Auf Abwegen 2
Die junge Frau in dem schicken dunkelgrünen Abendkleid stand nach ihrem beherzten Schritt über die Schwelle und einigen Metern vorwärts in einem nächtlichen Wald, der ihr vorgaukelte, ein friedlicher und ruhiger Ort zu sein.
Farn und silbriges Mondlicht, das durch die Zweige der riesigen Bäume fiel, umgaben sie. Der heimelige Käuzchenruf erklang, auch der Fuchs hatte das Bellen wieder aufgenommen. Der Wind spielte mit den Ästen und dem Laub, erzeugte ein allgegenwärtiges Rascheln.
Die junge Frau ließ sich längst nicht mehr täuschen. Dafür hatte sie in den letzten Stunden zu viel von dem erlebt, wovor sie die Geschichten gewarnt hatten. Sie lauschte und blickte sich unentwegt um, aber rührte sich vorerst nicht; den Ast hielt sie schlagbereit in ihrer Rechten.
Das Grollen der Raubtiere, die irgendwo in dieser Welt lebten, war verklungen. Sie hoffte, dass die Wesen andere Beute gefunden hatten, am besten diese unsichtbare Kreatur aus dem Labyrinth.
Erst als sie sicher war, dass sich nichts um sie herum bewegte, ging sie langsam vorwärts. Ihr Blick richtete sich auf das Smartphone und die Empfangsanzeige: Kein Dienst.
»So eine Scheiße«, murmelte sie und wandte den Blick zurück zur spaltbreit geöffneten Tür, durch die sie gekommen war.
Auf dieser Seite gehörte der Durchgang zu einem alten, zerstörten Bunker, der gesprengt in der Landschaft lag, die Reste überwuchert von Grün. Die Beschriftungen auf der Tür waren nicht zu lesen, auch die Zeichen sagten ihr nichts. Aber für sie stand fest, dass es sich um keinen Ort handelte, der in ihrer bekannten Welt lag. Nichts erinnerte an die hohe Halle mit den fünf rätselhaften Türen.
Aber auch das kannte sie.
Unvermittelt erklang ein elektronisches Piepsen, und die junge Frau schaute aufs Display.
Der Signalbalken sprang an und wieder aus, ein und zwei dicke Striche wurden in raschem Wechsel angezeigt.
»Ja, bitte! Bitte!«, rief sie erlöst. »Das muss doch …« Sie reckte den Arm, suchte Empfang und pirschte behutsam voran.
Sie hatte sich geirrt. Zum Glück! Dieser Wald lag doch auf der guten alten Erde mit Mobilfunkmasten und -verstärkern, die ihre Rettung ermöglichten. Vielleicht hatte die Tür sie in ein Wildtierreservat gebracht oder in ein Wolfsgehege. Das würde das Geheule erklären.
Die junge Frau schlüpfte durch ein dichtes, üppig grünes Farnfeld, unentwegt auf der Suche nach besserem Signal. Einige Male strauchelte sie mit den Absatzschuhen im weichen Boden, wich abgebrochenen Stämmen aus und trat schließlich auf eine Lichtung, die im vollen Mondlicht lag. Der Himmelskörper schien deutlich größer und näher als sonst.
Behutsam schlich sie bis zur Mitte und hielt das Handy, so hoch sie vermochte. »Komm schon«, raunte sie beschwörend. »Bring mich nach Hause.«
Plötzlich ein leises Knistern, und der Farn wogte um sie herum.
Die junge Frau regte sich nicht und schaute umher, lauschte aufmerksam. Den Ast reckte sie nach vorne, um mögliche Attacken abzuwehren. Ihr Nasenpiercing und ein Ohrring funkelten eisig im Licht der Gestirne auf. Den anderen hatte sie irgendwann verloren. Sie würde ihn nicht suchen.
In diesem Moment zeigten die Signalbalken wie zur Belohnung den vollen Ausschlag.
»Gott, ja!«, schrie sie vor Freude auf.
Die zerkratzten Finger huschten befehlend über das Gerät, artig wählte das Smartphone.
Derweil blickte sie sich wieder um. Unmittelbar vor ihrer Rettung wollte sie nicht gefressen werden. Argwöhnisch betrachtete sie den sich wiegenden und biegenden Farn. Ein entferntes Heulen erklang. Weit genug weg, um keine Furcht in ihr zu erzeugen, aber nahe genug, um zu wissen, dass die Tiere nicht verschwunden waren.
In einem Reflex duckte sie sich, um nicht entdeckt zu werden, und wäre am liebsten von der exponierten Lichtung gekrochen, um sich auf einen Baum zu begeben und auf den Parkwächter oder sonst einen Zuständigen zu warten, der sie aus dem Gehege befreite.
Wie zur Strafe gingen die Balken sofort zurück.
Also stellte sich die junge Frau erneut aufrecht hin und presste sich das leuchtende Handy an die Wange.
Nach einer gefühlten Ewigkeit läutete es.
Dreimal, viermal.
Dann klickte es. Der Anruf war entgegengenommen worden.
»Papa! Papa, hörst du mich?«, rief sie freudig. »Hör mir zu! Ich war in dem Haus von Urgroßvater …«
Aus dem Lautsprecher erklang eine verzerrte Stimme, die keinem Menschen gehörte. Unverständliches Gebrabbel drückte sich in ihr Ohr.
Sie sah auf das Display. Die Nummer stimmte. »Scheiße, was …?«
Sie legte auf und betätigte den Notruf.
Erneut versuchte das Smartphone, Kontakt herzustellen.
Das Heulen ertönte wieder, deutlich näher als vor wenigen Sekunden, und der Farn bewegte sich plötzlich gegen die Windrichtung. Etwas raste im Schutz des dichten Grüns frontal auf sie zu.
»Fuck!« Die junge Frau rannte los, zurück zur Tür, durch welche sie gekommen war. Ihr erschien die Aussicht auf Überleben jenseits dieses Waldes größer, auch wenn in der Kammer etwas anderes auf sie lauerte. Aber immerhin hatte sie nun einen Ast, mit dem sie sich wehren konnte.
Die Balken fielen sofort auf null Empfang zurück. Kein Dienst.
Der zerstörte Bunker tauchte zwischen den Stämmen auf, die Tür war nun sperrangelweit geöffnet.
Das Mondlicht schien in den Raum, der ihr kurzfristige Sicherheit versprach, und riss die vollgeschriebenen Wände aus Beton und Backstein aus der Dunkelheit. Sie sah den zerbrochenen Türklopfer auf dem Boden, die zerstörten Gebeine sowie den Toten in der Tarnuniform. Die Maschinenpistole in seiner Hand wirkte verlockend, auch wenn sie nicht wusste, wie man mit so etwas umging. Doch damit wäre mehr auszurichten als mit dem Ast, den sie umklammerte.
Die junge Frau keuchte vor Anstrengung, behielt aber ihre hohe Geschwindigkeit bei. Sie stolperte auf dem weichen Untergrund, fiel aber nicht.
Das Grollen der Monster rückte näher.
Ich schaffe es, dachte sie unentwegt. Weniger als zehn Meter trennten sie noch. Ich schaffe es!
Da schob sich ein Mann in einem Nadelstreifenanzug aus dem Inneren des Bunkers in den Eingang; das weiße Hemd und die schwarze Krawatte saßen makellos. Sein abruptes Erscheinen hatte etwas Surreales. Neugierde zeigte sich auf seinem glatt rasierten Gesicht, während er der jungen Frau dabei zusah, wie sie um ihr Leben spurtete.
Dann hob er seinen rechten Arm. Ein Ring schimmerte im Mondlicht an seinem Finger auf, die er auf die Tür legte und sie zuschob, bevor sie den Durchgang erreicht hatte.
»Nein!«, schrie die junge Frau wütend. »Nein! Ich muss rein! Hören Sie! Ich muss …« Aus vollem Lauf warf sie sich gegen die Tür, die noch einen Spaltbreit geöffnet war. Beim Versuch, den Ast in die Lücke zu rammen, brach er entzwei, das Holz splitterte. »Nein! Nein, machen Sie auf!« Sie rammte mit ihrer Schulter mehrmals dagegen, helle Haut und grünes Kleid rissen auf. »Hey, du Wichser!« Warm sickerte das Blut aus den frischen Kratzern.
Von der anderen Seite erklang ein tiefes Lachen. Der Unbekannte schob mit viel Kraft.
Und die Tür fiel zu. Klickend rastete das Schloss ein, und im gleichen Augenblick huschte das gefürchtete Flirren über die Tür.
Erbost trat die junge Frau dagegen. Sie wusste, was das bedeutete: Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Jetzt gab es nur noch sie, den Wald – und die Monster.