Zweite Szene
14. Mai 3042 [Erdzeit]
SYSTEM: DRUSCHBA
PLANET: PUTIN (IM BESITZ DER FEC, DERZEIT UNTER OBHUT)
Der Austritt aus dem Interim brannte auf seiner Haut, unter seiner Haut, überall in seinem Körper. Mehr als sonst.
Vermutlich, so dachte Kris, lag es daran, dass er so viele KSP innerhalb kurzer Zeit absolvierte und kaum mehr nachkam, sie alle in sein Sprungbuch einzutragen.
Zwar hatten sich laut Suedes Laboranalyse keine Veränderungen gebildet, aber er spürte, dass sich etwas in seinem Körper veränderte. An der rechten Schläfe zog es mal mehr, mal weniger. Gelegentlich fühlte es sich an, als sickerte Flüssigkeit quer durch seinen Schädel, ein Rinnsal oder dergleichen. Aber die Untersuchungen hatten nichts ergeben.
»Putin vierzigtausend Meilen vor uns«, meldete er. »Die Pimca'Shar werden bemerkt haben, wohin wir gesprungen sind.«
»Beten wir zur Heiligen Jungfrau von Orleans und zum mächtigen Loki, dass sie nicht wissen, wer Putin gerade besetzt hält«, flüsterte Faye hinter ihm.
23 hatte sich auf den Boden gesetzt und die Beine angezogen. Der Sprung war absolviert, er sah seinen Anteil soweit als beendet an. Um sich herum hatte er Süßigkeiten verteilt, die er sich in den Mund schob, ohne sie auszupacken. Die Verpackung spuckte er blitzsauber aus, nachdem er den Inhalt verschlungen hatte. Es schien ihm egal zu sein, was um ihn herum geschah.
»Es kümmert die Pimca'Shar nicht. Die wenigsten Ahumanen interessieren sich für die Menschheit«, sagte Suede. »Solange die Collectors sie in Ruhe lassen, werden sie sich nicht einmischen.« Sie sah ebenfalls auf die Karte. »Bringen Sie uns rein, SK.«
Dann hoffe ich mal, dass die Collies sie angreifen. Sonst wird es nichts. Kris beschleunigte auf höchste Geschwindigkeit, um so schnell wie möglich vorwärtszukommen.
Die Scanner meldeten ihm unverzüglich ein Bigger-Schiff, das weit vor dem Planeten schwebte. Die erste Sperre. Es nahm bereits Abfangkurs auf sie. Zwei Big-Schiffe, die auf der abgewandten Seite von Putin im Orbit hingen, bewegten sich nicht. Sie schienen die Arbeit dem großen Bruder überlassen zu wollen.
»Kontakt. Es wird uns in die Quere kommen, sollten die Pimca'Shar nicht auftauchen«, sagte er laut in den Raum, und sein Puls beschleunigte sich.
»Auf die Beine, 23«, befahl Suede nun scharf. Auch sie konnte sich der Anspannung nicht mehr entziehen. Die Zahl siebenundsiebzig schwebte unausgesprochen durch den Raum. Eine gute Wahrscheinlichkeit blieb immer noch eine Wahrscheinlichkeit mit dreiundzwanzig Prozent für ein Debakel und darauffolgende Obhut für die Menschen an Bord. »Waffensysteme in Bereitschaft, KSP-Antrieb ebenfalls. Sollten wir zu Beginn in zu starkes Feuer geraten, springen wir raus.«
Falls wir dann nicht zu dicht am Planeten sind. Kris bemerkte einen starken Masseausschlag hinter ihnen. »Die Pimca'Shar sind soeben aus dem Interim getreten!«, rief er erleichtert. »Sie folgen uns weiterhin und lassen sich durch das Bigger nicht abschrecken. Zusammentreffen in dreißig Sekunden.«
»Lassen Sie die Pimca'Shar näher rankommen, SK«, befahl Suede und sah auf den Bildschirm, auf dem die Collectors in Stellung gingen. »Sie sollen denken, dass sie uns dieses Mal einholen.« Sie blickte auf 23. »Senden Sie einen schwach verschlüsselten Funkspruch an das Bigger. Text: Wir kommen nach Hause und bringen Besuch mit.« Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah mit glänzenden Augen auf den Hauptmonitor.
»Ich bin bereit zu beten, damit die Pimca'Shar uns glauben, dass wir zu den Collies gehören. Noch sind wir bei den siebenundsiebzig«, sagte Faye von hinten und klang aufgekratzt.
Die Schiffe jagten durchs All aufeinander zu. Das Bigger öffnete mehrere Luken im unteren, schmalen Rumpfbereich.
Noch zwanzig Sekunden. »Pimca'Shar in Schussweite. Sie haben den EMP-Generator aktiviert.« Kris verglich die Geschwindigkeiten der drei Schiffe. »Sie erreichen uns knapp vor den Collectors.«
»Volle Kraft voraus! Rendezvous-Kurs mit dem Bigger.« Suede nahm die Hände nach vorn, ballte sie zu Fäusten.
»Noch zehn Sekunden.« Kris atmete laut aus, fühlte den Schweißfilm auf seiner Haut und schloss den Helm seines Anzugs. Scheiße. Einen Vorteil hatte die Lage: Das Weltall machte ihm von all den Bedrohungen rund um sie herum am wenigsten Angst, und das sollte was heißen!
»Funkspruch gesendet«, rief 23 und krümmte sich zusammen. Arme und Beine, der Rumpf standen unter Spannung und verkrampften sich unnatürlich. »KSP bereit«, wimmerte er.
Noch zeigten die Collectors keine Reaktion. Das Schiff nahm den gesamten Bildschirm ein. Aus den geöffneten Luken kam nichts, weder Raketen noch andere Geschosse.
»SK, Konturflug an deren Bug entlang«, befahl Suede. »Danach Kurs auf die Oberfläche. Wir...«
Die Zeit ist abgelaufen. Eine Warnung fiepte auf: magnetische Interferenzen. »Entladung des EMP-Generators!« Kris sah auf die Anzeigen, dann auf den Bildschirm, der ihm das Bild vom Heck zeigte.
Das fünfzackige Schiff hatte die Stahllippen geöffnet, als fletschte es die Zähne. Das grüne Flackern intensivierte sich schmerzhaft, bis sich blaue Blitze daraus lösten. Kris stellte sich erneut das ohrenbetäubende Krachen und Knistern vor, das man hören musste, wenn die zerstörerischen elektrischen Energien in einer Atmosphäre zum Einsatz kamen.
»Festhalten!«, rief er warnend. Bitte, Osiris und Wotan, siebenundsiebzig Prozent!
Die Entladungen schnellten vorwärts - an der Cortés vorbei! Kleinere Blitzausläufer leckten über die Hülle und rissen zwei Panzerplatten funkensprühend aus der Verankerung, die volle Entladung krachte allerdings in den Bug des Bigger.
Schlagartig erloschen sämtliche Lichter auf dem Collector-Schiff, die Steuerdüsen schalteten sich ab. Der Flug des Bigger ging in eine spiralförmige Bewegung über, die unkontrolliert aussah.
Danke, ihr Götter! Kris wich erleichtert dem trudelnden Koloss aus. Ein harmloses Streifen der Wände würde die Cortés sonst zerschellen lassen. Dieser Teil des Plans hatte funktioniert.
Neue Meldungen leuchteten auf dem Monitor der Bodenüberwachung. »Zwei Big-Schiffe schwenken aus dem Orbit auf Abfangkurs zu den Pimca'Shar«, rief er. »Eintreffen in zwei Minuten. Vierzig Jäger der Small-Klasse nähern sich von der Oberfläche.«
»Abstand zu Pimca'Shar vergrößern, SK«, befahl Suede mit einem triumphierenden Unterton in der Stimme. »Halten Sie auf das nächste Collector-Schiff zu, und aktivieren Sie die Ortungssysteme. Wir sollten dicht genug dran sein, um den Sender von Mister Lyssander senior zu orten.« Sie wandte sich 23 zu. »Senden Sie erneut einen schwach verschlüsselten Spruch, in dem wir um Beistand gegen die Pimca'Shar bitten.«
Angespanntes Schweigen kehrte auf der Brücke ein. Kris verfolgte die Bilder auf den Monitoren. Von allen Seiten rückten die Bedrohungen auf die Cortés zu, die sich Putin entgegenwarf.
Die Jäger waren schnell heran und erreichten sie zuerst.
Auf Befehl von Suede deckte Kris sie mit Salven aus dem Impulslaser ein. Die Spiegel bildeten ein aufzuckendes Maschennetz aus rubinrotem Licht, in dem zehn Jäger zerschnitten wurden.
Die Cortés erhielt einige kleine Treffer. Explosivgranaten detonierten auf der Oberseite in der Nähe der Brücke und trommelten Löcher in die Panzerung, ohne Schaden in der internen Struktur anzurichten. Schürfwunden, mehr nicht, aber das Ruckeln spürten sie dennoch. 23 stöhnte auf, litt mit dem Schiff und rieb sich das Bein oder den Arm.
Sie sind schneller als errechnet. »Das erste Big-Schiff hat aufgeschlossen«, sagte Kris. »In Schussweite.«
Kaum sprach er es aus jagten die Collectors ihre Raketenschwärme aus den Bugschächten gegen die Cortés.
»Magnetschild hoch, Automatikkanonen zur Abwehr bereithalten. Synchronisierung aktivieren.« Suede schob sich einen Kaugummi in den Mund. Ihr Unterkiefer bewegte sich schnell und hektisch, vermutlich stellte sie gerade neue Wahrscheinlichkeitsrechnungen an.
Bevor die Raketen einschlugen, zuckten erneut EMP-Blitze und hüllten die Geschosse ein, deren Flug daraufhin chaotisch wurde. Die Zielelektronik war ausgeschaltet worden. Die Raketen brachen aus, stießen zusammen und vergingen in spektakulären Feuerbällen, andere flogen in Richtung des Planeten und verglühten. Kunstkometen.
Die Pimca'Shar haben Angst um ihren Ahnen-Antrieb. Kris hatte das zweite Big groß auf dem Schirm.
Es eröffnete das Feuer aus allen Waffensystemen und konzentrierte sich dabei ausschließlich auf das fünfzackige Schiff. Das andere Big der Collectors stieg in den Angriff mit ein, gemeinsam spien sie Raketenstrahlen gegen den Feind.
Die Pimca'Shar ignorierten die heranzischende Bedrohung. Blaue Laser stießen aus den Seitenarmen der Sternflügel und brannten sich durch die Panzerung beider Feinde, als bestünde sie aus dünnem Holz. Die kleineren Collector-Schiffe verloren ganze Segmente, aus denen das Vakuum den Sauerstoff drückte. Gegenstände wurden in den Weltraum geblasen, kleinere Explosionen erhellten die Wrackfetzen. Bevor die Raketen einschlugen, zuckten Mündungsfeuer an der Oberseite des Fünfzacks auf. Geschütze vernichteten die Geschosse, kaum eine Rakete schlug ein. Schaden richteten sie keinen an.
»Die Angriffsstärke der Pimca'Shar ist ziemlich hoch«, sagte Faye hinter Kris beeindruckt. »Sie haben ein paar kleine Kratzer einstecken müssen und sind gerade dabei, die nächsten Collectors auseinanderzunehmen!«
»Noch ist das kein Problem für uns«, gab er schnell zurück, um die Aufmerksamkeit nicht sinken zu lassen. »Aber sobald den Collectors die Feinde ausgehen, sind wir an der Reihe.« Nur durch einen weiteren Sprung würde sich die Cortés vor den ehemaligen Besitzern des Antriebs retten können. Im Kampf hätten sie keinerlei Aussicht auf Erfolg, trotz der guten Bewaffnung. Noch keine Ortung von Anatol Lyssander.
»Gut, sie sind aufgehalten!« Suede gab einen neuen Kurs vor, der das Schiff vom Gefecht wegbrachte. Die Big-Schiffe schossen noch immer, trotz der Schäden. Nach und nach erwachten die Lichter auf dem Bigger zum Leben.
Kris flog auf Putin zu und schwenkte bei achthundert Kilometern in eine Umlaufbahn. Unter ihnen lag die grüne und blaue Oberfläche.
»Ich dachte, Putin sei ein Bergbauplanet? Mit Tagbergbau«, wunderte sich Faye laut. »Dafür macht es aber einen sehr idyllischen Eindruck. Oder sehe ich das falsch?«
»Nein, siehst du nicht«, antwortete ihre Schwester, die auf eine Tastatur einhackte, und kryptische Nummern scrollten über ihren Schirm. »WIR haben die gespeicherten Daten mit den neuesten verglichen, die WIR von einem Wettersatelliten gezogen haben. Keinerlei Montanindustrie mehr. Seit der Landung der Collectors hat eine aktive Begrünung des Planeten begonnen. Anscheinend haben sie den Bewohnern ein kleines Paradies errichtet.« Zum Beweis legte sie aktuelle Aufnahmen auf den linken Monitor: riesige Felder, die sich in einem leichten Wind wiegten, Bäume in voller Blütenpracht, idyllische Seen mit glitzernden Wellen.
»Der perfekte Planet«, entfuhr es Faye mit einem Seufzen. »Da würde ich direkt Urlaub machen.«
»Nur kämst du niemals mehr von da weg«, kommentierte Suede.
Minuten verstrichen, während sie im Anflug auf Putin dahinrasten. Die Spannung auf der Brücke stieg.
Kris schaute immer wieder nach dem Radar und nach dem, was die Pimca'Shar und die Collectors machten. Beide lieferten sich einen erbitterten Kampf. Die Collectors hatten etliche kleinere Schiffe von der Oberfläche hinzugezogen und blieben anscheinend auf Abstand zum Feind. Und damit außerhalb der Reichweite des EMP-Generators. Haltet durch, dachte er. Wir brauchen jede Minute, die wir kriegen können! Es piepte hell.
»Wir haben ihn!«, rief Kris aufgeregt. Auf dem Bildschirm mit Putins Landkarte erschien ein grünes Signal. »Koordinaten: 46°28'N, 13°21'0. Es steht und bewegt sich nicht. Die nächstgrößere Stadt nach den alten Plänen ist... Putingrad.«
»23, bringen Sie uns tief genug runter«, orderte Suede. »SK, in den Hangar und ab in den Transporter. Sie fliegen McFaiden, die Justifiers und die 20Ts. Bringen Sie alle gesund zurück. Inklusive Ihren Vater.«
Kris räumte den Pilotensitz und eilte hinaus, nicht ohne sich vorher von Faye mit einer Handbewegung zu verabschieden.
Sie erwiderte seinen Gruß und schenkte ihm ein Lächeln, das ihn aufmunterte und ihm ein warmes Gefühl im Innern gab.
Ihm war eingefallen, dass Suede ihm keine Wahrscheinlichkeit für das Gelingen seiner Mission mitgeteilt hatte. Somit konnte er wirklich jede Aufmunterung gebrauchen.