Erste
Szene
23. März 3042 [Erdzeit]
SYSTEM: DRUSCHBA
PLANET: PUTIN (IM BESITZ DER FEC, DERZEIT UNTER OBHUT)
STADT UND DISTRIKT: PUTINGRAD
Ralda kannte die Schleichwege, die sie gehen musste, um den Patrouillen der Collectors zu entkommen.
Seit dem Tag, an dem sie allein in dem verlassenen Haus aufgewacht war, gab es nur noch einen Gedanken in ihrem Kopf: die Mission fortzuführen. Sie hatte sich sogar neue Waffen und Munition aus einem von den Collectors geschlossenen Waffenladen gestohlen, um sich halbwegs sicher zu fühlen.
Anfangs hatte sie noch nach Bishopness Theresa gesucht, aber da ihr niemand etwas sagen konnte, betete sie für deren Seele und lebte fortan unter den vor Lust Verblendeten. Sie wollte Wissen über die Ahumanen sammeln, damit sie bei ihrer Flucht genügend Beweise für die schrecklichen und menschenverachtenden Methoden vorliegen hatte. Fotos und Filmaufnahmen hatte sie inzwischen genügend. Das musste jeden umstimmen, der die Obhut freiwillig in Kauf nehmen wollte.
Eine Sache interessierte sie brennend.
Heute sollte es so weit sein, die Nachforschungen auf just diese Angelegenheit auszudehnen und sich selbst dabei in höchste Gefahr zu bringen.
Ralda überquerte die Straße und ging ins Stadtzentrum, vorbei an den balzenden Männern und promisken Frauen, die sich zwanghaft küssten.
Ich bin der einzige Mensch, der normal ist, dachte sie bei dem peinlichen Anblick. Sie war gewiss nicht prüde und lehnte natürliche Sexualität nicht ab, aber wenn es Erwachsene im Gebüsch einer Verkehrsinsel trieben, dann wollte sie nichts davon wissen. Das Wort Verkehrsinsel bekam offenbar eine neue Bedeutung. Schlimmer als Tiere. Man hat sie ihres von Gott gegebenen Verstandes beraubt. Sie bekreuzigte sich.
Aufschlussreich fand sie bei allem Abscheu über das Verhalten, dass das Alter keine Rolle spielte. Die künstliche Lust, hervorgerufen von den Injektionen, befiel alle ausnahmslos ab dem vierzehnten Lebensjahr bis ins hohe Alter hinein. Die aufgegeilten Männer vergriffen sich nicht an kleinen Mädchen. Anscheinend konnten die Collectors den Fortpflanzungstrieb exakt steuern.
Kein Tag verging, ohne dass die Bewohner Putingrads diese intensive Zweisamkeit betrieben hätten. Es musste sich um sehr starke Aphrodisiaka handeln. Ralda wollte daher einen dieser Injektoren in die Finger bekommen und die Wirkstoffe untersuchen.
Abgesehen von der Wesensveränderung der Menschen, verlief das Leben in der Stadt erstaunlich geregelt. Ohne die Sanitätscollectors, die von den Menschen akzeptiert wurden, hätte man meinen können, ganz Putingrad befände sich im Urlaub: Niemand arbeitete, alle genossen das Frühlingswetter beim Einkaufsbummel. Und dennoch gab es genügend Sachen zum Anziehen, zum Essen, zum Leben, Trinkwasser und Energie. Die Obhut sorgte für alle.
Ein falsches Paradies. Ralda blieb an einer Ecke stehen, als sie das Nahen eines Ahumanen hörte. Ihre Ohren waren inzwischen geschult, so dass sie die Nanomotoren der Rüstungen sowie das Stampfen der schweren Schritte rechtzeitig bemerkte, um ihre Route zu ändern.
Sie bog nach rechts ab und tauchte in dem Standgewirr eines Trödelmarkts unter. Während sie vortäuschte, sich für die Auslagen zu interessieren, sprach sie leise in ihr Kom-Gerät, mit dem sie ihre Beobachtungen aufzeichnete. Sie musste noch etwas nachtragen, bevor sie es vergaß.
Ralda hatte sich erinnert, dass die Collectors von »zu wenigen Menschen im Universum« gesprochen hatten. Das Zuchtprogramm lief auf Hochtouren, ohne Rücksicht auf den eigenen Willen der Menschheit.
»Das Blut der letzten Frau, das ich gestern im Krankenhaus heimlich untersucht habe, wies extrem erhöhte Hormonwerte auf«, murmelte sie leise vor sich hin und zog den zerknitterten Ausdruck aus ihrer Tasche. »Die Aktivität des Hypothalamus lag weit über normal, die Ausschüttung an Gonadotropin-Releasing-Hormon ist geradezu gigantisch. Infolgedessen wird der Körper von luteinisierendem Hormon und follikelstimulierendem Hormon geflutet. Das wiederum beschleunigt die Bildung der Geschlechtshormone im Eierstock. Östrogen und Gestagen sind im Überfluss vorhanden, die Analysewerte werde ich noch einscannen. Der Computer berechnete daraus eine dreihundertprozentige Chance auf eine Schwangerschaft mit mindestens Fünflingen. Ich...«
Ein Collector bahnte sich den Weg durch die Menge, schwenkte das Erkennungsgerät wie bei einer Einsegnung.
Ralda wechselte nach links in eine Seitenstraße. »Zusatz: Die Frau ist vierundsechzig Jahre, und ich habe keine Ahnung, wie die Fremden es schaffen, die Menopause rückgängig zu machen.« Schnell stoppte sie die Aufzeichnung, senkte das Kom-Gerät und lief in die nächste Quergasse.
Sie bog wieder ab - und stand unvermittelt vor dem breiten Rücken eines weiß getünchten Collectors mit den roten Kreuzen darauf. Schöpfer der Welten!
Er hatte sie nicht bemerkt, weil er sich gerade um ein Baby im Kinderwagen kümmerte, das schrecklich hustete. Die Stahlfinger streichelten dem Säugling sanft über den Kopf, der zweimal in die vielgliedrige Hand gepasst hätte.
Die Mutter störte sich nicht daran, sondern sah mit einem erwartungsvollen Lächeln zu. Auch als er den Multi-Injektor zückte und eine äußerst dünne Nadel durch die Haut des Neugeborenen bohrte, so dass das Kind aufschrie, lächelte sie noch.
Ralda hielt die Luft an. Was tut er dem unschuldigen Wesen an?
Das Baby hörte auf zu weinen und schloss müde die Augen, schmatzte und schlief ein. Es wirkte friedlich, das Husten legte sich.
Während die Mutter sich überschwänglich bei dem Collector bedankte, als wäre er ein Heiliger, senkte er den Arm, um den Injektor in die Tasche zu stecken.
Das war die Gelegenheit, auf die Ralda gewartet hatte.
Herr, steh mir bei! Sie wartete, bis die Hand sich der Tasche näherte und die Finger sich öffneten; unter dem Mantel umklammerte sie den Griff ihrer Pistole.
Als der Collector das Gerät losließ, schnappte sie blitzschnell zu und bekam es zu fassen, ohne dass der Fremde es bemerkte. Ein Ruck, bevor er die Tasche schloss, und sie hielt ihn in Händen. Langsam weg von hier, rief sie sich zur Ordnung.
»Diebin!« Die Mutter zeigte auf Ralda und wirkte ernsthaft erbost. »Wie kannst du nur?«
Der Collector griff blind hinter sich.
Ralda zog ihre Waffe, richtete sie gegen die nahenden Finger und drückte ab. Der Automatikmodus jagte das ganze Magazin durch den Lauf, die Geschosse sprengten die feinen Gliedmaßen des Collectors ab. Blaue Flüssigkeit spritzte gegen die Menschen, zischend fraßen sich die Tropfen durch Kleidung und Haut. Die Leute schrien auf.
Ralda rannte los, so schnell sie konnte. Amen! Gelobt sei der Herr. Sie wollte ins Krankenhaus, um die Mittel in den verschiedenen Kammern untersuchen zu können.
Auf dem Trödelmarkt hinter ihr wurde das Rufen lauter und breitete sich rasend aus, als wollte es die Deaconess einholen und zum Stehen bringen.
Ralda bog mehrmals ab, streifte den Mantel ab und nahm sich im Vorbeilaufen eine leere Obstkiste. Sie warf den Injektor hinein; eine Zeitung, die sie aus dem Ständer riss, diente als Sichtschutz. Dann ging sie ganz langsam weiter, als wäre sie eine Frau, die mit ihren Einkäufen nach Hause wollte.
Jäger der Smaller-Klasse rauschten zum Trödelmarkt, Collectors in normalen Panzerungen strömten aus verschiedenen Richtungen herbei. Die Menge machte ihnen sofort Platz.
Ralda zitterte am ganzen Körper. Sie zweifelte nicht daran, dass die Fremden sie auf der Stelle für ihre Tat in Fetzen reißen würden. Auch wenn sie unentwegt betete, war es für sie ein kleines Wunder, dass sie das Krankenhaus unbehelligt erreichte.
Als sie die Stufen zum Eingang nahm, ertönten die Sirenen.
Die Menschen verließen fluchtartig die Straßen: Sperrstunde. Niemand durfte sich mehr im Freien aufhalten.
Ralda betrat das Krankenhaus, wo ihr der Wachmann am Eingang zunickte. Seit einem Monat arbeitete sie hier als Huma Inovarowa. Die IC hatte sie in einem leeren Haus gefunden und umgearbeitet. Sie wusste durch Beobachtung und die Tätigkeit im Krankenhaus, dass die Collectors Menschen einen Chip im Nacken implantierten, was sie bislang hatte vermeiden können. Dass sie nicht gechipt war, interessierte die Menschen nicht.
»Was war denn los?«, fragte er sie neugierig.
»Keine Ahnung«, antwortete Ralda und verfluchte ihre unsicher klingende Stimme. »Ich war froh, nicht in der Nähe gewesen zu sein. Die Collectors sahen nicht gerade gut gelaunt aus.« Sie eilte weiter zum Fahrstuhl und fuhr hinauf ins Labor, wo sie von ihren Kollegen knapp gegrüßt wurde.
In den folgenden Stunden erledigte sie ihre Pflichtaufgaben, was ihr nicht schwerfiel. Bevor sie der Church beigetreten war, hatte sie ihr Geld als Krankenschwester verdient.
In einem ungestörten Moment, als alle in die Pause gegangen waren, untersuchte sie den Injektor.
Es kostete sie einige Mühe, die Ummantelung aufzubrechen, doch das Labor war gut mit chirurgischen Geräten ausgestattet. Sie bohrte die zehn verschiedenen Kammern nacheinander auf. Die enthaltenen Flüssigkeiten schüttete sie in Glasröhrchen und beschriftete sie mit Fantasienamen.
Nacheinander gab sie kleine Proben in die Analysegeräte und wartete gespannt, was der Computer ihr dazu sagen würde. Sie starrte auf die Monitore, auf denen In Arbeit stand.
Macht schon! Ralda lud ihre Waffe nach und verstaute sie. Sie betete, wieder und immer wieder. Die Technik arbeitete gegen das Unwissen an.
Weil sie nichts zu tun hatte, zerlegte sie den Injektor weiter, so gut es ging. Das Gerät mischte den Inhalt der Kammern nach Bedarf und Individuum, wie es aussah. Das erklärte, warum ein krankes Baby gegen Husten behandelt werden konnte und gleichzeitig Menschen in liebestolle Wesen verwandelt wurden. Der Chip steuert die Art der Injektionen, schätzte sie.
Nach einer Stunde kam die erste Enttäuschung.
Die Sensoren waren offensichtlich mit den Flüssigkeiten überfordert. Fünf davon konnten sie gar nicht zuordnen und nur einzelne Komponenten erkennen, wie Beruhigungsmittel oder eine Spur synthetisches Antibiotikum. Zwei weitere waren Hormonmixturen, die die hohen Werte bei allen Männern und Frauen erklärten.
Ralda schluckte, ihr Hals fühlte sich dünner als eine Spritze an, durch den sie den Speichel würgen musste. Sie war betroffen und voller neuer Verachtung für die Collectors. Das hat Gott nicht gewollt! Greisinnen sollen kein Leben schenken!
Die letzten drei Flüssigkeiten waren hyperdosierte Aufbaupräparate in Kombination mit Derivaten von extrem beruhigenden Stoffen. Nach Absetzen der Mittel wären sie, laut dem Computer, innerhalb einer Woche restlos abgebaut. Die Menschen erhielten dann ihren eigenen Willen zurück.
Ralda ließ sich die Auswertung ausdrucken, zog sich eine Kopie auf einen Speicherchip und las sich die Angaben deprimiert durch. Wie schaffe ich es, dass die Menschen von den Collectors nicht mit den Stoffen vollgepumpt werden?
Sie reinigte den Injektor mit Säure von ihrer DNA und warf ihn in den Sack mit dem anorganischen Sondermüll. Sie hoffte, dass er nicht entdeckt wurde, bevor sie das Gebäude verlassen hatte.
Dann steckte sie die Röhrchen ein und verließ das Labor.
Sie musste einen sicheren Ort für die Proben finden, wo sie leicht und jederzeit drankam, falls sich eine Gelegenheit zur Flucht ergab.
Als sie durch die Lobby ging und auf den Ausgang zu marschierte, verwehrte ihr der Wachmann das Verlassen des Gebäudes. »Wir haben immer noch Ausgangssperre, Miss Inovarowa«, machte er sie freundlich aufmerksam. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht hinausgehen.«
Ralda zögerte. »Stimmt«, sagte sie dann langsam. »Hatte ich vergessen.« Sie sah auf die Uhr. »Aber die Sirenen haben vor gut fünf Stunden geheult.«
»Sie haben die Sperre nicht aufgehoben. Keine Ahnung, was passiert ist. Im Fernsehen kommt auch nichts darüber.« Er sah durch die Glasscheiben auf die menschenleeren abendlichen Straßen, in denen Nebel aufzog. »Unheimlich.«
»Ziemlich.« Ralda bildete sich ein, dass die Röhrchen in der Tasche schwerer und schwerer wurden und sie nach unten zogen, bis sie den Stoff zerrissen und vor dem Mann auf den Boden fielen. »Wie ärgerlich. Ich erwarte Besuch.«
»Der nicht kommen wird. Ausgangssperre.« Der Wachmann grinste. »Ist halb so wild.«
»Wir wohnen im gleichen Haus. Leider beschützt mich die Sperre nicht davor, eine miese Gastgeberin zu sein.«
Er zeigte unter sich. »Versuchen Sie, ob einer der Schächte offen ist.«
»Welche Schächte denn?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wurde ihr bewusst, dass ihre Unwissenheit sie verraten könnte.
Doch der Wachmann registrierte sie nicht als Manko. »Ich vergesse, dass Sie erst seit einem Monat bei uns arbeiten«, entschuldigte er sich. »Das Krankenhaus verfügt über unterirdische Transportröhren, die sowohl zu den Minen als auch zum Gouverneurssitz führen. Für Notfälle und Grubenunglücke.« Er legte einen Finger an die Lippen. »Aber ich habe es Ihnen nicht verraten.«
»Nein, haben Sie nicht.« Ralda lachte ihm zu und machte kehrt, um in den Keller des Krankenhauses zu gehen.
Der Nebel ist ideal! Hatte sie zuerst geglaubt, dass die Ausgangssperre einen Nachteil für sie bedeutete, war sie sich jetzt sicher, dass genau das Gegenteil zutraf. Sie trug keinen Chip und konnte dadurch wohl auch nicht geortet werden, der Nebel gab ihr zusätzliche Deckung.
Natürlich hatten die Smaller-Jäger ein Ortungssystem. Die Frage war nur: Nutzten sie es auch, oder verließen sie sich auf die Chip-Signale?
Ralda war die Treppen nach unten gegangen, fand den Eingang in den breiten Schacht und machte sich auf den Weg. Bewegungssensoren schalteten das Licht vor ihr an und hinter ihr aus, was einen befremdlichen Effekt ergab. Die Röhre wurde wohl selten genutzt, eine mehlige Staubschicht hatte sich auf dem Einbahngleis gebildet, und feine Spinnweben hingen von der Decke.
Ralda gelangte an eine Kreuzung: Raumhafen, Gouverneurssitz, Minenkomplex stand auf einem Hinweisschild zu lesen.
Soll ich es versuchen? Sie setzte wie von selbst die Stiefel in den Gang, der sie zum Raumhafen führte. Schöpfer, leite mich.
Nach guten dreißig Minuten erreichte sie ein Tor, das sich vor ihr von selbst öffnete, und blickte in die verlassene Abfertigungshalle. Kein Mensch. Kein Collector.
Der graue Dunst drückte sich wallend und wirbelnd gegen die feuchten Fensterscheiben der Glasfront, als wollte er sie eindrücken und den Raum mit Nebel fluten.
Ralda wollte zuerst nach einem Schiff suchen, aber dabei nicht ihre gesammelten Erkenntnisse in Gefahr bringen, falls die Collectors sie fingen. Ich brauche ein gutes Versteck. Ihr Blick fiel auf die Schließfächer an der rechten Wand. Warum nicht? Die Röhrchen und ihr Kom-Gerät legte sie in ein Schließfach und steckte den Schlüssel in den Topf einer Kunstpalme. Hier seid ihr sicher, bis ich euch abhole.
Ralda zog ihre Pistole und verließ die Halle durch einen Seitenausgang, orientierte sich anhand der schemenhaften Hinweisschilder, die mit ihren LED-Lampen sinnigerweise die Warnung Fog blinkten.
Sie lief umher, durch die nasskalten Gespinste, lauschte auf warnende Geräusche. Sie begriff, dass es nicht einen einzigen Gleiter oder Raumer gab, den sie zur Flucht hätte nutzen können. Die Obhut erlaubte den Menschen nicht, sich aus eigenem Willen aus der Stadt zu bewegen.
Ralda näherte sich dem Flugfeld. An den Bodenmarkierungen erkannte sie, dass sie auf Rollfeld eins lief. Auch hier stieß sie nicht auf ein einziges Raumschiff.
Was tue ich? Ist es dein Wille, Herr, dass ich bei den Menschen bleibe?
Sie wollte eben den Rückweg suchen, da tauchte die klassische, entfernt galeerenhafte Silhouette eines Big-Schiffs vor ihr auf. Von seinen Ausmaßen konnte sie nur etwas erahnen, der Dunst verschluckte es zu großen Teilen. Es stand geparkt auf Rollfeld acht, seine Lampen waren erloschen.
Ralda ging mit pochendem Herzen näher und vernahm das leise Wummern von Antigrav-Pulsatoren, die das Schiff in einigen Metern Höhe in der Schwebe hielten, als wäre es so leicht wie eine Feder. Aber der Boden unter dem scharfkantig zulaufenden Kiel war tief eingedrückt, der Kunststoffbelag gerissen und gebrochen.
Wer landet, hat dazu einen Grund. Ralda schritt in einigem Abstand daran entlang und gelangte an eine offene Ladeluke, die so groß wie eine Hausfront war. Aus dem Innern drang schwachrotes Licht, sie hörte ein vielstimmiges Surren.
Herr, dein Wille geschehe. Sie huschte die Rampe hinauf, immer den Eingang im Auge behaltend, und spähte vorsichtig hinein.
Der Nebel hatte sich bis in den Laderaum vorgekämpft und belegte ihn mit einem Schleier. Durch die Schwaden hindurch erspähte Ralda eine Flotte kastenförmiger Gleiter über- und nebeneinander aufgereiht, festgemacht in Halterungen wie Patronen in einem Munitionsgurt. Die Modelle erinnerten an die Smaller-Klasse, waren jedoch keine schlanken Jäger; sie sahen eher aus wie dicke Bolzen, die einen Kasten verschluckt hatten. Es ging offenbar um mehr Ladekapazität.
Unter ihnen fuhren Roboter auf Rollen entlang, die nicht die übliche Collector-Panzerung trugen, und schienen die Schiffe zu checken; im Hintergrund huschten größere Schatten sirrend umher. Die Geräusche ließen Ralda vermuten, dass Fracht verladen wurde.
Vorbereitungen für einen neuerlichen Angriff? Auf welche Welt? Ralda musste mehr wissen. Sie wartete, bis die rollenden Bots sich weiter entfernt hatten, und ging das Wagnis ein: Sie schlich in die Halle und begab sich in den Schutz des erstbesten Gleiters.
Auch dessen Ladeluke war geöffnet.
Ralda zögerte nicht, obgleich sie sehr aufgeregt war. Angst spürte sie keine mehr. Sie war der festen Überzeugung, dass der Schöpfer der Universen sie auserkoren hatte, den Ahumanen ihre Geheimnisse zu entlocken. Hätte er ihr sonst all diese Gelegenheiten gegeben?
Im Innern des Gleiters standen mannshohe blau gestrichene Tonnen umher, deren Beschriftung sie nicht verstand. Flexible Röhren führten aus ihnen heraus und verschwanden in der Wandverkleidung.
Treibstoff wird es kaum sein. Ralda ging weiter und durchforstete das Schiff, in dem es tatsächlich nichts gab außer diesen Tonnen und einer Pilotenkanzel, in der zahlreiche Lämpchen blinkten. Nach Armaturen suchte sie vergeblich. Zwei riesige Röhren, mehr nicht. Sie vermutete, dass die gepanzerten Arme der Wesen hineingesteckt wurden.
Am Fenster huschte ein Collector vorbei, und die Anzeigen im Cockpit leuchteten auf. Ein Dröhnen erklang, der Boden vibrierte unter ihren Füßen.
Sie starten! Ralda verließ die Kanzel und sah das Wesen durch die Ladeluke stapfen, die sich schloss. Sie tauchte hinter die Fässer ab und hielt die Pistole schussbereit.
Metallisch rumpelnd schloss sich der Ausgang. Der Ahumane lief an ihrem Versteck vorbei, ohne sie zu bemerken. Kurz darauf spürte Ralda, dass das Raumschiff abhob und beschleunigte.
Solange der Pilot fliegen muss, bin ich vor ihm sicher. Sie rutschte um die Tonnen herum zur Luke und suchte den Öffnungsmechanismus. Ralda beabsichtigte, in einem günstigen Moment abzuspringen, sobald der Gleiter wieder an Höhe verlor. Sie musste zurück zu ihren Beweisen am Raumhafen und wollte keinesfalls auf eine andere Welt gebracht werden. Ihre Mission war Putin.
Wie schnell er flog, das sah sie durch die kleinen, grau getönten Bullaugen neben der Luke. Sie ließen den Bodennebel hinter sich und schwebten über dem weißen Schleier.
Putingrad fiel unter ihnen zurück. Das weiße Band der Krankenhauscontainer tauchte aus den Dunstresten auf, zu denen sich noch mehr Segmente gesellt hatten.
Sie haben aufgestockt. Ralda wunderte sich nicht. Wenn jede Frau auf Putin zwischen vierzehn und achtzig auf einen Schlag in vermutlich sechs bis sieben Monaten mindestens fünf Kinder zur Welt brachte, brauchte man viele Betten.
Der Gleiter ließ das Krankenhaus hinter sich und flog zu den Tagebaufeldern und Minen.
Raldas Augen wurden groß. Herr!
Aus den herausgefressenen, kargen Schluchten waren grünende Landschaften geworden. Gelbe, rote, grasfarbene Felder reihten sich aneinander, Gemüse und Getreide, so weit sie blicken konnte. Hunderte Obstbäume, von denen Ralda sicher wusste, dass sie bei ihrer Ankunft auf Putin nicht da gewesen waren, standen in Blüte. Sie erkannte große Maschinen, die den Boden bestellten.
Der Gleiter sackte plötzlich ab.
Es zischte hinter ihr. Sirrend lief eine Pumpe an, gluckernde Geräusche erklangen. Der Pilot fing den Flug waghalsige drei Meter über dem Boden ab und verringerte die Geschwindigkeit.
Ralda glaubte zu verstehen, was vor sich ging. Sie spritzen die Felder mit Dünger oder bringen Samen aus. Die Obhut verpflichtete die Collectors.
Jenseits des Fensters gab es nur Felder und Obstbaumplantagen. So schön hatte sie die Gegend nicht in Erinnerung. Ein künstliches Paradies. Darauf zumindest verstanden sich die Fremden, was allerdings nicht über den verwerflichen Zweck ihres Tuns hinwegtäuschen konnte.
Rechts und links von ihnen erschienen noch mehr Gleiter. Ralda hätte gern Aufnahmen gemacht und die Beweise gesichert. In einer langgezogenen Staffel flogen sie über die Felder und versprühten ihre Ladung, bis es einen schrillen Ton gab. Die Tonnen waren leer.
Das Frachtschiff gewann sofort wieder an Höhe und schwenkte Richtung Putingrad ein.
Ralda hatte keine Gelegenheit zur Flucht bekommen. In eine Wolke aus unbekannten Dünge- oder sonstigen Mitteln zu springen hätte ihren sicheren Tod bedeuten können. Außerdem wäre sie sofort entdeckt worden. Lieber kehrte sie in die Stadt zurück.
Was ist denn das? Sie sah angestrengt aus dem Bullauge nach Süden.
Eine neue Stadt war bereits zur Hälfte fertig, die eine gänzlich andere Struktur aufwies als die Bauten von Putin. Eine schneeweiße Halbkugel reihte sich an die nächste, dazwischen verliefen Eingleisbahnschienen, und an einigen Stellen erhoben sich Wolkenkratzer. Sie versuchte vergeblich, ein Muster darin zu erkennen.
Auf die Entfernung konnte Ralda die Abmessungen der Gebäude schlecht schätzen, aber sie waren immens. In einer Kugel klaffte ein großes, rußgeschwärztes Loch, als wäre etwas darin eingeschlagen und verbrannt.
Bauen sie das alles für die Menschen von Putin, oder errichten sie sich eine eigene Kolonie? Möglicherweise schufen die Collectors in den Kuppelhallen künstliche Atmosphäre, damit sie die Rüstungen ablegen konnten. Ralda fragte sich, was mit den Menschen geschehen war, die zusammen mit ihnen vor drei Monaten ausgesetzt worden waren. Deren Bleibe wird es nicht sein. Aber ich hoffe, es geht ihnen gut. Herr, verzeih mir, dass ich mich nicht um sie kümmern konnte.
Der Gleiter vollführte einen starken Rechtsschwenk.
Sie erkannte noch mehr Neubauten: flache Gebäude, die sich aneinanderreihten und zu denen mehrere Bahnschienen führten.
Fabrikhallen. Die Maschine flog in den Bodennebel zurück, die Welt wurde grau.
Ihr Ausflug hatte ihr genügend Material für Spekulationen geliefert, und nun wollte sie die Neubauten erkunden. Die Halbkugeln und die Fabriken sollten ihre Geheimnisse und ihre Zwecke offenlegen.
An der sinkenden Geschwindigkeit erkannte sie, dass der Landeanflug begonnen hatte. Kurz darauf senkte sich der Gleiter, das Pfeifen der Triebwerke erlosch, als er landete. Stille kehrte in den Laderaum zurück.
Ralda machte sich hinter ihrer Tonne ganz klein und hörte den Piloten vorbeilaufen. Knarrend und surrend fuhr die Ladeluke herunter. Es fiel ihr schwer abzuwarten, bis seine Schritte verklungen waren und sie die Flucht antreten konnte.
Ralda erhob sich und sah zum Cockpit und auf die Röhren für die Arme. Kann ich die Maschine fliegen? Der Gedanke verging wieder. Es war zu gefährlich, einen Flug damit zu wagen. Sie wusste nicht einmal, ob die Modelle einen KSP eingebaut hatten oder ob sie überhaupt vakuumtauglich waren.
Sie wandte sich dem Ausgang zu - und schaute auf einen Collector. Er hielt zwei leere Tonnen in den Händen, das Visier war auf sie gerichtet.
Beschütze meine Seele, Herr! Raldas Arm mit der Pistole ruckte in die Höhe, sie feuerte auf das Visier, von dem die Kugeln abprallten.
Der Collector machte zwei unbeholfene Schritte rückwärts, während sie einen Schuss nach dem anderen abgab.
Ein Querschläger riss ein Loch in die Tonne, ein leises Zischen erklang.
Als Ralda den stechenden Geruch bemerkte und begriffen hatte, dass Gas entwich, hatte sie den Finger bereits wieder gekrümmt. Gott, nein!
Eine Feuerblume blühte vor ihrem Lauf auf und steckte die Luft im Laderaum in Brand. Schlagartig entzündete sich der flüchtige Stoff.
Ralda duckte sich unter der heranrollenden Feuerwalze hinweg und entging ihr knapp. Der Collector verschwand bis zur Hälfte darin, ohne die Last loszulassen.
Durch die Hitze explodierten zuerst die beiden Fässer in seinen Händen und rissen ihm die gepanzerten Unterarme ab.
Ralda wurde von ätzender Flüssigkeit getroffen und hatte noch Gelegenheit, ein einziges Mal zu schreien, ehe sich ihre Lunge mit Feuer füllte und verbrannte; dann gingen die übrigen Behältnisse hoch.
Die Druckwelle fegte die Deaconess glimmend und qualmend durch den Raum bis in die Kanzel, wo sie mit dem Rücken gegen den festgeschweißten Stuhl schlug und ihr das Rückgrat gebrochen wurde.
Im tobenden, chemischen Flammenmeer verbrannte Ralda zu sauberster Asche, die das Druckluftlöschsystem hinaus in die Atmosphäre von Putin blies.