Zwischenspiel
25 Jahre zuvor
Eine folgenreiche Begegnung
ZEIT: 1. Januar 3017 a.D. (Erdzeit)
SYSTEM: Galloway
PLANET: Hakup (Besitz: GUSA)
STADT: Hakup-City, Westatoll
KOORDINATEN: 51°31'N, O°7'W
Zu spät! Viel zu spät! Die geben alles aus! Anatol ging quer durch das unpersönlich eingerichtete Bankgebäude, an den vielen Wartenden vorbei, direkt zur Auszahlungsstelle. Die Stiefelabsätze knallten auf den Boden. Mein Geld! »Mein Geld!« Er schob die Frau an der Spitze der Schlange zur Seite. »Aus dem Weg!«
Sie taumelte nach rechts und wurde von dem Mann hinter ihr geistesgegenwärtig aufgefangen, sonst wäre sie gestürzt. Niemand protestierte gegen seinen rüpelhaften Auftritt.
Der Angestellte musterte ihn und langte mit einer Hand unter den Tresen.
»Sie sind neu, was?« Anatol wusste, dass er in dem zerschlissenen braunen Mantel, der zerknitterten Hose und dem alten Hemd nicht den besten Eindruck machte. Er unterschied sich kaum von dem Gesocks, das gelegentlich versuchte, die Niederlassung von Hardcastle & Co zu überfallen. Gerade das heutige Datum versprach eine beträchtliche Beute. Er bleckte die von Rissen durchzogenen Zähne. »Ich nehme nur, was mir zusteht.«
Die vier Soldaten mit den langen, schweren Impact-Schnellfeuergewehren halb im Anschlag rechts und links des Schalters blieben ruhig wie Kriegerdenkmäler. Auf ihrer schwarzgrünen Vollpanzerung prangte das Sternenbanner der Greater United States of America über dem geschwungenen H des staatseigenen Unternehmens.
»Schauen Sie zu denen, Jungchen. Die kennen mich.« Er trat an das dicke Glas, beugte sich nach vorne und sprach monoton in das Mikro: »Lyssander, Anatol, persönliche Kennnummer: 05/AL/LSP/P3982. Alter: 53 Erdjahre.« Langsam richtete er sich auf und sah den jungen Angestellten ungeduldig an. »Geben Sie es schon ein!«
Plötzlich hörte Anatol die Geräusche doppelt so laut, dreifach so laut. Das Atmen der Frau hinter ihm, ihr Schlucken ... das Klicken der Tasten, auf die der Angestellte einhämmerte ... das Knirschen der Kevlar-FerroCarbon-Legierung, als einer der Gepanzerten den Kopf zu ihm wandte ...
Ich bin schon viel zu lange hier drin! Das Licht wurde greller, summte und schmerzte ihn. Jungfrau von Orleans, ich will nicht springen!
Er presste blinzelnd die Handflächen gegen die Ohren. »Wo bleiben meine Terracoins?«, schrie er panisch. »Gib mir meine Rente, du lahmer Pisser!«
Der Angestellte sah auf den seitlichen Bildschirm, auf dem Angaben erschienen. »Ich brauche Ihre IC, Sir.« Die Worte dröhnten brüllend wie Triebwerke.
Anatol musste dazu in die Tasche greifen. Aber dann würde er die Geräusche der Menschen, der Geräte, von allem um ihn herum noch länger ertragen müssen. Der Drang zu fliehen wurde übermächtig, die Aggression wuchs. »Haltet die Schnauze!«, tobte er und drehte sich zu den Wartenden um. »Hört ihr? HALTET DIE SCHNAUZE! Ich nehme jetzt meine Hände weg und muss meine Marke suchen.«
Die Leute sahen ihn teils verwundert, teils erschrocken an. Einige kannten ihn, und sie wirkten genervt.
Ihr könnt mich mal! Anatol wandte sich zum Angestellten, forschte einhändig in seinen Kleidern nach dem Ausweis, den anderen Arm reckte er hoch in die Luft. Es sollte die Mahnung an die Menschen sein, nichts zu tun und nichts zu sagen. Wo habe ich sie hingetan? Scheiße, wo ... Er hasste seine eigenen Finger dafür, dass sie so laut waren.
Endlich fand er die scheckkartengroße Marke im Stiefelschaft und schob sie über den Schaltertresen.
Der Angestellte nahm sie stumm entgegen, steckte sie stoisch wie ein Butler ins Prüfgerät.
Anatol stöhnte auf und verschloss seine Ohren erneut mit den Händen. Noch immer nahm er alles viel zu laut wahr, er hätte Amok laufen können. Atmen, Klicken, Reiben, Fiepen, Summen, sogar das Licht machte ein Geräusch! Es trieb ihn an den Rand des Wahnsinns.
Mein Mittel! Ich muss mein Mittel nehmen. Er tastete an seinem Hemd herum und förderte den Diffusor mit dem Neuroleptikum zutage. Anatol setzte ihn sich an den Hals und drückte die Taste.
Zischend jagte eine Dosis des Medikaments durch die Haut in seine Blutbahn. Ein leichter, feiner Schmerz kam aus seinem Magen. Wie immer, wenn er das Mittel nahm.
Es wirkte augenblicklich.
Die Geräusche fuhren auf ein Normalmaß zurück, er beruhigte sich und konnte wieder einigermaßen klar denken. In letzter Sekunde. Langsam senkte er die Arme.
»Es wäre besser, Sir, wenn Sie das Mittel gegen Ihr Interim-Syndrom nehmen, bevor Sie die Niederlassung betreten«, sagte der Angestellte neutral, aber in seinen Augen stand deutlich das Mitleid. Er hatte die Aufschrift auf dem Diffusor gelesen. »Sonst wird eines Tages doch der Alarm ausgelöst werden, Sir.«
Auf Anatols Seite des Tresens öffnete sich eine Klappe, und ein Stapel bunter Chips fuhr nach oben. Vierhundert Terracoins, wie jeden Ersten eines Monats, ausgegeben von Hardcastle & Co im Auftrag der GUSA für die treuen Dienste als Langstreckensprungpilot.
»Ihren Daumenabdruck zur Empfangsbestätigung bitte, Sir.«
Anatol drückte den rechten Daumen auf das Scannerfeld und strich die Plastikmünzen ein. »Ich war spät dran«, entschuldigte er sich und wurde sich seines unmöglichen Auftritts bewusst. Das Neuroleptikum machte ihn für wenige Stunden zu einem durchschnittlichen, scheinbar gesunden Menschen.
Sein Blick fiel auf die schwache Reflexion seines faltigen, grauen Gesichts: unrasiert, die blonden Haare hingen ohne erkennbare Frisur vom Kopf bis auf die Schultern. Seine Augen waren blutunterlaufen, die Pupillen pulsierten im Takt seines Herzschlags.
Scham befiel ihn, als er seine IC-Marke in Empfang nahm. Anatol schritt an der Schlange seiner schweigenden Bekannten vorbei, ohne einen von ihnen anzuschauen, und murmelte dabei unentwegt Entschuldigungen. Wie so oft.
Er verließ das Gebäude, das direkt am Raumhafen von Hakup-City lag, und setzte die Sonnenbrille auf. Das Licht, das sich auf dem hellroten See spiegelte, könnte sonst den nächsten Anfall auslösen. Trotz des Neuroleptikums. Das Interim-Syndrom war bei Anatol extrem stark ausgeprägt, so dass er die Dosis unentwegt erhöhen musste. Bald würden die Medikamente an ihre Grenzen stoßen, das befürchtete zumindest sein Arzt.
Seine Blicke schweiften umher.
Um den See herum, der seine ungewöhnliche Farbe von den winzig kleinen Kristallen im Wasser hatte, türmten sich die schwarzen Berge. Steinmassive von zehntausend Metern und mehr, auf deren Gipfeln hellblauer Schnee lag. Die Wirkung von noch mehr Wunderkristallen, die sich in den Schichten der Atmosphäre aufhielten und von den Niederschlägen nach unten gezogen wurden. Deswegen lautete der Spitzname des Planeten auch Psychedelic: Regen, Schnee, Nebel, alles, was mit Feuchtigkeit von oben zu tun hatte, konnte bunte Farben annehmen.
Heute ist es fast zu harmlos. Anatol mochte das optische Chaos, das seinem nicht minder chaotischen Verstand entgegenkam.
Er spielte mit den Chips in seinen Taschen. Vierhundert Tois Rente für seine zwei Frauen und sechs Kinder reichten ihm niemals.
Die GUSA kümmerte sich mehr schlecht als recht um ihre einst wichtigen Piloten, die sich die Gesundheit unrettbar ruiniert hatten. Deswegen hatte Anatol einen Job, der nichts mit dem Fliegen zu tun hatte. Und der durch sein Syndrom erst möglich geworden war.
In seinem oberen Nacken zog es, als gingen er und die Umgebung in den Zustand über, den manche Hyperraum oder Nebulus oder das Interim nannten. Von beschädigten Synapsen ausgelöste Schmerzen, doch sie kamen den echten, die er früher als Pilot beim Sprung verspürt hatte, recht nahe.
Die einfache, langsame und unschädliche Technologie des TransMatt hatte den Menschen nicht ausgereicht. Schneller in den Weltraum vorstoßen, schneller als die Konkurrenz, so lautete das gierige Motto. Durch die Kopie von außerirdischer Technik wurden Antriebe in die Raumschiffe gebaut, die sie gewaltige Strecken im Weltraum überbrücken ließen. Die Bezeichnung Überlichtgeschwindigkeit war lediglich ein Platzhalter. Echte und vor allem schlüssige physikalische Erklärungen für alles, was geschah, gab es noch immer nicht. Auch nicht nach neunhundert Jahren. Menschliche Physik schien in manchen Bereichen relativ. In einigen Ecken des Universums galt sie gar nicht.
Aber es hatte sich bald herausgestellt, dass sich ab einhundert solcher LSPs gesundheitliche Schäden einstellten. Physisch und psychisch. Der Mensch vertrug die fremde Technologie nicht besonders, doch in Ermangelung von Alternativen nutzte er sie noch immer.
Anatol konnte sich genau an seinen ersten LSP erinnern: zuerst ein Ziehen im Genick, gefolgt von einem unerträglichen Brennen im ganzen Leib, dann ein Kribbeln, bis der Verstand mit einer Explosion barst - um gleich darauf im Interim zu erwachen.
Das Interim war die Fahrrinne in der unbekannten Sphäre zwischen den Sternen, in der man immer eine Woche lang mit dem Raumschiff trieb, ehe es mit Schmerzen wieder hinausging. Jedes Mal hatten Anatol wie auch die Passagiere ein Stück ihrer Gesundheit als Tribut für die schnelle Reise dort zurückgelassen.
Bei ihm waren es deutlich mehr als einhundert LSP und einige Hundert Kurzstreckensprünge gewesen. KSP wurden erst ab vierhundert gefährlich, wie man vermutete. Es hing auch von der Konstitution eines Menschen ab, aber vierhundert waren ungefähr die Grenze.
400 Tois. Dafür, dass sie mich zum Krüppel gemacht haben, viel zu wenig.
Sein Kom klingelte.
Anatol riss sich von seinen Erinnerungen und dem Anblick der Berge los und fischte das Gerät aus der Manteltasche. Der Anzeige nach war es Fredinald Zumi, der Vorsitzende der Interstellaren Handelskommission von Hakup, der etwas von ihm wollte. Scheiße. Den habe ich total vergessen. Er nahm den Anruf entgegen. »Sie werden es ...«
»Immer am Ersten«, fiel ihm der Mann leicht undeutlich ins Wort, »ist es der gleiche Mist mit Ihnen, Lyssander. Sie rennen Ihrer Rente nach, und wir sitzen hier und wollen die Verhandlungen beginnen. Wer ist nicht da?«
»Ich?«
»Richtig. Prächtig analysiert, Lyssander!«, rief Zumi scheinbar gut gelaunt und klang gleich darauf ätzend. »Ich habe ein Rudel Tiranoi zu Gast. Fliegen Sie ins Handelskontor! Sonst kürze ich Ihr Übersetzerentgelt!«
Klick.
Anatol grinste. Fühl dich nur stark, Zumi. Du weißt, dass es umgekehrt ist. Er ging die Stufen des Verwaltungsgebäudes hinab auf den See zu, wo einige Meter von ihm entfernt die offenen Schwebertaxis am Ufer warteten. Am schnellsten ging es nach Hakup-City übers Wasser.
Er stieg in das erstbeste Taxi ein. Zwar stand am Raumhafen sein eigenes Schiff, aber er hatte bereits getrunken. Vier Schnäpse, mehr nicht. Einen Unfall wollte er jedoch nicht riskieren.
Die Fahrt begann.
Der Schweber ließ mit seinen vierhundert Stundenkilometern eine hohe, rote Gischtwolke hinter sich, die Anatol an Blut in Schwerelosigkeit erinnerte. Auch der Geruch war metallisch, echt ... Lichtreflexe brachen sich auf der Oberfläche, leuchteten ihm in die Augen. Er musste würgen und nahm den Diffusor heraus, um den drohenden Anfall mit knallharten Chemikalien zu ersticken - und verharrte.
Schwer atmend betrachtete er das Gerät. Nein. Ich muss es aushalten, sonst verstehe ich die Tiranoi nicht richtig. Anatol steckte es unbenutzt zurück in die Tasche, dann klammerte er sich an seinen Sitz und starrte nach vorn.
Hakup-City wuchs vor ihm in die Höhe. Eine Seite lag am See, die andere am Meer, das Anatol sehen konnte. Schwarz wie Teer breitete es sich aus und schuf einen harten Kontrast zum roten Wasser; ein schmaler Damm trennte die beiden.
Die Stadt war Lebensraum für einundzwanzig Millionen Menschen, die in gewaltigen Hochhäusern lebten. Landeplattformen für Schweber standen wie kleine Blätter aus dicken Chrom-Betonstängeln hervor. In einer Sonderzone inmitten des Zentrums lebten die Kreaturen, die ahuman waren und eine Bleibegenehmigung von der GUSA bekommen hatten.
Anatol hörte in diesem Zusammenhang immer wieder von kritischen Personen die Worte Ghetto und Abschottung. Dazu musste man nicht ahuman sein, denn das beherrschten die Menschen selbst recht gut untereinander. Hakup-City zerfiel in viele kleine Gruppierungen und bildete damit keine Ausnahme in der Unzahl von menschlichen Städten im Universum.
Unsere Ahnen haben die Probleme von der Erde einfach ins Weltall mitgenommen. Viele Utopien aus Science-Fiction-Romanen der vorangegangenen Jahrhunderte hatten sich nicht bewahrheitet. Weder die düstersten noch die schönsten.
Ins Auge stach der TechScraper, in dem das Unternehmen 20T Technology seine Basis unterhielt. Die Automaten hatten nicht nur das größte Hochhaus aus silbernem, goldenem und rubinrotem Chrom gebaut, nein, sie hatten es als eine überdimensionale Werbetafel errichtet. Auf den Fronten warben Botschaften für die Mission des Ordens, den menschlichen Verstand unabhängig vom Körper zu machen. Gnadenlos zeigten sie Videos von Umwandlungen. Auf dreißig mal dreißig Metern.
Wie kann man nur? Anatol sah, wie gesunde Arme und Beine abgetrennt und durch kybernetische Implantate ausgetauscht wurden. Und das waren noch die harmlosesten Verstümmelungen! Proteste gegen die übelkeiterregende Werbung hatten sie nie gestört. Der Zulauf sprach für 20T Technology. Wie ein Tirani wohl mit Ersatzgliedmaßen aussieht?
Der Schweber drosselte die Geschwindigkeit und legte an einem der vielen Stege an.
Anatol bezahlte und eilte in das Handelskontor, das unmittelbar an der Quai-Anlage lag. Er hetzte durch die Lobby, und die Plastiktois klimperten und klackerten dabei in seiner Tasche. Zwei davon verlor er. Unbeholfen musste er sie unter den Augen des unbeweglichen Sicherheitspersonals einsammeln. Niemand half ihm.
Tiranoi, vier Beine, humanoid und leicht reizbar, ging er durch, was er über die Rasse noch wusste. Sie kamen nicht sehr oft vorbei, aber Hakup benötigte deren Bio-Rohstoffe, um Luft- und Wasserfilter zu bauen. Die Partikel in der Planetenatmosphäre bedeuteten für empfindliche Lungen und Nieren ein Problem. Gelangten über Jahre hinweg zu viele davon in den Kreislauf, lagerten sie sich unter der Haut ab und färbten sie, was nicht immer zu schönen Ergebnissen führte. Auch wenn sich einige die Partikel spritzen ließen, um zum Kunstwerk zu mutieren, fanden es die meisten Bewohner nicht gut, bunt wie ein Hakugei zu werden. Zumi würde ihn wieder bitten, sehr behutsam zu verhandeln.
Als er im plexigläsernen Fahrstuhl nach oben fuhr, schaute er an sich hinab. Ich sehe aus wie ein Penner. Er rieb sich über die Stoppeln. Ist aber heute glücklicherweise egal. Tiranoi hatten den Vorteil, dass sie keinen Wert auf Äußerlichkeiten bei Fremdrassen legten. Außerdem waren sie so gut wie blind.
Anatol atmete tiefein und aus, machte sich locker und sammelte seine Konzentration für den Einsatz. Das Ziehen im Nacken kehrte zurück, dieses Mal war es jedoch gewollt.
Die durchsichtigen Lifttüren öffneten sich.
Er betrat das Vorzimmer des Verhandlungsraums, in dem zwei gut gekleidete Sekretärinnen hinter einer Schreibtischbarrikade aus Blaustein und Kupferelementen warteten. Die Delegationen waren hinter ihnen abgeschottet.
Die Blonde hob den Kopf und musterte ihn; ihr Name war Sally. »Da sind Sie ja, Mister Lyssander«, sagte sie tadelnd. »Mister Zumi ...«
»Jepp«, unterbrach Anatol sie und ging weiter. Bevor Sally ihn erreichen konnte, hatte er die Tür bereits aufgestoßen und betrat den Saal dahinter. Seine Strategie war es stets, sich nicht anmerken zu lassen, wann er sich unsicher fühlte.
Die Interstellare Handelskommission war mit zehn Männern und Frauen vertreten und saß mit dem Rücken zu den Fenstern. Die drei Tiranoi standen ihnen gegenüber, der zwei Meter breite Tisch trennte sie. Schweigend sahen sie sich an. Spannung und Unwohlsein waren für Anatol greifbar. Spürbar. Wie schwache elektrische Spannung.
Da komme ich rechtzeitig für eine Gehaltserhöhung. Er nahm das Kom-Gerät aus der Tasche und steckte es an die Armbandhalterung, nickte grüßend in die Runde. »Hallo, Mister Zumi. Habe ich etwas verpasst?«
Der Vorsitzende, ein langer dürrer Mann um die fünfzig in einem bauschigen, gemusterten Gewand und einem Respirator vor Mund und Nase, warf ihm einen Blick zu, in dem Wut und Erleichterung steckten. Er gehörte zu denen, die panische Angst vor den Partikeln hatten. »Mister Lyssander. Schön, Sie zu sehen«, kam es dumpf unter der Maske hervor. »Wir können dann be...«
»Ich verlange heute das Doppelte«, fiel Anatol ihm ins Wort und setzte sich. »Ich habe das Gefühl, als wären die Gäste ungehalten. Das macht es schwieriger.«
»Sie sind ungehalten, weil Sie zu spät erschienen sind!«, brauste Zumi auf, und die Kommissionsmitglieder sahen den Übersetzer verurteilend an.
»Mag sein. Aber das ändert nichts daran, dass es schwieriger für mich ist«, beharrte Anatol lächelnd und massierte die Nasenwurzel. »Das Doppelte. Sonst kann es sein, dass mein Talent mich im Stich lässt.« Er zeigte auf die Berge. »Heute wird es bestimmt blauen Nebel geben, oder, Mister Zumi? Ich mag Blau.« Anatol grinste jetzt breit, zeigte die rissigen Zähne. »Sie mögen es nicht so. Verdammte Partikel, was?«
»Wenn man Sie nicht brauchte, Lyssander«, zischte Darakinta, die für Nahrungsmittel und Saatgut zuständig war, ihn an. Sie trug ein grellrotes, knielanges Kleid, darüber einen weißen Umhang, den sie locker über die Schulter geworfen hatte. »Wenn man Sie wirklich nicht brauchte, würde ich Sie sofort von Hakup verjagen!«
»Tja, wenn man mich nicht brauchte«, gab Antol gelassen zurück. Sie war seine Lieblingsgegnerin, seit er ihr vor der versammelten Kommission beschrieben hatte, wie herrlich sie sich in der Nacht gefühlt hatte, als sie nicht mit ihrem Mann geschlafen hatte. Sondern mit einem anderen. Dummerweise hatte ihr Gatte auch im Gremium gesessen, nun war sie geschieden und verbittert. Aber sie hatte ihn damals mit einem Spruch über seine Familie herausgefordert, was bei einem Mediator keine gute Idee war. Dass er es gewesen war, der mit Darakinta geschlafen hatte, verschwieg er bis heute. »Sie brauchen mich aber. Wer sonst könnte die Tiranoi verstehen?« Anatol schaute zu Zumi und ließ die Augenbrauen zucken.
»Ja, einverstanden. Das Doppelte«, sprach er seufzend und resignierte. Er fuhr sich durch die langen grauen Haare und strich sie glatt nach hinten.
»Danke.« Anatols Aufmerksamkeit stieg, das Ziehen im Nacken wurde zu einem hellen Stechen. Gleichzeitig fühlte sich sein Schädel an, als öffnete er sich wie das Dach eines Planetariums, um für die Gedanken der Fremden empfänglich zu sein. Das Verdienst des Interim-Syndroms.
Anatol »verstand« Ahumane auf mentale Weise, wenn er längere Zeit in ihrer Nähe verbracht hatte und sich intensiv mit ihrem Denken beschäftigte. Er erlangte dadurch Aufschluss über ihre Vorstellungen und Gedanken, was ihn in die Lage versetzte, mit den Ahumanen mithilfe von Bildern und Metaphern psychisch zu kommunizieren. Die meisten von ihnen ließen sich auf ihn und seine Art des Sprechens ein, Ablehnung hatte er selten erfahren, und erst in zwei Fällen war er attackiert worden.
Ihm erging es dabei wie manchen Kapitänen der LSP-Schiffe: Er hatte keine Ahnung, wie es funktionierte. Aber es funktionierte. Je schlimmer sein Interim-Syndrom wurde, desto besser. Ironie pur.
Die sind mies drauf. Anatols erster Eindruck von den Tiranoi war nicht gut. Er benötigte eine Minute, um sich wieder an die speziellen Muster und Bilder der Rasse zu gewöhnen. Dazu ließ er deren Impressionen und Gedanken wahllos auf sich einprasseln, ehe er seine Suche auf ein bestimmtes Ziel lenkte: die Verhandlungen. »Sie sind verstimmt, weil die letzte Lieferung von Sorulit-Protoplasma verdorben ist, bevor sie vollständig aufgebraucht war. Laut Haltbarkeitsdatum ein halbes Jahr zu früh«, sondierte er aus den Gedanken. »Sie wollen Entschädigung.«
Zumi und die Kommission berieten sich kurz. »Sagen Sie unseren geschätzten Handelspartnern, dass wir für die mangelhafte Ware die volle Verantwortung übernehmen und ihnen die Menge ersetzen.«
Anatol nickte und übersetzte stattdessen: »Die Hälfte wird erstattet. Die Lagerung war mangelhaft.«
Verständlicherweise regten sich die Tiranoi lautstark darüber auf, was bei ihnen klang, als würde eine Schar Büffel durch einen Flusslauf getrieben und gleichzeitig gebrandmarkt. Keine schönen Laute.
Zumi sah sehr beunruhigt aus. »Was ist, Mister Lyssander?«
Er täuschte der Kommission vor, die Gedanken zu lesen, indem er einen der Ahumanen anstarrte. »Sie akzeptieren nicht. Sie möchten mehr haben, weil es sie sehr viel Anstrengung kostete, mit der verringerten Menge an Protoplasma über die Runden zu kommen«, log er routiniert. »Und ich kann Ihnen versichern, Mister Zumi: Die sind stinksauer! Ich spüre, dass sie die Verhandlungen gleich platzen lassen.« Er schloss theatralisch die Augen. »Moment! Einer von ihnen denkt gerade an Willheim, den Handelsminister von Eriban.« Er schaute von einem Delegierten zum nächsten.
Darakinta ließ Anatol nicht aus den Augen. Sie belauerte ihn. Ihm kam es vor, als versuche sie, seine Gedanken zu lesen. Das kann sie nicht, sagte er sich beruhigend.
»Wusste ich es doch!«, rief einer aus der Kommission. »Eriban ist in Sachen Protoplasma gleichauf, seit sie einen Spion in unsere Fabrik eingeschleust hatten. Diese europäischen Bastarde von der FEC booten uns aus!«
Anatol übersetzte den Tiranoi, dass Hakup ihr Benehmen unglaublich dreist fände und dass sie davor standen, die Verhandlungen abzubrechen, woraufhin sie noch lauter wurden. Er lächelte, lehnte sich in dem Stuhl zurück und betrachtete das Durcheinander zufrieden. Eine Hand spielte mit den Terracoins in der Tasche. Am Ende bekomme ich das Dreifache, ich regele die Sache mit der Sorulit-Entschädigung, es gibt weiterhin Wasserfiltermaterial für Hakup, und alle werden glücklich nach Hause gehen. Mensch und Tirani. Ich liebe meinen Job!
Er besah sich die Situation fünf Minuten und wollte sich eben schlichtend einmischen, als sich die Tür in seinem Rücken öffnete. Anatol blickte über die Schulter, die Augenbrauen zogen sich zusammen.
Auf der Schwelle stand Sally, hinter ihr folgten zwei Frauen und ein Mann in der betont engen, schwarzen Uniform mit dem hohen, weißen Kragen der CoS, der Church of Stars. In ihren Hüftholstern steckten unübersehbare großkalibrige Automatikpistolen, Modell Thorn. Man konnte die Mitglieder der interstellaren Kirche der christlichen Konfessionen, wenn man sie zum ersten Mal sah, gut und gern für die militärische Spezialeinheit oder für die Justifiers eines Konzerns halten: Die Haare waren kurzgeschnitten, die Kleidung saß perfekt, die schwarzen Schaftstiefel schimmerten poliert. Dennoch galt die Church als friedlich. Meistens. Außer, man mischte sich in deren Belange ein.
Was wollen die denn hier? Anatols Verwunderung wuchs, als Sally in den Raum trat. Sie ging an ihm vorbei zu Darakinta und flüsterte ihr ins Ohr. Er wusste sofort, dass es sich gegen ihn richtete, was geschehen sollte.
Anatol nutzte seine Gabe, um in die Gedankenwelt der Frauen einzutauchen. Er erfasste, dass die drei Churchler auf Bitten von Darakinta gekommen waren und dass sie anscheinend dem Verhandlungsgespräch gelauscht hatten - was immer man unter den Geräuschen der Tiranoi verstehen wollte. Sie hatten eine Auswertung vorgenommen und wollten die Ergebnisse vorstellen.
Das war eine Falle für mich! Darakinta hat das angeleiert, um mich abzuschießen. Auch wenn Anatol nicht alles durchschaute, was von ihr ausgeheckt worden war: Er wusste, dass er mit seinen ertragreichen Verhandlungsmanipulationen aufgeflogen war! Die Church schien einen Weg gefunden zu haben, die fremden Laute zu übersetzen.
Heimlich berührte er den roten Knopf an seinem Kom-Gerät und tippte eine Zahlenfolge ein. Nun musste er zehn bis fünfzehn Minuten überstehen, dann war er aus dem Gebäude. Schon wieder umziehen. Das wird meinen Mädels nicht gefallen, dachte er. Ich war zu arglos. Er drehte den Kopf erneut zur Tür, zu den Uniformierten, um zu sehen, was sie unternahmen.
Die Rangabzeichen saßen bei der Church in Form von weißen, toigroßen Symbolen auf dem Solarplexus, dem Rücken und auf den Oberarmen. Die Frau war eine Deaconess, eine Diakonin. Die anderen beiden waren gewöhnliche Preacher und Preacheress, Prediger und Predigerin.
Anatol ahnte, weshalb sie aufgetaucht waren. Sie waren in der Rangordnung ziemlich weit unten angesiedelt und vermutlich ausgesandt, sich in der Fremde ihre Sporen zu verdienen. Ein Aufstiegsritual. Die Church besaß die meisten Außenposten und missionierte gerne mit wirtschaftlichem Erfolg. Deswegen waren sie auf Hakup.
Anatol richtete seine Cedankenerfassung auf das Trio, zentrierte die Gabe auf den Kopf der Frau. Die Schweine wollen meinen Job!
»Verzeihen Sie, Mister Zumi und liebe Kolleginnen und Kollegen!« Darakinta erhob sich und deutete zur Tür. »Ich bitte Sie, mit mir Deaconess Hera und Preacher Emanuell sowie Preacheress Rodosta zu begrüßen, die auf meine Einladung gekommen sind. Ich bat sie, die Unterredung zu verfolgen. Sie haben eine erstaunliche Entdeckung zu berichten, was unseren Übersetzer angeht. Dürfen sie sprechen, Herr Vorsitzender?«
Wie ich es gesehen habe. Anatol schaute zum Fenster hinaus und tat vorerst unbeteiligt. Er erkannte in Darakintas Gedanken, dass sie ihn vernichten wollte. War da ein Hauch von Mordlust gewesen? Dass sie so nachtragend ist, hätte ich nicht geglaubt. Dabei habe ich mir beim Sex mit ihr wirklich Mühe gegeben.
Zumi war überrascht, aber er nickte. Deaconess Hera trat vor, Preacher und Preacheress blieben hinter ihr und hatten die Hände an den Griffen ihrer automatischen Pistolen. »Werte Handelskommission, der Segen des Herrn sei allezeit mit Ihnen«, eröffnete sie mit einem gewinnenden Lächeln und bekreuzigte sich. Durch die schlichte schwarze Uniform konzentrierte jeder Betrachter sich automatisch auf ihr Gesicht. »Meine Freundin Rodosta ist gesegnet und versteht die Sprache der Tiranoi. Was sie von den Ahumanen vernahm und das, was Mister Lyssander sagte, passte nicht zusammen. Ich denke, dass Mister Lyssander grobe Übersetzungsfehler beging. Absichtlich.«
»Ach ja?«, sagte Anatol scheinbar gelangweilt und sah auf das Kom-Gerät. Noch zwölf lange Minuten. »Das denke ich nicht. Wie will die Preacheress die Herrschaften verstanden haben? Sie leidet bestimmt nicht am Interim-Syndrom.«
Deaconess Hera lächelte ihn an, und in den Augen glänzte Schadenfreude. »Indem wir deren Sprache entschlüsselt haben?«, konterte sie. »Das gesprochene Wort ist besser als das gedachte, Mister Lyssander.«
Unangenehmerweise sah Anatol an ihren Gedanken, dass sie Recht hatte. Seine Nackenschmerzen wurden stärker. Er hatte seine Gabe stark beansprucht, das Wechseln zwischen den Gedankenbildern verschiedener Spezies strengte ihn mehr an. Das Syndrom meldete sich.
Zumi war nicht überzeugt. »Sie sehen mich zögern, Deaconess. Bisher hat uns Mister Lyssander gute Dienste erwiesen.«
»Ob er uns wirklich gute Dienste erwiesen hat«, schaltete sich Darakinta ein, »sollten sie herausfinden.« Sie zeigte einladend auf die Tiranoi. »Bitte sehr. Zögern Sie nicht.«
»Ich werde den Wesen nun mitteilen, was Mister Lyssander uns fälschlicherweise übersetzt hat.« Rodosta langte auf den Rücken. Eine kleine Tasche wurde hörbar geöffnet, die Anatol am Gürtel vermutete, und sie nahm ein Röhrchen mit Knöpfen daran hervor, an dessen Ende ein kleiner Lautsprecher saß. Sie blies hinein und drückte dazu verschiedenste Kombinationen.
Der Lärm aus dem Lautsprecher glich verblüffend den Geräuschen, welche die Kreaturen von sich gaben und Sprache nannten.
Die Reaktion erfolgte umgehend: Die Tiranoi starrten sie an und lauschten. Als Rodosta endete, glotzten sie auf Anatol, und einer von ihnen redete los.
Wer konnte denn mit so einer lästigen Erfindung rechnen? Anatol fokussierte sich auf den Sprecher der Quadropoden. Zu seinem wachsenden Entsetzen übersetzte die Preacheress dessen Worte richtig, als sie sagte:
»Sein Name ist Ulngbiu, und er meint, Mister Lyssander habe ganz andere Dinge behauptet.« Rodosta gab dann sehr genau wieder, was Anatol gegenüber den Tiranoi erlogen hatte.
Verdammt! Verdammt noch mal!
Ulngbiu stieß neue Töne aus.
»Er ist empört und verlangt den Tod des Mannes, dem er unterstellt, dass er dieses Spiel schon sehr lange mit den verschiedenen Rassen getrieben hat«, übersetzte sie gleichgültig. »Man könne glücklich sein, dass es wegen dieses Menschen nicht zu schlimmeren Auseinandersetzungen gekommen sei.«
Geh in den Angriff, streue Zweifel an den Sternenpfaffen. Anatol zwang sich, nicht aufzuspringen und aus dem Raum zu hetzen. Noch war er nicht überführt. »Darf ich darauf hinweisen, dass sich die Preacheress das Ganze ausdenken kann?«, warf er ein und zeigte auf Darakinta. »Wir wissen alle, dass sie nicht gut auf mich zu sprechen ist. Sie kann die drei angeheuert haben, um mich erledigen zu lassen. Aus Rache.« Gut gemacht, lobte er sich selbst. Nachsetzen und sachlich werden. Ich brauche Zeit. »Hier steht Aussage gegen Aussage. Es gibt keine sicheren Beweise für die Kommission, ob das stimmt, was die Preacheress sagt, sofern wir wirkliche Mitglieder der Church und nicht Schauspieler vor uns haben.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich!«, rief Darakinta erbost.
»Sie versuchen, Ihre Haut zu retten, Lyssander! Sie sind ein jämmerlicher Lügner, der für seine Taten nicht geradestehen will! Mich würde interessieren, wie viele Regierungen Sie noch beschissen haben.«
Die Kommission redete nun durcheinander, alle wollten etwas zu der Thematik sagen. Zumi stöhnte und hielt sich die Stirn. Er war überfordert.
Redet nur, dann unternehmt ihr nichts. Anatol schaute wieder zum Fenster hinaus. Acht Minuten. Jetzt tu beleidigt und verschwinde. Das ist nicht zu auffällig. Langsam stand er auf. »Ich werde mich nicht anklagen oder von den Tiranoi umbringen lassen, nur weil Sie Ihre Eitelkeit befriedigen wollen, Miss Darakinta.« Er zog seinen Diffusor und setzte sich eine neuerliche Dosis, bevor ihn das Interim-Syndrom kaltstellen konnte. Seine Pupillen pulsierten bereits, wie er an seiner Wahrnehmung bemerkte. Der Raum und die Menschen darin wurden heller, dunkler, heller, dunkler ... »Ich gehe! Sehen Sie zu, wie Sie und Ihre Freunde das Geschäft zum Abschluss bringen!« Anatol machte zwei, drei Schritte zum Ausgang hin.
Da stellten sich ihm der Preacher und die Deaconess in den Weg.
»Wir sind von der Church of Stars und haben recherchiert, Mister Lyssander.« Hera blickte ernst und sehr sicher drein. »Seit ungefähr zehn Jahren machen Sie diesen Übersetzungsjob. Sie haben sich nicht gescheut, Kapital aus Ihrer ungewollten Gabe zu schlagen, und sich kleinere Sternensysteme mit primitiver Raumfahrt ausgesucht, wo ahumane Rassen und Menschen leben, ohne untereinander kommunizieren zu können.«
Anatols Versuch, abgebrüht zu wirken, scheiterte. Ihm brach der Schweiß aus. Wenigstens ließen die Schmerzen des Interim-Syndroms nach, das Mittel wirkte.
Hera sah in die Runde und zeigte anklagend mit dem Finger auf ihn. »Er ist als Vermittler zwischen den Planeten aufgetaucht und hat kräftig davon profitiert. Unsere Untersuchung hat gezeigt, dass er kleinere Missverständnisse absichtlich aufrechterhielt, damit er weiterhin gebraucht wurde. Zweimal ist seine Masche in der Vergangenheit aufgeflogen, zweimal hat er mit seiner Familie sehr rasch umziehen müssen.« Sie sah ihn wieder direkt an. »Wollen Sie dazu etwas sagen, Mister Lyssander?«
Das hättest du wohl gerne! »Sie haben gar nichts zu sagen, so sieht es doch aus, Deaconess!« Anatol trat die Flucht nach vorne an. »Wenn Sie mir was anhängen wollen, klagen Sie mich an. Die GUSA wird bestimmt kein Verfahren gegen mich einleiten.« Du kannst mich mal. Er sah Preacheress und Preacher an. »Aus dem Weg, ihr...«
»Ich erstatte Anzeige. Im Namen meiner Abteilung der Interstellaren Handelskommission«, sagte Darakinta unverzüglich. »Als Würdenträgerin der Greater United States of America werde ich Sie vorläufig unter Arrest stellen lassen.«
»Ich schlage vor«, hakte Hera ein, »dass wir die Tiranoi vorab entscheiden lassen. Schließlich haben Sie die Ahumanen nicht minder betrogen als die GUSA und das Unternehmen Hardcastle & Co. Da rollen ganz schöne Schadenersatzforderungen auch von deren Seite auf Sie zu.« Sie nickte, und schon blies Rodosta in ihr Instrument.
Die Scheißgottesanbeterin will mich auch fertigmachen! Und zwar ohne jede Verhandlung.
»Halt!«, rief Zumi und bändigte seine langen Haare. »Das ist nicht korrekt! Lyssander hat Recht, wenn er sagt, dass wir es nicht überprüfen können, was Preacheress Rodosta mit diesem Gerät...«
Sein Protest ging im Grölen der Kreaturen unter. Abgang! Schallgeschwindigkeit! Anatol musste seine Gabe nicht einmal einsetzen, um zu verstehen, was sie wollten.
Er hätte es so ohne weiteres auch nicht gekonnt. Das Neuroleptikum dämpfte die Fertigkeit bereits und verwischte die Empfindungen und Gedankenbilder wie mit einem Weichzeichner. Er stieß die Deaconess nach links, die über einen Tisch stürzte, und trat Emanuell in den Schritt, der stöhnend zusammensank. »Mit wem ist dein Gott, hä?« Rasch bückte er sich und nahm die schwere Pistole an sich, dann rannte er hinaus, vorbei an den rufenden Sekretärinnen.
Dem Rumpeln nach folgten ihm entweder eine Herde Elefanten oder die drei Tiranoi. Zwei Beine gegen zwölf.
Vier Minuten.
Alles wird gut! Alles wird gut! Anatol hetzte auf den durchsichtigen Lift zu, ging dabei rückwärts und richtete die Mündung der Thorn auf die Verfolger, die langsamer wurden. Es kostete ihn immense Anstrengungen, sie immer noch ungefähr zu verstehen. Er las, dass sie ihn büßen lassen wollten. »Ihr vertraut mir nicht mehr?«, sagte er mental zu ihnen. »Ich übersetze und verhandle für euch seit zwei Hakupjahren!«
»Du riechst nach Verrat«, antwortete Ulngbiu wütend. »Wir haben dir nie richtig vertraut, Wahnsinniger, aber wir wussten keinen Weg, dich zu prüfen.« DerTirani blubberte und brüllte unentwegt. Nach wie vor verstand Anatol die eigentliche Sprache der Wesen nicht. »Heute haben wir endlich den Beweis erhalten. Die Götzenanbeter haben dich überführt.«
Mit einem Ping und leisen Zischen öffneten sich die Lifttüren hinter ihm, wie Anatol hörte. Er machte einen Schritt rückwärts. »Ich finde es schade, dass ihr unsere Freundschaft damit beendet«, sagte er zum Abschied und hielt die Pistole noch immer auf die Tiranoi gerichtet. Ulngbius Wunsch, ihn umzubringen, war übermäßig deutlich in dessen Gedanken zu lesen, trotz nachlassender Gabe. Diese Gelegenheit wollte Anatol ihm nicht geben.
Die Türen schlossen sich, und es ging abwärts. Die wütenden Gesichter verschwanden.
Das war beschissen knapp! Durch die Wände sah er die Lobby unter sich, in der Sicherheitskräfte des Gebäudes aufmarschierten. Noch mehr Ärger! Was kommt denn noch alles? Darakinta hatte ihren Coup gegen ihn extrem gut organisiert. Blitzartig dachte er nach. Wenn ich die Kabine anhalte und warte, bis ...
Es rumpelte, ein Ruck ging durch den Lift.
Anatol hob den Kopf und sah den erbosten Ulngbiu auf dem Dach sitzen. Der Tirani war in den Schacht gesprungen und drosch mit den Fäusten auf die Abdeckung ein. Zwei Gefahrenquellen, von oben und von unten, bedrohten ihn nun.
Anatol drückte fluchend den Nothalteknopf. Die Fahrt endete in elf Metern Höhe über der Lobby. »Geh weg, Ulngbiu«, sandte er dem Tirani gedanklich zu, soweit es ihm möglich war. »Ich tu dir weh, wenn du versuchst, mich umzubringen!« Die Nackenschmerzen wurden zu einem beständigen Pochen, die Eindrücke des Wesens über ihm verblassten und wurden mehrdeutiger als zuvor. »Verpiss dich, Vierbein!«, schmetterte er dem Tirani entgegen und fuchtelte mit der Thorn.
In dem Moment barst die Front der Eingangshalle und überschüttete die aufmarschierten Sicherheitskräfte mit großen und kleinen Splittern sowie Metallstreben; die Männer in den leichten Panzerungen gingen zu Boden, hoben die Arme zum Schutz über den Kopf.
Durch das Loch schwebte die Oracle, Anatols blaugrau gestrichenes Raumschiff.
Den Autopilot hatte er so programmiert, dass die Oracle ihn durch den Sender im Kom-Gerät ortete und sich zu ihm bewegte, den meisten Hindernissen zum Trotz; eine einfache Glasfront hielt das Schiff nicht auf. Mehr als einmal hatte diese umsichtige Vorgehensweise Anatol die Gesundheit bewahrt, wenn nicht sogar das Leben gerettet.
Mein Taxi ist da! Hätte nicht später sein dürfen.
Das Raumschiff, dessen Form an einen Bumerang erinnerte, schwebte mit der spitzen Seite voran in das Gebäude, drückte Alustützen zur Seite. Leitungen rissen ab, Lampen stürzten in die Tiefe und erwischten zwei der Wachleute.
Die Oracle drang tiefer ein. Die Panzerung störte sich an dem bisschen Widerstand nicht weiter.
Anatol zerschoss die Kabinenwand, trat die Splitter zur Seite, damit das Loch groß genug für einen Sprung in die Freiheit und auf die Oracle war. Das muss klappen! Er katapultierte sich aus dem Stand vorwärts und schlug hart auf der Außenhülle auf. Ächzend, aber mit einem Grinsen auf dem Gesicht rappelte er sich auf und lief zur geöffneten Pilotenkanzel in der rechten Schwinge.
Im gleichen Moment durchbrach Ulngbiu das Dach und brüllte ihm hinterher.
»Bis dann, Arschloch«, rief Anatol, glitt in den Sitz und aktivierte den Schließmechanismus.
Der wütende Tirani setzte zum Sprung an. Die vier Beine verliehen ihm Kraft genug, die Distanz spielend zu überbrücken. Die Hände ausgestreckt und den Mund weit aufgerissen, als wolle er in das Kanzeldach beißen, flog er durch die Lobby auf die Oracle zu.
Gibt es denn so etwas? Er lässt nicht locker. Anatol lenkte das Raumschiff zur Seite.
Ulngbiu verfehlte die Schwinge. Kreischend fiel er elf Meter nach unten und krachte auf den Tisch der Empfangsdame, der unter dem Einschlag zu Bruch ging.
Das hat ihm mit Sicherheit wehgetan. Ein schlechtes Gewissen hatte Anatol deswegen nicht. Ich habe ihn gewarnt.
Rasch lenkte er die Oracle aus dem Gebäude ins Freie und flog los, nach Süden, wo sein Haus lag. Das Schiff war ein Atmosphären-Kurzstreckensprung-Gleiter mit schwacher Bewaffnung, die aber allemal ausreichte, um Piraten zu erschrecken und anschließend zu flüchten. Und es war verdammt wendig und sehr schnell. Eigenschaften, auf die Anatol angewiesen war.
Er aktivierte das Kom. »Samantha, hörst du mich?«, funkte er seine Hauptfrau an.
Es dauerte, bis sie sich meldete. »Was ist denn? Du wolltest doch ...«
»Packen.« Mehr musste er nicht sagen.
»Nicht dein Ernst!?«
»Doch.«
»Nicht schon wieder«, stöhnte sie genervt. »Das ist das dritte Mal! Und Hakup war wirklich nett. Die Kinder haben so viele Freunde gefunden.«
»Beschwer dich bei der Church. Beschissene Religionsfaschisten!« Das Radar meldete ihm, dass sich ein Flugobjekt im Anflug befand, das in gerader Linie auf ihn zuhielt.
Die Kennung verriet ihm, dass es sich um einen Jäger vom Typus Cross Mark IV handelte. Die Church hatte die als Transporter gebauten Raumschiffe zum Jäger modifiziert und sie mit leistungsstarken Zusatztriebwerken ausgestattet. Mark IV besaß ein stattliches Arsenal an Automatikkanonen, das der Oracle mit den Granatengeschossen die Platten von der Hülle schälen konnte. Dass das Design kreuzähnlich war, kam nicht von ungefähr.
Mit Atombomben auf Spatzen schießen. Typisch. »Scheiße!« Anatol würde es nicht schaffen, nach Hause zu gelangen, seine Frauen und die Kinder einzuladen und zu starten, um aus dem System zu springen. Die Mark IV war ihm zu dicht am Heck und holte beständig auf.
Der Cross-Jäger setzte ihm einen Warnschuss schräg vor den Bug. Die Granaten zischten dicht vorbei und schlugen im Boden ein, wo sie detonierend Löcher ins Erdreich rissen.
Anatol aktivierte das Kom-Gerät. »Was soll das, Stehkragen? Das geht Sie gar nichts an.«
»Ich verteidige mich«, antwortete ihm die Deakoness grimmig und doch von Vorfreude aufgekratzt.
»Haben Sie zu lange Weihrauch inhaliert? Sie können mich doch nicht zu Ihrer persönlichen Tontaube machen! Es gibt auch auf Hakup Gesetze, an die Sie sich ...«
»Das interstellare Gesetz gibt meiner Kirche das Recht auf Selbstverteidigung, sollte ein Mitglied in Ausübung seiner missionarisch-aufklärerischen Pflicht angegriffen werden.«
»Wer greift denn hier wen an?!«
»Sie haben mich und Preacher Emanuell angegriffen. Nennen Sie es ... zeitversetzte Notwehr«, erklärte Hera ihm genüsslich. »Außerdem unterstütze ich liebend gern die lokalen Ordnungshüter. Und ich bin nachtragend, Lyssander. Wie Darakinta. So lasse ich nicht mit mir umspringen.«
Die Weiber halten alle zusammen. Anatol lenkte die Oracle auf das schwarze Meer hinaus, um das zerklüftete Westatoll anzusteuern. Es lag keine dreißig Kilometer entfernt; zwischen den steilen Berghängen würde er die Deaconess abschütteln können. Die Mark IV war nicht so leicht zu manövrieren. Ein Bumerang flog besser als ein Kreuz. »Das heißt, Sie wollen einen Familienvater umbringen?«
»Wir werden sehen. Ich fange damit an, Ihnen zur Strafe für den Angriff auf meine Leute das Raumschiff zu zerlegen und Sie wegen mehrfachen, vorsätzlichen Betrugs den Behörden von Hakup zu übergeben. Sollten Sie sich dabei Verletzungen zuziehen, würde es mich sehr freuen.« Die Deaconess lachte finster. »Zu schade, dass Sie Ihren Gen-Pool schon verteilt haben. Gott möge die armen Kinder davor bewahren, dass sie werden wie Sie!«
Das Westatoll erhob sich wie eine Reihe gezackter, weißer Raubfischzähne. Die versteinerten Korallen, aus denen die Gebirge bestanden, ragten Tausende Meter in die Höhe und hatten durch Witterung, Stürme und Wellen die verschiedensten Formen angenommen. Es gab sogar Durchbrüche, quer durch das Gebirge, von vielen Kilometern Länge.
»Sie werden mich nicht bekommen.« Anatol zündete den Nachbrenner.
Die Oracle beschleunigte ruckartig von vierhundert auf siebenhundert Stundenkilometer und drückte ihn in den Sitz. Ein Blick auf das Radar zeigte ihm, dass die Cross zurückfiel.
»Versuchen Sie es, Lyssander«, sagte Hera. »Aber es wird Ihnen nichts bringen.«
In dem Moment meldete ihm der Bordcomputer, dass sich drei weitere Angreifer von Osten näherten. Hakupische Sicherheitskräfte. Kleine Jägermodelle, die ihn wegen der geringen Feuerkraft nicht weiter beunruhigten. Aber zur Hätz gesellten sich just zwei weitere Mark IV aus dem Orbit, die ihn knapp vor dem Atoll abfangen würden.
Hera lachte. »Sie sagen ja gar nichts mehr?! Heute bekommen Sie den Lohn für Ihre Taten. Deus lo vult!«
Religion kann nerven. Für Anatol gab es nur einen Ausweg: Er ließ den Computer einen Not-Kurzstreckensprung berechnen, der ihn aus dem System brachte. Danach würde er sich hinter einen der Monde setzen und abwarten. Seine Frauen und Kinder mussten ausharren, ehe er sie von Hakup holen konnte.
»Sie werden mich heute nicht erwischen, Deaconess«, versprach er und starrte auf die Anzeige. Der Computer verlangte, dass er die Atmosphäre verließ, ansonsten könnte die Gravitation den Sprungvorgang negativ beeinflussen.
Das wird zu schaffen sein.
Anatol zog die Nase der Oracle nach oben und ging mit Mach eins in einen Steilflug über; seine Verfolger taten es ihm nach. Er sah Leuchtspurgranaten der Mark IV rechts und links an der Kanzel vorbeizischen.
»Ich weiß, was Sie vorhaben, und das passt zu Ihnen«, kam Heras Stimme aus den Lautsprechern. »Sie lassen Ihre Familie ...«
Predige in der Kirche, aber nicht mir. Er unterbrach die Verbindung und konnte es nicht erwarten, den Sprung einzuleiten. Es dauerte eine Minute, bis das Aggregat warm gelaufen war und genug Energie erzeugt hatte, um den Impuls abzusetzen, der Mensch und Maschine auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigte.
Jedenfalls nahm Anatol an, dass es Lichtgeschwindigkeit war. Das Modul, das am Reaktor seiner herkömmlichen Triebwerke angeschlossen war, stammte vom Volk der C'uulm, das hatten die Wissenschaftler inzwischen herausgefunden. Die C'uulm gab es seit dreihundertelf Jahren nicht mehr. Eine Seuche hatte sie ausgerottet, aber die Menschheit kopierte ihre Technik eins zu eins und bewahrte mehr oder weniger das Andenken an das ausgestorbene Volk. Kurzstreckensprungtriebwerke der C'uulm galten als die sichersten.
Lass mich nicht im Stich!
Endlich durchstieß die Oracle die obere Atmosphäre und glitt ins All. Sofort drückte Anatol den Knopf für die Initialisierung.
Dann krachte es, der Bumerangflügler geriet leicht ins Trudeln. Eine rote Warnlampe glühte auf.
»Treffer an Backbordtragfläche«, meldete der Computer mit der Stimme seines jüngsten Sohnes. »Atmosphärenflug nicht möglich, Reparatur in Orbitalwerft empfohlen. Achtung: Kühlmittelverlust. Abbruch der Sprungsequenz.«
Anatol stieß einen lauten Fluch aus. Die Stehkragen haben einen Glückstreffer gelandet! Er überbrückte die Sicherheits-Schaltung und ließ den Countdown weiterzählen, während er mit der beschädigten Oracle Zickzack-Manöver flog, um sich keine weiteren Treffer einzufangen.
Damit hatten sie seinen eigentlichen Plan zunichtegemacht: Seine Familie würde Hakup mit einem regulären Passagierschiffverlassen müssen, sobald er ihnen seinen neuen Aufenthaltsort mitgeteilt hatte. Er verdrängte seine Sorge um sie. Erst muss ich mich selbst schützen, sonst gibt es keinen mehr, der sich um sie kümmert.
Drei Mark IV hingen ihm am Heck und feuerten aus allen Rohren. Die Granaten flogen als leuchtende Punkte an seinem Schiff vorbei und verschwanden zwischen den Sternen, einige kollidierten miteinander und explodierten geräuschlos im All. Er flog durch die Feuerwölkchen, klirrend schlugen die Splitter gegen das Cockpit.
Erneut gab es einen heftigen Schlag, der die Oracle erschütterte.
Nahezu alle Warnungen, die ein Computer anzeigen konnte, leuchteten auf. Das Einzige, was fehlte, war die Empfehlung für einen Notausstieg: Eine ganze Salve Granaten hatte die Panzerung aufgebrochen und sich in die Innereien des Schiffs bis zum Maschinentrakt gefressen. Der herkömmliche Antrieb hatte sein Steuermodul eingebüßt und schaltete sich ab. Aus Sicherheitsgründen.
»Scheiß auf die Sicherheitsgründe! Die kosten mich gleich das Leben!« Anatol konnte den Schaden nicht beheben. Theoretisch musste er sich zur nächsten Orbitalwerft schleppen lassen. Es war klar, dass ihn die Deaconess nur zu gern an den Haken nehmen würde.
Zwei Mark IV schossen an ihm vorbei, wendeten und setzten sich in zweihundert Metern Abstand vor ihn. Die je acht Geschützluken unterhalb der Cockpits, in denen die Maschinenkanonen verborgen lagen, waren geöffnet. Ein Scheinwerfer blinkte hektisch, morste ihm, er solle sich nicht von der Stelle rühren, sonst würden sie ihn mit dem Sitz verschmelzen lassen.
Das Ding muss laufen! Ohne den herkömmlichen Antrieb konnte er sich nicht durch das Interim vor den Stehkragen retten.
Auch wenn er damit riskierte, dass ihm der Mittelrumpf in einem eruptiven Glühen zerschmolz, riss er die Abdeckung der Konsole ab, zog die Pistole und drückte den Lauf gegen die Platine, um die Abschaltungsautomatik zu überbrücken.
Ein Funkenregen prasselte gegen ihn. Der elektrische Schlag zuckte durch seine Finger den Arm hinauf und ließ Anatol unwillkürlich die Zähne zusammenbeißen.
Der Antrieb brüllte sofort auf und zündete unkontrolliert mit voller Kraft.
Genau in diesem Moment erreichte der Countdown für den Kurzstreckensprung die Null - und die Sterne verzerrten sich vor seinen Augen.
Es funktioniert! Das heiße Brennen auf der Haut verkündete, was mit ihm und dem Schiff geschah: Das Interim sog sie ein. Anatol hatte das Gefühl, dass sein Nacken und sein Hinterkopf explodierten, während er seine Schmerzen hinausschrie ...
Es wurde für mehrere Sekunden grau. Er schnellte durchs Interim, bis er wieder vom Grau ausgespien wurde und zurück ins All stürzte.
Danke, ihr Götter des Weltraums! Anatol beglückwünschte sich in Gedanken dafür, dass er vorher noch das Neuroleptikum genommen hatte. Es verringerte auch die Leiden nach dem Austritt, obwohl sie immer noch ausreichten, um ihn stöhnen und würgen zu lassen; früher hatte er regelmäßig gekotzt.
Status? Sein Triebwerk hatte sich endgültig abgeschaltet. Die Oracle driftete mit einer Restgeschwindigkeit von knapp zweihundert langsamen Stundenkilometern vorwärts. Besser als tot.
»Achtung: Kollisionsalarm«, meldete sein Computersohn.
Wo bin ... ich rausgekommen? Anatol blickte nach vorne, aktivierte die Scheibenreinigung. Was auch immer im Interim war, jedes Mal wurden die Schiffe mit Schleim überzogen, der Glas und Plastik gleichermaßen angriff. Das hatte in den ersten Jahren zu schweren Dekompressionsunfällen geführt, bis man der Ursache auf den Grund gekommen war.
Flüssiger Stickstoff spritzte aus Düsen und schwemmte die zähe, gräuliche Masse herunter, und die Aussicht auf das Hindernis wurde frei.
Zunächst sah er es gar nicht, bis es ihm die gesäuberte Außenkamera heranzoomte. Vier Kilometer vor ihm stand ein unbekanntes Schiff regungslos in der Schwärze des Universums.
Die Maße wurden vom Computer auf das Waffensystemdisplay gelegt: fünfzig Meter lang, nur vier Meter breit und fünf Meter hoch. Im hinteren Bereich saßen vier ovale Tragflächen, vier kleinere Triebwerke waren um ein größeres in der Mitte angeordnet. Anatol dachte an einen Dartpfeil mit Flights. Bewaffnung war keine zu erkennen. Die Datenbank fand kein auch nur annähernd ähnliches Modell.
»Das ist doch mal eine Überraschung«, murmelte er.
Der Navigationscomputer sammelte noch immer Daten aus der Umgebung, um zu errechnen, wo sich die Oracle befand. Der Notsprung mit dem unkontrollierbaren Triebwerk war nach dem Zufallsprinzip ausgefallen. Wählerisch durfte sein, wer Zeit hatte.
Anatol rieb sich den schmerzenden Nacken und drückte auf den Knöpfen für die manuelle Steuerung der Manövrierdüsen herum. Sie arbeiteten mit harmlosem Gas und kamen in der Orbitalwerft zum Einsatz, um keine Brände auszulösen. Er versuchte, die Oracle auf einen Kurs zu bringen, der sie nicht gegen das unbekannte Schiff prallen ließ.
»Kollisionsalarm«, meldete die Stimme seines Sohns unablässig.
Fuck! Er drückte auf die Kom-Taste und sendete auf allen Kanälen: »Rufe unbekanntes Schiff. Wer immer ihr seid, geht ein paar Meter auf die Seite. Mein Antrieb ist beschädigt, und wie es aussieht, kann ich nicht verhindern, dass ich gleich gegen euch pralle.« Anatol lauschte auf eine Antwort.
Sie kam in Form von bizarren Rausch- und Fiepgeräuschen, begleitet von einem modulierenden Brummen.
Anatol fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Poren drang. Er schwitzte für seinen Geschmack in den letzten Minuten viel zu oft und aus den falschen Gründen. Scheiße. Wie ...
Zwei weitere Schiffe gesellten sich zu dem ersten, die langen Schnauzen waren auf die Oracle gerichtet. Sie schienen baugleich zu sein, die Abweichungen an der äußeren Hülle waren minimal. Dann setzten die drei sich gleichzeitig in Bewegung und kamen auf ihn zu, lösten ihre Formationen und passierten ihn, ohne dass sie ihn rammten.
Halten die eine Parade für mich ab, oder was wird das? Anatol atmete auf, weil sie eine Kollision verhindert hatten. Noch immer war er sich nicht schlüssig, wen er da vor sich hatte. Eine Handvoll ahumane Lebensformen bauten ähnliche Gleiter, aber auch die FEC hatte an solchen Schiffen gearbeitet.
Keine Fenster.
Es gab einen Schlag. Abrupt hielt die Oracle, dann schob sich der dünne Rumpf eines der Schiffe über sein Cockpit.
Piraten? Anatol starrte auf die schmale Luke, die sich darin öffnete. Ein humanoides Wesen in schwarz-olivfarbenem, gepanzertem Raumanzug erschien. Möglicherweise handelte es sich um einen Null-g-Kampfanzug, wie ihn manche Spezialeinheiten besaßen, um Raumschiffe und Stationen zu infiltrieren. Boarding - entern. Dekompression.
Nein, das ist gar nicht gut!
Er hatte seinen Raumanzug nicht angelegt, also würde es ihn das Leben kosten, wenn die Kanzel geöffnet wurde. Bleib mir bloß vom Leib!
Anatol hatte keine Ahnung, was er gegen das bevorstehende Entern unternehmen konnte. Die Displays sagten ihm noch immer, dass der Antrieb defekt war, dass ein Loch in seinem Maschinenraum klaffte und dass er dringend eine Werft anfliegen sollte. Mit den starr eingebauten Bordwaffen konnte er nichts ausrichten; sie hingen unter dem Rumpf.
Also hob er wieder den Kopf und sah nach dem Unbekannten.
Der Gepanzerte schwebte aus der Öffnung. Sein Anzug machte ihn wesentlich breiter und größer als einen Menschen, aber er hatte Arme, Beine, Hände mit fünf Fingern, einen Helm mit einem geschwärzten Visier. Auf der oberen Rückenpartie saß ein eckiger Tornister, als habe man einen gewaltigen Baustein unter die Panzerung geschoben. Quadratbuckel. An seinem Gürtel hingen Schwerter, aus deren Griffen Kabel verliefen und in die Rüstung führten.
Energiewaffen, um die Panzerung und das Glas des Cockpits zu knacken?
Der Besucher schwebte heran, steuerte zielstrebig auf die Kanzel zu, landete daneben und hielt sich am Haltegriff fest, der zum Ein- und Aussteigen gedacht war. Der Handschuh pochte gegen das Fenster, das dunkle Visier starrte Anatol an. Auf dem Anzug verliefen dünne und dicke Kabel, die an Sehnen erinnerten, und manchmal blinkte es in ihnen auf, als leuchteten LEDs.
Anatol hatte jede Bewegung verfolgt und schrak trotzdem zusammen, als es klackte. Ein Abzeichen einer Rasse, eines Staates oder eines Konzerns konnte er auf der Rüstung nicht erkennen. Ist das ein First Contact?
Behutsam öffnete er seinen Verstand für die Gedanken des Fremden. Seine Gabe.
Und wunderte sich ...
Nun verfluchte er die Wirkung des Neuroleptikums. Es war ihm nicht möglich, tiefer in die Bilderwelt und Vorstellungen einzudringen. Er empfing wirklich vollkommen neue, fremde Impressionen, die er nicht einordnen konnte! First Contact!
Aber diese schemenhaften Eindrücke zogen ihn an, saugten ihn auf und lockten ihn. Er wollte mehr von ihnen haben, sie erkunden, austrinken, mehr schmecken ... und wurde gebremst. Durch eine sehr reale Wahrnehmung: Eine penetrant aufflackernde Meldung auf dem Monitor ließ ihn den Kopf drehen. Der Computer behauptete plötzlich, der Schaden am Steuerungsmodul werde in zehn Minuten behoben sein.
Muss ich das verstehen? Anatol schaltete die Kamera im Maschinenraum ein.
Zwei weitere der Wesen standen in seiner Oracle, hielten irgendwelche Apparaturen in der Hand, stocherten damit im Antrieb herum. Er zoomte heran. An einigen Stellen waren ihre Rüstungen mit mehreren Lagen Metall verstärkt, manche Teile erinnerten ihn an Schraubverschlüsse, andere an Überdruckventile. Um diese Stellen waren dunkle Flecken, als wäre eine Flüssigkeit ausgetreten und dann getrocknet. Die Apparate erzeugten blaugrelle flackernde Lichtbogen, die entstanden und verloschen, flackerten und erloschen.
Sie ... reparieren den Schaden!? Verblüfft drehte er sich wieder zur Scheibe. Ich muss mehr von ihnen erfahren. Anatol versuchte, die Barrieren, die ihm das Neuroleptikum in den Weg stellte, zu durchbrechen oder zu umgehen, um vollends einzutauchen.
Es gelang ihm nicht.
Lediglich ein paar der fremden Emotionen sowie Gedankenbilder konnte er aufschnappen, verschwommen, verwaschen: Etwas beunruhigte sie nachhaltig, ängstigte sie beinahe. Dabei hätte er sich zu gerne bei seinen unergründlichen Helfern bedankt. Auf die richtige Art und Weise, nicht auf gut Glück und in der Hoffnung, ihnen die passenden Vorstellungen zu senden. Normalerweise benötigte Anatol Tage, um sich auf einen First Contact einzulassen.
Die habe ich aber nicht. Aber er versuchte es wider besseres Wissen.
Als er mit der Übermittlung seiner bestimmt sehr primitiv wirkenden Dankesbotschaft fertig war, geschah zunächst gar nichts. Der Fremde auf der anderen Seite hing unbeweglich vor ihm und hätte ebenso gut tot im Kampfanzug stecken können.
Unterdessen meldete ihm der Computer, dass das Modul voll einsatzbereit war. Vor der errechneten Zeit.
Wie ...? Die sind echt gut! Anatol versuchte herauszufinden, wie er sich bei ihnen revanchieren konnte. Wovor fürchtet ihr euch? ich will euch dagegen helfen. Er konzentrierte sich auf das bisschen, das er bei dem humanoiden Fremden zu erkennen glaubte, versuchte, über die Ängste Fuß zu fassen - und schaffte es, Kontakt herzustellen: Er entdeckte in den Gedanken des anderen ein furchtbares, doch vertrautes Gefühl, das sich am ehesten mit Hunger umschreiben ließ. Der Unterschied zu einer herkömmlichen Kontaktaufnahme bestand darin, dass diese seltsam vage blieb, wie ein Stochern im Nebel. Ihr Proviant ist zur Neige gegangen. Na, wenn es weiter nichts ist.
Da Anatol nicht wusste, wo er sich befand und welches System oder welcher Planet ihm am nächsten war, dachte er an die Koordinaten von Hakup und an die Nahrung, die man dort besorgen konnte. Er dachte an die Sternenkonstellation, das System, in dem sich Hakup befand, an das schwarze Meer, die Stadt, die Einwohner, den Markt, an die riesige Auswahl. Und er dachte auch an Zumi, damit sie den richtigen Ansprechpartner hatten.
Ihm gefiel die Vorstellung, dass Zumi aus dem Zittern nicht mehr herauskommen würde, wenn die beeindruckenden Unbekannten erschienen, ihn mit ihrer Fiep-Quietsch-Brumm-Sprache überforderten und die Religionsfaschisten nicht mehr als Übersetzer taugten.
Ihr werdet euch wünschen, mich besser behandelt zu haben. Anatol grinste. Wie gerne würde er das sehen! Ihr werdet einen Weg zur Kommunikation finden müssen.
Seine Botschaft schien angekommen zu sein.
Das Wesen stieß sich ab und schwebte auf die Luke zu, in der es verschwand. Schnell sah Anatol auf den Monitor. Die beiden technischen Helfer zogen sich ebenfalls zurück.
Die Schiffe flogen davon, über ihn hinweg, dann aktivierten sich Lichter entlang der langen Schnauzen. Ein Leuchten schoss über die Außenhüllen und schien die Rümpfe aufzulösen; geblendet schloss er die Augen.
Als Anatol sie wieder öffnete, waren die Fremden verschwunden. Glimmende Wunderkerzenfünkchen trudelten umher, verloschen. Und mit ihnen vergingen seine Sorgen: Der Computer hatte ihm endlich mitgeteilt, wo sich die Oracle befand - es war der Arsch des Universums. Weit, weit außerhalb der Reichweite eines herkömmlichen KSP. Ein Novum, geboren aus Not und Zufall.
Where no man has gone before.
In der relativen Nähe befand sich Tanaka One, ein Kolonieplanet der EaSt, der Eastern Stars, eines politischen Bündnisses aus Indien, Pakistan, dem Vereinten Koreajapan, Taiwan und den Emiraten. Tanaka One unterstand den Japanern, und mit denen hatte er es sich noch nicht verdorben.
Dann mal los. Das könnte eine neue Heimat für meine Familie werden. Anatol gab.den neuen Kurs ein und aktivierte das Haupttriebwerk, das besser als je zuvor gehorchte.