpeln von aneinanderreibenden Ausrüstungsgegenständen. Dana kannte die Geräusche ganz genau, sowohl von ihrer Ausbildung als auch ihren Einsätzen. Sie fluchte und schaltete ihre Lampen aus, danach wechselte sie die Position. Flach legte sie sich auf den Gangboden und hob das Gewehr. »Ich höre Schritte«, funkte sie flüsternd. »Klingt wie eine Kampfeinheit.«

»Was haben Sie vor?«, fragte Viktor angespannt.

»Abwarten. Sie sind zu dicht. Wenn ich aufstehe, bin ich ein leichtes Ziel im Gang. Geben Sie mir Deckung, Troneg, und achten Sie auf Ihren Rücken, solange Spanger den Unterschied zwischen feuern und sichern nicht gelernt hat.«

Im roten Licht der Fackel tanzten menschliche Schatten an den Wänden, die abrupt stehen blieben. Gemurmel setzte ein, und mehrmals fiel der Name Anna-Lena van Dam im Zusammenhang mit dem Begriff Ritter. Oder war es auch ein Name? Ein Funkgerät piepste leise, die fremde Truppe wurde gerufen.

»Ich zähle mindestens vier verschiedene Leute, vermutlich Männer«, gab Dana ruhig durch. Alles war besser als die schusssichere Bestie. Mit menschlichen Gegnern kam sie klar. »Die Bewaffnung kann ich nicht erkennen. Die haben aber definitiv einen anderen Ausstatter als wir.«

Die bengalische Fackel verlor an Leuchtkraft, brannte kleiner und kleiner, bis das Glutlicht erlosch.

Dana lag im Stockdunkeln. Lautlos atmete sie, um sich nicht zu verraten. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass die Unbekannten die Bestie als Bluthund eingesetzt hatten und das Tier gleich ein weiteres Mal zum Einsatz brachten. Prompt brach ihr der Schweiß aus.

Vorsichtige Schritte erklangen, die sich auf sie zubewegten, dann innehielten und sich unvermittelt zurückzogen.

Es wurde still im Gang.

»Troneg, ich glaube, die Typen wissen, wo die Kleine ist. Und es sind nicht die Guten.« Dana erhob sich und schaltete das Unterlauflicht am G36 ein, verengte den Strahl mit der davorgehaltenen Hand zu einem schmalen Schlitz. »Ich folge denen und komme zurück, sobald ich weiß, mit wem wir es zu tun haben.«

»Nein, Rentski! Nicht«, hörte sie seinen Protest, aber Dana gab nichts darauf.

Die Geräusche der fremden Truppe waren nicht zu überhören, Stiefelscharren und das Reiben von Ausrüstungsgegenständen dienten Dana als Orientierung. Die Kegel von Taschenlampen zuckten weit vor ihr über die Wände, mehrmals bogen die Unbekannten ab. Gelegentlich roch es nach den verbrannten Fackeln, überwiegend blieb es beim Geruch von blankem, kaltem Fels.

Dana hinterließ kleine Markierungen auf dem Sandstein, damit sie den Weg zurückfand. Sie bewegte sich außerhalb der Reichweite des Funkverstärkers, sodass sie weder van Dam noch ihre eigene Truppe vernahm.

So stahl sie sich durch die gemauerten und gegrabenen Korridore, bis sie die Verfolgten plötzlich nicht mehr hörte. Sie waren verschwunden.

»Scheiße.« Dana nahm die Hand von der Lampe und leuchtete umher.

Der helle Schein huschte über ein altes Schild aus Emaille, weiße Schrift auf schwarzem Grund, die altertümlichen Buchstaben verkündeten Zentrale, darunter ein Pfeil nach links.

War das der Ort, an dem sich die Unbekannten aufhielten?

Dana folgte dem Pfeil und fand sich nach einem bogenförmigen Schwenk des Ganges vor einer angelehnten, mit Rost und Staub bedeckten Stahltür wieder, vor der sich dicke Spinnennetze spannten. Von dieser Seite aus hatte seit langer Zeit keiner den Raum betreten – oder es gab unter der Erde die schnellstwebenden Arachnoiden der Welt. Dennoch ließ die Neugier, welche Art von Zentrale es hier einst gegeben hatte, Dana durch die Netze und die unverschlossene Tür treten. Leise knisternd rissen die Fäden und hinterließen weißliche Muster auf ihrer schwarzen Einsatzkleidung und dem Helm.

Sie fand sich in einem Vorraum wieder, von dem weitere dicke Eisentüren abgingen: Telefonraum, Kartenraum, Besprechungsräume I bis IV, Waffenraum, Ruheräume.

Dana schaltete die Helmlampe ein. »Na, wenn das nicht von den Nazis ist«, sagte sie mit einem Grinsen. »Wie immer.«

Aber weder gab es Hakenkreuze noch militärische Abzeichen an den Wänden.

Dana dachte nach. Vielleicht waren Karten und andere Unterlagen über die Anlage unter der Erde in den Zimmern zu finden, und diese mochten bei der Suche nach Anna-Lena van Dam helfen. Denn dieses Labyrinth konnte riesig sein.

Also betrat Dana einen Raum nach dem anderen, nur um festzustellen, dass sie ausgeräumt und verwaist waren. Verstaubtes Mobiliar stand noch herum, vergilbte Papierfetzen hingen an rostigen Stecknadeln an den Steckwänden. Die Dokumente und Karten waren in großer Eile herabgerissen worden. Eine vergessene Schreibmaschine, zwei Telefone und die Art, wie Stromschalter und Stecker gefertigt waren, machten die Durchsuchung zu einem Gang durch ein geplündertes Museum.

»Doch keine Nazis«, murmelte Dana und gelangte in Besprechungsraum IV. Ihre Lampenpunkte geisterten über schlecht gewischte Tafeln, auf denen die Reste von Formeln rings um eine aufgemalte Tür standen. »Und kein Bernsteinzimmer.«

Die Abkürzungen und Zeichen sagten Dana nichts. Ihrer Meinung nach handelte es sich weder um gängige mathematische noch physikalische oder chemische Formeln.

»Eine Tür und Berechnungen.« Da die Kamera die Bilder nicht sendete und van Dam sie demzufolge an der Oberfläche nicht sah und speicherte, zog sie ihr Smartphone aus der Tasche und machte einige Aufnahmen davon. Sie hoffte, dass der Parapsychologe etwas damit anfangen konnte.

Bevor sie sich auf den Rückweg begab, inspizierte sie die Schieferoberflächen und die Notizen darauf genauer. Der Aufschrift in einer Ecke nach waren die Tafeln vor mehr als hundert Jahren hergestellt worden. Folglich bestand die Zentrale wohl schon vor der Nazizeit, doch es gab keinen Anhaltspunkt, wann und warum sie aufgegeben worden war. Oder wer sie genutzt hatte.

Dana wandte sich zum Ausgang und sah in der Ecke hinter der Tür ein Häufchen angekokelter Seiten, die nicht vollständig verbrannt waren.

Sie bückte sich danach und überflog die mit Schreibmaschine verfassten Berichte, die unterschiedliche Jahreszahlen aus dem letzten Jahrhundert trugen. Auf den ersten Blick war da nichts, was sie und ihre Truppe weiterbrachte.

Beim untersten Papier hielt Dana inne.

Der Text war handschriftlich verfasst, mit fliegenden Fingern in erkennbarer Panik und in Sütterlin, was für Dana schwer zu lesen war. Es kostete sie einige Mühe, die Aufzeichnung überhaupt zu entziffern.

… die ganze Zeit!

Aber man glaubte mir nicht.

Nun habe ich den Beweis geliefert, dass die Particulae instabil werden – und das nicht erst seit gestern. Die Fluktuationen sind lediglich ein kleiner Teil der Phänomene, hinzu kommen die körperlichen Auswirkungen.

Es ist viel zu gefährlich, sich weiterhin in unmittelbarer Nähe der Türen aufzuhalten. Die Defekte der Splitter führen dazu, dass die ordnungsgemäße Funktion der Durchgänge nicht länger gewährleistet ist. Alles, was wir einst an Gesetzmäßigkeiten aufstellten, gilt nicht mehr, die Anomalien reichen bis hin zu möglichen Temporalverschiebungen und willkürlichen Realitäten.

Wir haben vermutlich etliche gute Männer und Frauen fahrlässig in den Tod geschickt, die wir erst später als Verluste aufgrund von Auseinandersetzungen abgeschrieben hatten. Wir dürfen keinerlei Experimente mit unseren Besten machen.

Darüber hinaus haben meine Berechnungen ergeben, dass mit zunehmendem Verfall der Splitter nicht nur die Funktion der hiesigen Türen beeinträchtigt wird und es zu Fehlbesuchen kommt, sondern eine heftige exotherme Reaktion eintritt, sobald sich die Metallteile infolge der Instabilität auflösen.

Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert lassen den Schluss zu, dass sich verschiedene Katastrophen durch …

An dieser Stelle endete die Mitteilung.

Dana steckte den Wisch unter die Panzerweste, um sie dem Parapsychologen zu zeigen. Er würde sich eher einen Reim darauf machen können als sie.

»Fluktuation«, raunte sie nachdenklich, während sie die Zentrale verließ.

Fluktuation und Phänomene.

Sie erinnerte sich daran, wie das G36 unvermittelt in Superzeitlupe geschossen hatte; wie die Schwerkraft in der Halle aussetzte. Es war keine Einbildung gewesen. Hatte der Verfasser das damit gemeint? Und gehörten der doggengroße Schemen sowie die geborgene Anna-Lena ebenfalls dazu, die angeblich eine Kopie war? Womit mussten sie noch rechnen?

Dana kehrte in das Korridorlabyrinth zurück und suchte nach ihren Markierungen auf den Wänden. Sie wollte rasch wieder zur Gruppe.

* * *

»Rentski?«, funkte Viktor besorgt. »Rentski, kommen Sie zurück.«

Sie meldete sich nicht.

»Herr van Dam?«

Auch der Geschäftsmann schwieg.

Viktor wandte sich zur Gruppe. »Hat jemand von Ihnen noch Kontakt nach oben?«

Friedemann, Coco und Ingo standen vor der Türallee und diskutierten leise. Sie ignorierten seine Frage.

»Bei mir ist er auch weg.« Spanger schaute zu Viktor und kratzte sich am Tony-Stark-Gedächtnisbart. Er wollte etwas hinzufügen, als er unwillkürlich schauderte. Es fühlte sich an, als habe sich ein Geist neben ihn begeben, dessen Blicke er in seinem Genick spürte.

Zeige keine Reaktion, Carsten, warnte ihn eine wispernde Stimme, die weder als männlich noch als weiblich zu erkennen war. Ich bin gekommen, um dich zu retten. Denn wenn ich dich nicht rette, wirst du sterben. Wie die anderen. Alle anderen, die in den vielen Dekaden bei mir unter der Erde waren.

Spanger erstarrte. Er ersparte es sich, wie ein Debiler um die eigene Achse zu rotieren und nach dem Ursprung der Stimme zu suchen. Geister. Dämonen. Etwas, was er sich nicht erklären konnte und weswegen sie den Parapsychologen mit seinen Messinstrumenten dabeihatten. Van Dam hatte es von Anfang an gewusst und sie trotzdem in diesen Albtraum geschickt!

Ich werde jetzt immer in deiner Nähe sein. Und dir eine helfende Hand reichen, wenn du mich brauchst, sprach es leise in seinem Ohr, und warmer Atem hüllte ihn ein, der nach Staub, trockener Haut und Öl roch. Tust du das nicht, verlierst du deinen Verstand. Bald erkennst du, was ich meine. Ich bin die einzige Macht, die erkennt, was du bist. Wie stark du bist. Welch tolles Wesen du hast. Du bist es wert, gerettet zu werden. Auf bald!

Spanger schluckte schwer und spürte, dass die Präsenz wich. Der Geist, oder was immer ihn heimsuchte, hatte sich aufgelöst. »He, Doktor Theobald. Was machen Ihre Geräte?«, wollte er wissen. »Irgendwas Besonderes?«

»Nein, Herr Spanger. Also, doch, schon. Aber keine Veränderung, wenn Sie das meinen?« Ingo blinzelte ihn durch seine Nickelbrille an. Er hatte die Messinstrumente zu einem einigermaßen handlichen Block verbunden, damit er sie nicht ständig neu aufbauen musste. »Weswegen fragen Sie? Haben Sie was gesehen oder …?«

»Nur so.« Spanger rieb sich über den Nacken, um zu prüfen, ob sich die Stelle kälter anfühlte. Eine Täuschung. »Einfach nur so. Wird es dann bald was? Mit den Türen?«

»Ich bin mir absolut sicher.« Coco blickte auf das schwebende ziehende Pendel, das leicht vibrierte und zur vorletzten Tür drängte.

»Nur weil die Tür als einzige mit einem X markiert ist? Ist das nicht ein wenig zu offensichtlich?« Friedemann zeigte auf die mittlere Tür, vor der er stand. »Da müssen wir hin.«

»Und wie kommen Sie darauf? Seit wann kennen sich Geologen mit Mystik aus?«, ergriff Ingo für Coco Partei. Es musste einen sehr guten Grund geben, weswegen das Pendel derart seltsam reagierte.

Der Professor lachte einmal auf. »Oh, Sie wären überrascht.«

»Wie meinen Sie das?« Cocos geschwungene und exakt gezupfte Brauen zogen sich zusammen.

»Überrascht, wie viele Kultstätten unterirdisch liegen. Es sind nicht immer Nekropolen, die man in Höhlen findet.« Friedemann deutete im hohen Raum umher, das rötliche Licht ließ den hageren Mann wie einen selbstgefälligen Dämon wirken, der sie in seine Falle gelockt hatte; fehlten nur noch die Hörner, die durch den Helm ragten. »Was glauben Sie beide, was wir hier haben? Es ist bestimmt nicht die heimliche Türsammlung eines Frührentners, der sein Hobby vor seiner Frau verbarg. Jemand wusste sehr genau, was er tat.«

Ingo lockerte den Kinnriemen seines Kopfschutzes, weil das Material in Fleisch schnitt. »Sie sehen so etwas nicht zum ersten Mal.«

Friedemann lächelte und legte eine Hand auf den defekten Klopfer. »Nein. Sehe ich nicht. Ich stolperte bei einer Höhlenerkundung schon mal über eine Tür, deren Sinn wir nicht verstanden.« Er zeigte auf die Symbole, die den Eindruck machten, von einem Szenenbildner erdacht worden zu sein: geheimnisvoll, ansprechend, vertraut und nicht auf den ersten Blick zu verstehen. »Die Zeichen waren die gleichen.«

Coco starrte gebannt auf das ziehende Goldpendel. »Aber … ich sehe doch, dass es auf diese Tür reagiert. Die Tür mit dem X. Sobald ich an die vermisste Frau denke, meine ich.« Sie sah verunsichert zu Ingo, der ihr zulächelte. »Was ist mit der Tür geschehen, die Sie damals fanden, Professor?«

»Sie brachte uns an die Oberfläche.«

»Na, Überraschung«, kommentierte Spanger, die MP locker geschultert, als wäre er ein Actionheld.

Viktor folgte der Unterredung aufmerksam. Er hatte nicht damit gerechnet, in dem Geologen einen Kenner der Lage vor sich zu haben, aber dies erklärte, warum der Professor zum Anführer gemacht worden war.

»Überraschend war es in der Tat. Wir befanden uns zu dem Zeitpunkt nämlich etwa einen Kilometer unter der Oberfläche. Und hier« – Friedemann fuhr zärtlich über die Löwenfratze und wischte den Staub herab – »wiederholt sich das Wunder. Da bin ich sicher.«

»Wie jetzt?«, hakte Spanger stellvertretend für alle nach. »War dahinter ein Lift?«

Friedemann schüttelte den Kopf.

»Ich … habe davon gehört. Türen, die … ins Nichts führen. Der Topos Tür ist sehr alt und inspirierte stets zu Märchen, Grusel und Geschichten.« Ingo war versucht, ein wenig über die Kulturgeschichte von Türen zu referieren, zügelte sich jedoch angesichts der Umstände. »Seit der Mensch Tore, Pforten und Portale baut, verbindet er damit etwas Besonderes. Schutz, Abwehr, die nächste Ebene. Das macht vor keinem Kulturkreis halt. Ich sage nur Himmelspforte. Sesam, öffne dich. Narnia. Das Monster, das aus dem Schrank springt.«

»Narnia ist gut«, kommentierte Spanger feixend. »Schlaraffenland? Ginge das auch?«

Ingo betrachtete seine Geräte und die Anzeigen. »Aber verifizieren konnte ich die Geschichten bislang nicht. Bei allen Besuchen, die ich als Parapsychologe an seltsamen Orten schon absolvierte, gab es nicht einen Beleg für deren Existenz. Ebenso wenig wie für Geister.« Er drückte auf den Knöpfen der gekoppelten Instrumente herum, die Zunge ragte aus dem rechten Mundwinkel wie bei kleinen Kindern, die sich auf etwas konzentrierten. »Nun habe ich endlich einen Beweis gefunden.«

»Türen ins Nichts. Oder an die Oberfläche.« Friedemann war überzeugt, den richtigen Durchgang ausgesucht zu haben. »Oder an welche Orte auch immer.«

Coco blieb hartnäckig vor ihrer gewählten Tür mit dem X stehen. »Ich habe noch nicht verstanden, warum Sie denken, wir finden das Mädchen dort, Professor. Mein Pendel und die Energien sprechen eine eindeutige Sprache.« Sie zeigte auf das kreuzförmige Lippenstiftzeichen. »Das Übersinnliche und die Physik sind sich einig.«

Friedemann leuchtete mit der Lampe auf den Boden. Ein kaum erkennbarer Pfeil war in den Staub gemalt, daneben lag ein Kleidungsfetzen in Dunkelgrün. »Deswegen. Frau van Dam gab uns einen Hinweis. Das schlägt meiner Ansicht nach Ihr Pendel und den Ohrring von Spanger vor der anderen Tür.« Er legte die Hand auf den Griff. »Apropos: Herr Spanger, bereit machen. Kriegen Sie das hin, uns zu sichern? Oder haben Sie wieder bessere Ideen?«

»Moment. Nicht so hastig. Wir haben Rentski verloren«, warf der kräftige Mann ein und fuhr sich nervös mit der MP-Mündung am Bart entlang. »Meinen Sie nicht, wir sollten warten, bis sie zurück ist?«

Viktor fand den Vorschlag gut, auch wenn er von Spanger kam. Er leuchtete in den dunklen Gang, aber von der sportlichen Frau war nichts zu sehen. Langsam glaubte er zu wissen, woher er ihr Gesicht kannte. Es gab keine Zwillingsschwester, wie Dana behauptet hatte.

Friedemann schüttelte den grauhaarigen Kopf, das Brillenglas reflektierte das Licht und schuf den Eindruck, als sei dahinter nichts. »Ich bin der Anführer. Und unser Auftrag ist klar.«

Er öffnete die Tür mit dem defekten Klopfer.

Sie schwang ohne Widerstand nach außen auf.

Im Licht der Lampen und der Fackeln zeigte sich: eine blanke Felswand.

Spanger lachte laut auf. »Jaja. Besser als Pendel und Ohrring. Ich seh schon!« Sein Gelächter verfing sich an den Fels- und Backsteinwänden und umflatterte sie wie aufgeregte Fledermäuse.

»Das verstehe ich nicht!« Friedemann schloss die Tür und öffnete sie wieder. Sie wog wesentlich weniger als erwartet, die Türangeln mussten eine unsichtbare Öllagerung haben. Mehrmals wiederholte er den Vorgang. Doch es blieb bei nacktem Stein. »Damals ist es anders gewesen!«

Wütend warf er die Tür zu und ging zu jener mit dem roten X, die Coco ausgesucht hatte. Er schob das Medium grob zur Seite. Sein heftiges Rütteln an der Klinke brachte nichts, sie war verriegelt.

»Das kann nicht sein!« Der Professor stakste mehrmals an den Türen entlang, seine dürre Gestalt ließ ihn wie einen verärgerten schwarzen Flamingo wirken, und hielt an der äußersten rechten mit dem Kastenschloss, die mit einem Ausrufezeichen versehen war und vor der sich der verlorene Ohrring befunden hatte. »Dann eben diese hier!«

Mit einem Ruck zog er sie auf.

Anstelle von Gestein gab es Schwärze, in welche das Licht von Friedemanns Helmlampe hineinschnitt. Rasch versperrte er mit seinem Körper für die anderen einen genauen Blick ins Innere. Er wollte der Erste sein, wie Kolumbus oder Neil Armstrong oder Howard Carter. »Endlich!«, stieß er jubelnd aus. »Ich mag mich mit der anfänglichen Auswahl getäuscht haben, aber es geht voran.«

»Mal langsam! Sie können doch nicht einfach so meine Tür aufreißen.« Spanger stellte den schweren Rucksack ab und kam angerannt, die Maschinenpistole im Anschlag. »Ich habe gesagt, dass es die richtige ist. Haben Sie gehört? Ich hab’s gleich gesagt.«

»Professor! Wir müssen über Ihre Erfahrungen mit diesen Türen sprechen!« Ingo nahm seine Instrumente und folgte Spanger. Das Gewicht der Geräte war spürbar, der Klotz hinderlich, aber es musste sein. Eine Entdeckung jagte die nächste, und sie alle wollten dokumentiert werden. »Unbedingt, hören Sie? Das ist wichtig für unsere Mission.« Und seine eigenen Forschungen. Der Nobelpreis rückte plötzlich in greifbare Nähe.

Coco ging hinterdrein, das zerrende Pendel in der Hand, das weiterhin behauptete, die Tür mit dem X sei der richtige Weg zur Verschollenen. Es kam ihr durch und durch falsch vor, durch eine andere Tür zu gehen. Total falsch und gefährlich.

Spangers verlorenes Lachen prallte über ihren Köpfen hin und her von den Wänden, wurde zwar leiser, erklang dafür jedoch rückwärts. Das machte die Laute umso gruseliger.

»Ihre Tür, Herr Spanger? Wohl kaum.« Schnell trat der Professor furchtlos auf die Schwelle des äußeren rechten Durchgangs. »Los! Mir nach! Da ist ein Gang. Reden können wir später. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Die junge Frau ist in allerhöchster Gefahr.« Er sah über die Schulter zu Viktor, ein begeistertes Leuchten in den braunen Augen. »Troneg, Sie warten hier und schauen nach Rentski. Sobald Sie sie gefunden haben, stoßen Sie zu uns. Schaffen Sie das?«

»Natürlich, Professor.« Es war zwecklos, Friedemann zurückhalten zu wollen, auch wenn sein ungestümes Vorgehen allem widersprach, was angebracht war. Dass der Professor bereits Kontakt zu solchen Türen gehabt hatte, die eine unerklärliche Auswirkung auf ihre Umgebung hatten, machte ihn blind vor Begeisterung für die restlichen Gefahren.

»Sehr gut. Viel Glück.« Friedemann ging beschwingt ins Dunkel, und die verkleinerte Gruppe trat nacheinander durch die Tür.

Ingo bildete den Schluss und sah sich noch einmal zu Viktor um. »Ich hoffe, das dauert nicht zu lange. Sie sind ein besserer Schutz als Spanger.« Er ließ seine Geräte für einige Sekunden aus den Augen und legte einen Stein in die untere Ecke des Rahmens, damit die Tür mit dem roten Ausrufezeichen nicht zuschnappte. »Mir wäre wohler, ich hätte Sie zwei auch dabei.«

Viktor beließ es bei einem zustimmenden Handzeichen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder in den Gang.

Ingo atmete tief ein und zurrte den Kinnriemen des Helms enger. »Was für ein Abenteuer. Welche Möglichkeiten!« Er verschwand in die Finsternis.

In der Halle wurde es ruhiger. Die leisen Unterredungen des Quartetts aus der Kammer und dem anschließenden Gang wurden zu einem entfernten Gemurmel. Auch das echohafte Lachen war verklungen.

Viktor verfluchte Dana dafür, dass sie sich auf eigene Faust an die Verfolgung der Unbekannten gemacht hatte. Jetzt war die Gruppe getrennt, und das ging auf die Kappe der vermeintlichen Freeclimberin.

Ein kleines Stück am Stein, den Ingo in den Türrahmen gelegt hatte, wurde durch den darauf lastenden Druck abgesprengt. Der Keil hielt durch seine veränderte Form an den glatten Oberflächen nicht mehr und rutschte weg. Die Tür schob sich allmählich zu und schloss sich letztlich mit einem kaum wahrnehmbaren, eigentümlichen Geräusch.

Viktor bemerkte davon nichts. Er kauerte ungeduldig am Eingang der großen Halle, deren Wände himmelhoch aufragten.

Seine Vorstellungskraft gaukelte ihm verschiedene Szenarios vor, die immer darauf hinausliefen, dass Dana bei ihrem Alleingang in Gefahr geraten war und seine Hilfe benötigte. Zudem bezweifelte er, dass Spanger als Beschützer der ansonsten recht kampfunerfahrenen Gruppe taugte. Eher erschoss der Mann die anderen aus Versehen. Das Warten machte Viktor nervös. Ein unnützer Gedanke reihte sich an den nächsten. Er musste etwas tun.

»Kcuf!« Viktor zückte eine weitere Fackel – und stutzte.

Das Wort hatte sich falsch angehört.

Ganz langsam wiederholte er es: »Fuck.«

Jetzt passte es. Er musste sich getäuscht haben.

Viktor erhob sich und warf die gezündete Fackel, die fauchend und funkend den Korridor in helles Rot tauchte. Kristallbewachsene Steinwände, betagte Backsteinmauern und rostfleckige Betonelemente wurden deutlicher sichtbar.

Als nichts geschah, sprintete er los, das Gewehr leicht vorgehalten, und suchte die Stelle ab, an der er Dana vorhin noch gesehen hatte. Aber auch das machte ihn nicht schlauer, die Frau blieb verschwunden.

Es stellten sich gleich mehrere Fragen: Vorrücken oder nicht? Und was, wenn er sich auf der Suche nach Dana verlief? Wenn man ihn schnappte? Wenn er in eine Bodenspalte fiel?

»Hört mich jemand?«, vernahm Viktor unvermittelt van Dams Stimme in seinem Kopfhörer und zuckte unwillkürlich zusammen.

»Herr van Dam!« Erleichtert atmete er auf. »Der Empfang war weg. Haben Sie Kontakt zu Rentski?«

»Nein. Weder zu ihr noch zu Friedemann und den anderen. Sie sind der Einzige, mit dem ich sprechen kann.«

»Verstehe. Klar.« Viktor fasste für den Geschäftsmann zusammen, was in den letzten Minuten geschehen war. »Friedemann hat keine Sendeverstärker mitgenommen. Daran wird es liegen.« Viktor trabte zurück in die Halle, kauerte sich neben den Eingang und sicherte den Gang hinab, in dem die Bengalfackel leuchtete. Es wäre eine dumme Idee, genau das zu tun, was er Friedemann als unprofessionell ankreidete: einfach losgehen. Daher bezwang er seine Ungeduld. »Sagen Sie, wusste Anna-Lena, dass es diese Türen gibt?«

»Nun … Sie …« Van Dam zögerte.

Viktor seufzte. »Gut. Dann frage ich anders: Warum haben Sie uns das verschwiegen?«

»Es ist für Ihren Auftrag unerheblich. Ich glaubte niemals dran. Meine Tochter schon.«

»Glauben? Was an diesem Ort geschieht, ist weit entfernt von Glauben. Doktor Theobald kann es messen. Physikalisch.«

»Es war eine Geschichte, die meine Mutter mir erzählte. Als ich es nicht mehr hören wollte, sprach sie mit Anna-Lena darüber. Von klein auf.« Van Dam tippte etwas auf seiner Tastatur. »Das Haus, durch das Sie gegangen sind, gehörte meinem Großvater. Meine Großmutter war eine begnadete Geschichtenerzählerin, und sie machte sich einen Spaß daraus, von Türen zu erzählen, die Zauberwirkung besäßen. Aber Großvater verbot uns, den Keller zu betreten. Wegen der Monster, die aus den Türen kommen könnten.«

»Deswegen haben Sie uns den Parapsychologen mitgegeben«, sagte Viktor. »Und Professor Friedemann.«

»Wie bitte? Was sollte denn der Geologe damit zu tun haben?«, fragte der Geschäftsmann erstaunt.

»Weil er die Türen bereits kannte.« Viktor war irritiert. »Das war nicht der Grund für sein Engagement?«

»Herr Troneg, ich wusste nicht, dass es diese Türen dort gibt! Ich hielt es für eine nette Erfindung. Aber meine Tochter wollte der Sache nachgehen. Seit sie ein kleines Mädchen war. Sie war fasziniert von dem Haus, dem Keller und der Fabrik. Wie oft habe ich sie früher gesucht und von …« Van Dam räusperte sich. »Egal. Sie wissen, was ich von Ihnen erwarte, und wenn eine dieser Türen Sie direkt in die Hölle führen sollte.«

Vielleicht sind wir schon dort?, dachte Viktor. »Herr van Dam, wir müssen später …«

»Troneg?«, meldete sich Dana plötzlich mitten in das Gespräch der beiden Männer.

Viktor atmete auf. »Gott sei Dank! Wir haben uns Sorgen gemacht. Haben Sie eine Ahnung, wo Sie stecken?«

»Ich habe versucht, den Typen zu folgen, aber sie haben mich abgehängt. Ich sollte gleich bei Ihnen sein, Troneg.«

»Eine Spur von meiner Tochter?«, fragte van Dam hastig.

»Nein. Leider nicht. Sagt Ihnen der Name Ritter etwas, Herr van Dam?«

»Ritter … nein. Warum fragen Sie?«

»Diese Typen nannten ihn. Hätte sein können, dass … egal. Ich stieß auf eine längst verlassene Zentrale, deren Einrichtung schwer nach Anfang 1900 aussieht. Oder jünger. Ich bin keine Historikerin«, berichtete Dana knapp. »Gleich mehr dazu, aber erst will ich zurück in die Halle.«

Viktor erhob sich, mit dem Rücken zur Türenallee. Er hielt seine Augen auf den Gang gerichtet. Lichtkegel huschten darin umeinander. »Haben Sie Ihre Lampen angeschaltet, Frau Rentski?«

»Ja! Sehen Sie den Schein?«

»Wackeln Sie zweimal waagrecht, danach einmal senkrecht. Ich will Sie nicht aus Versehen erschießen, weil ich Sie für einen Feind halte.«

Der Schein bewegte sich sogleich entsprechend. »Das sollten Sie unserem Tony Stark überlassen. Spanger schafft das auch ohne Missverständnis.«

»Alles klar. Kommen Sie.«

Ohne dass Viktor und die locker herantrabende Dana es bemerkten, senkte sich die Klinke der Tür mit der defekten Klopfvorrichtung langsam herab. Behutsam schwang der Eingang einen Zentimeter auf, zögerlich und zaudernd, als dächte jemand auf der anderen Seite darüber nach, ob es eine gute Idee sei, ins Freie zu treten und sich den Menschen zu zeigen.

Und doch genügte die Lücke.

Schwärze sickerte aus dem Spalt wie fließende Tinte, kroch erkundend in die rötlich beleuchtete Halle.

In der nächsten Sekunde flog die Tür hinter Viktor auf.

* * *