Vierte Szene
13. Juni 3042 a. D. [Erdzeit]
SYSTEM: STYGMA
Tannmann sah auf dem Hauptmonitor der Closer, dass Geschwader Gelb sich in Scharmützeln mit den Plasmabulldozern befand.
Orcas gegen fette Pottwale.
Die riesigen, behäbigen Schiffe mit den Magnetfelderzeugern hatten den Angriffen aus eigener Kraft kaum etwas entgegenzusetzen. Panzerung besaßen sie offenkundig so gut wie keine. Während die Raketen und Granaten durch die magnetischen Kräfte abgefälscht wurden, waren sie gegen Energiewaffen hilflos. Kurze Breitseiten genügten, um die Collector-Arbeitsschiffe auseinanderbrechen zu lassen. Die Laser schnitten sich mühelos durch die Hüllen, brachten die Antriebe zum Explodieren.
Aber der ganz große Erfolg fehlte der Flotte noch.
»Bislang: siebenundvierzig zerstörte Plasmaschieber«, meldete der Überwachungsoffizier. »Eigene Verluste: siebenunddreißig. Überwiegend Panzerkreuzer, Sir.« Er aktualisierte die Anzeigen und eingehenden Meldungen. »Sir, die Asteroiden zeigen trotz des konzertierten Beschüsses nur geringe strukturelle Verformungen. Auch der Plasmahaufen hat sich nicht aufgelöst. Die Bulldozer schließen die Lücken bislang effektiv. In Quadrant 7, III, A geht einer der Bulldozer mit seinem Magnetfelderzeuger gegen zwei unserer Panzerkreuzer vor. Die Kommandanten melden, dass die Instrumente einschließlich der Zielerfassung verrücktspielen.«
Tannmann biss die Zähne fest zusammen. Dann bleibt mir nur eins. »Geben Sie mir die Arc I. Geschwader Blau soll auf meinen Befehl einen Korridor schaffen und notfalls das Sperrfeuer auf sich ziehen.« Er schob sein schlechtes Gewissen zur Seite. Die Nationen und Konzerne opfern bei Erkundungsmissionen seit Jahrzehnten Betas für Profit. Heute sterben sie für Größeres.
»Nur keine freien Betas und Hybride. Nicht in solch gewaltiger Zahl und auf einen Schlag«, hörte er wieder seine Frau. »Und nicht mit einer Lüge.«
Ich weiß, ich weiß. Er bewegte die Schulter und lehnte sich nach vorn, um auf die Tastatur einzutippen. Der Code zur Aktivierung der Fernsteuerung für das Schiff und die Atomsprengköpfe wurde übermittelt - und abgewiesen.
Nein! Tannmann wiederholte den Versuch.
Der Computer blieb stur und lehnte den Code weiterhin ab. Auf dem Monitor zeigten sich Störstreifen. Die magnetischen Interferenzen wirkten sich erneut aus.
Damit geriet der Plan in Gefahr.
Damit geriet der Erfolg der Schlacht in Gefahr. Und was danach mit dem Core-System geschehen würde, wollte er sich nicht ausmalen.
»Hier ist die Arc I.« Das menschlich anmutende Affengesicht von Captain Hukka erschien auf dem Monitor. Der Beta-Humanoide salutierte, an seinem Hemdrevers prangte das Twilight Industries-Abzeichen. »Air Marshai«, grüßte er ernst und hatte beim Sprechen dieses Kehlige, Animalische, das die Züchter niemals ganz wegbekamen, egal in welcher Entwicklungsreihe oder bei welcher Rasse. »Wie lautet unser Auftrag?«
Einen unpassenderen Zeitpunkt für ein Gespräch mit einem Todeskandidaten hätte es nicht geben können. Ich muss improvisieren. »Hukka, schön, dich zu sehen ... Bereitmachen zur ... Operation Headshot«, befahl Tannmann schlepppend. Nebenbei bemerkte er, dass er den Beta selbstverständlich geduzt hatte. Er wusste nicht, wie man einen freien Beta ansprach. »Du ... Sie ...«
Hukkas Gesicht zeigte ein Grinsen. »Ich kenne das Problem, Sir. Sie können mich duzen, wenn Ihnen das lieber ist. Ich war jahrelang bei United Industries als Pilot.« Er ließ die Kamera nach unten schwenken, damit das Justifiers-Emblem sichtbar wurde. Es war in Schwarz gehalten, wie es viele Veteranen voller Stolz trugen. »Ein Sie käme mir merkwürdig vor.«
»Ihr werdet einen Korridor für den Anflug zugewiesen bekommen«, sagte Tannmann. »Nichts darf euch aufhalten! Ziel ist es, mit den Rak-Lafetten im Laderaum so nahe wie möglich an den ersten Asteroiden heranzufliegen und die Werfer abzufeuern. Noch besser ist es, in eine der Spalten einzudringen und dort erst die Waffen auszulösen. Damit erreicht ihr, dass das Gestein zerbricht.«
Hukka hatte seine Fröhlichkeit nicht verloren. »Sir, als ehemaliger Planetenerkunder kenne ich mich durchaus ein wenig mit Geologie, Physik und Sprengungen aus. Sie müssen es mir nicht erklären. Ich bin nicht begriffsstutzig.«
Tannmann hörte schon wieder seine Frau, die ihn drängte, die Wahrheit zu sagen und die Betas selbst entscheiden zu lassen. Im Widerspruch dazu gab er den Code für die beiden andere Beta-Schiffe ein. Ein Test. »Verzeihung. Ich wollte dich nicht belehren. Unseren Berechnungen zufolge reicht die Zeit, dass ihr mit Arc I entkommen könnt. Ihr habt ein Zeitfenster von einer Minute, ehe alles explodiert.«
Der Computer meldete ihm in Arbeit. Der zweite Code schien zu stimmen, aber die Übermittlung wurde durch die magnetischen Felder gestört. Mit dem dritten verhielt es sich nicht viel anders. Noch mehr Probleme.
»Ich sehe schon: Twilight Industries holt für die VHR das Eisen aus der Schmelze«, sagte Hukka begeistert und zwinkerte. »Ein großer Tag für die Betas, Sir. Ich bedanke mich auch im Namen meiner Leute und des Konzerns für das Vertrauen. Meine Pilotencrew und ich werden es meistern. Wir haben besser abgeschnitten als die meisten...« Er unterbrach sich. »Verzeihen Sie, Sir. Ich wollte nicht abschweifen. Arc I meldet sich, sobald wir den Auftrag abgeschlossen haben.«
»Viel Glück, Hukka.« Er unterbrach das Gespräch. Hukka hatte im Überschwang sagen wollen, dass die Beta-Humanoiden beim Pilotieren besser abgeschnitten hatten als die menschlichen Piloten, weil ihre Reflexe oft schneller waren. Spezialisten und dem homo sapiens überlegen.
Tannmann sah, wie die Arc I sich im Deckungsfeuer von Geschwader Blau dem ersten Asteroidenschiff näherte. Obwohl es ein ziemlich schwerfälliger Frachter war, führte die Manövercrew die Arc recht elegant. Sie wich den gefährlichsten Salven aus den Geschützen der Collectors aus.
Er hatte einmal gehört, dass der antike Streifen »Planet der Affen« Kultstatus unter den Beta-Humanoiden besaß. Ich hoffe, dass es niemals so kommt.
»Stellen Sie mich zu Major Castle durch«, verlangte er. Er bekam einen Kanal zum Anführer des blauen Geschwaders geöffnet. »Major, schalten Sie Ihren Voicerecorder aus.«
»Geschehen, Sir.«
»Was ich Ihnen jetzt befehle, ist niemals geschehen.«
»Aye, Sir.«
»Sie bleiben in der Nähe von Arc I. Sobald der Frachter in einen Riss an der Oberfläche eingetaucht ist, feuern Sie Ihre Raketen auf ihn ab. Trefferkoordinaten: oberes Heck, knapp hinter den Triebwerken. Das ist die Schwachstelle.«
»Sirich...?«
»Handeln Sie, Major Castle. Wir werden später einen Programmierfehler Ihrer Zielerfassung vortäuschen. Es wird keinerlei Konsequenzen für Sie und Ihre Karriere haben. Im Gegenteil: Sie sind kriegsentscheidend, Major.«
»Aye, Sir.« Castle schaltete ab.
»Sir, die Scoutschiffe von Geschwader Gelb melden, dass die Plasmawolke auf eine Sonde zugeschoben wird«, rief der Überwachungsoffizier. »Laut den Vermutungen der Physiker der VHR handelt es sich dabei um eine gewaltige Wasserstoffbombe. Mit ihr kann die Initialzündung erfolgen, um das Schwarze Loch zu kreieren.«
»Kommen wir an die Sonde heran?«
»Nein, Sir. Dazu mussten wir das Plasma umfliegen, aber die Ausmaße sind zu gewaltig. Nicht mal unser schnellster Kreuzer kann es. Vor die Wolke zu springen ist zu gefährlich. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Schiff dabei hineingerät oder von Ausläufern erfasst wird oder in das Magnetfeld gerät, liegt bei neunundneunzig Prozent«, gab der Mann zurück.
Die Arc I erhielt mehrere Raketentreffer mittschiffs, Panzerplatten wurden mit gewaltigen Explosionen vom klobigen Rumpf geschält.
Nein, ihr Scheißbetas! Ihr müsst den Frachter in den Riss bekommen! Tannmanns Finger krallten sich in die Sitzlehne.
Die nächsten Geschosse durchschlugen die Hülle, und der Antrieb erlosch mit einem Flackern. Erschrocken sah der Air Marshai, dass Boxen aus dem Leck geschleudert wurden. Die Container trugen einen Teil der wichtigen Sprengköpfe in sich. Der Transporter hielt unbeirrt seinen Kurs.
Tannmann erwiderte nichts. Los, Hukka, du Chim-Bastard! Bring das Ding ins Ziel, dachte er inständig.
Arc I zündete plötzlich die Steuerdüsen, stürzte sich mit einer akrobatischen Steuerbordrolle dem Asteroiden entgegen und hielt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf eine freie Stelle zwischen zwei Geschützen der Abwehrstellungen zu. Ein blinder Fleck und breit genug, um darin zu verschwinden.
Zwar wurde der Transporter von einer Salve Granaten getroffen, aber die Einschläge konnten nicht verhindern, dass Hukkas Crew mit äußerster Genauigkeit in den Spalt eintauchte.
Da jagte Castle heran und schoss zwischen dem Sperrfeuer hindurch. Es sah wirklich aus, als würde er die Stellung der Collectors angreifen, und keiner würde etwas anderes behaupten. Aus seinen Rak-Lafetten strömten die Geschosse - und fanden die Arc in ihrem Versteck.
Eine gewaltige atomare Explosion vernichtete den Frachter. Die Kraft der gleichzeitig gezündeten Atombomben riss einen Krater in den Asteroiden und löste eine Kettenreaktion aus. Das Innere des Gesteinsbrockens löste sich auf, die Dekompression sprengte weitere Stücke ab, es kam zu weiteren Detonationen. Der Asteroid zerbarst in viele Einzelstücke, die in verschiedene Richtungen auseinandertrieben.
Tannmann musste erleichtert lächeln, die Menschen um ihn herum brachen in lautes Freudengeschrei aus. Das Leben der Betas zählte nicht.
»EMP-Welle erreicht uns in vier Sekunden«, meldete ein Offizier.
Tannmann ließ die Elektronik des Kreuzers aus Sicherheitsgründen für mehrere Sekunden abschalten.
Als die Systeme alle wieder arbeiteten, rief er die Arc II, um ihr den Angriffsbefehl auf Asteroid zwei zu geben. Er erhielt keine Antwort.
»Arc II, hier spricht der Air Marshai. Ich rufe Captain Uhiba.« Tannmann sah auf den Monitor und ließ sich die letzte Position des Transporters anzeigen.
Aber an dieser Stelle war nichts als leerer Raum.
Sie sind abgeschossen worden! »Überwachungsoffizier, lokalisieren Sie Arc II und III.«
Es dauerte keine vier Sekunden. »Sir, wir haben die Ausläufer von zwei Interim-Wellen gemessen, kurz nachdem die EMP-Welle uns passierte.« Er sah Tannmann entgeistert an. »Die Frachter Arc II und Arc III sind aus dem System gesprungen!«