Dritte Szene

Kris hatte das Bier mit Faye verschoben.

Er stand in der Krankenstation am Bett seines Vaters, der mit geschlossenen Augen dalag und schwach atmete. Schläuche führten zu seinen Armen, durch dicke Nadeln versorgte man ihn mit Nährflüssigkeit. Notfalls würde man ihm auf diesem Wege weitere Sediermittel verabreichen.

Ich habe ihn beinahe umgebracht. Die Überdosierung des Neuroleptikums konnte von Suede und ihren kleinen Helferrobotern nicht rückgängig gemacht werden. Lyssander hatte schwer mit den Auswirkungen zu kämpfen. Ich lasse mir kein schlechtes Gewissen einreden. Er steckte die Hände in die Taschen. Hätte ich es nicht getan, wären wir alle tot.

Leise öffnete sich die Tür.

Faye kam ins Krankenzimmer. Sie stellte sich neben ihn und drückte seinen Unterarm. »Na?« Sie war noch verschwitzt vom Jogging und trug ihre Sportklamotten.

Er roch ihren natürlichen Duft und fand ihn wesentlich angenehmer als das, was Suede an künstlichem Zeug auflegte. Er freute sich, dass sie gekommen war. Er freute sich immer, wenn er sie sah. »Er ist noch immer nicht zu Bewusstsein gekommen.«

»Und was willst du ihm sagen, wenn er es tut?«

Kris zuckte mit den Achseln. »Eigentlich habe ich ihm nichts zu sagen«, gab er nach einer Pause zurück. »Doch, schon ... Aber mir fallen nur Vorwürfe ein. Die kommen jedoch fünfundzwanzig Jahre zu spät.«

Leise surrte einer der fünf Roboterarme, die an Halterungen an der Decke angebracht waren, nach unten. Die Computersteuerung ließ ihn exakt manövrieren, Minikameras und Lasermessgeräte erfassten die Abstände und lieferten die Daten an den Rechner. Er entfaltete sich, legte ein Messgerät an Lyssanders Hals, ein zweiter Arm folgte und versetzte dem Patienten gleich danach eine Injektion mit einer angesetzten Spritze, die er nach dem Gebrauch in einen Abfallschacht ausklinkte.

Der Herzschlag stieg an.

»Ob er aufwacht?« Faye sah auf die Monitore und dann auf die flatternden Lider.

Ein dritter Roboterarm setzte sich in Bewegung und richtete einen medizinischen Laser auf den Kopf des Gefangenen. Die Absicherung. Die Stärke konnte individuell eingestellt werden, bis hin zu tödlicher Kraft. Das war mit Suede so vereinbart worden, zum Schutz vor einer neuerlichen Attacke. Dieses Mal würde die Professorin keine Gnade walten lassen.

Kris' Anspannung wuchs. Was tue ich hier? Was erwarte ich denn überhaupt? Er drehte sich um und wollte gehen, bevor sein Vater die Augen öffnen konnte.

Aber es war zu spät: Der Mann hatte den Blick aus den weiten, starren Pupillen auf ihn gerichtet. Als Kris Fayes Hand neben seiner spürte, griff er zu. Er brauchte Halt.

»Verzeihung«, krächzte Lyssander, und eine Träne rann klar und hell aus seinem rechten Auge. »Verzeihung, Junge.«

Seine Stimme klang brüchig, menschlich und ohne diesen Unterton von Überlegenheit und Hybris. »Der Nebel um meinen Verstand ist gewichen.«

Faye und Kris schauten sich verblüfft an.

»Ihr müsst schnell handeln. Die Samariter erschaffen ein Schwarzes Loch. Ich war dort und habe es gesehen! Sie werden ihre gesamte Flotte hindurchschicken, auch die gigantischen Schiffe, die aus eigener Kraft nicht sprungfähig sind.«

Normalerweise hätte Kris die Erschaffung eines Schwarzen Lochs als Gewäsch abgetan, aber er entsann sich der Bilder, die sie alle gesehen hatten. Er spürte, dass Faye eine Gänsehaut bekam wie er.

»Ihr Ziel ist das Core-System. Sechzig Milliarden Menschen sind in Gefahr.« Lyssander schloss die Augen wieder, räusperte sich und schluckte. »Wenn ich damals geahnt hätte, was ich tue...«

»Du wusstest genau, was du getan hast, als du uns auf Hakup gelassen hast!«, rief Kris, der seine Starre abschütteln konnte.

»Ich meinte die Samariter«, entgegnete er leise. »Ich habe sie nach Hakup geschickt, weil ich dachte, sie brauchen etwas zu essen. Ich konnte nicht ahnen, was daraus werden würde. Dass sie das tun.«

Kris versagte die Stimme. Dann war er es doch, der sie zu uns gebracht hat!

»Ich wollte nach einer Heimat suchen für dich und deine Geschwister. Aber kurz vor meiner Rückkehr erfuhr ich, dass sie den Planeten unter ihre Obhut gestellt hatten.« Lyssander öffnete die Augen erneut, es kostete ihn viel Kraft. »Keine Möglichkeit, zu euch zu kommen, mein Junge«, flüsterte er. »Ich bin herumgereist, habe die Planeten abgesucht, wo ihr stecken könntet, aber ich fand keinen von euch.« Er griff sich mit der Rechten an die Stirn. »Dann erwischten mich die Samariter... und... sie...« Er seufzte schwer. »Danach besteht mein Leben aus vielen Lücken. Die Erinnerung ist so gut wie nicht vorhanden.« Sein Kinn bebte, die Tränen rannen stärker. »Sollte ich jemandem Schaden zugefügt haben, weiß ich es nicht mehr.« Er stöhnte auf und drückte mit dem Handballen gegen das linke Auge. »Es fällt raus! Es fällt raus! Gleich platzt es ...« Seine Beine zuckten, der Unterleib hüpfte auf und nieder. »Wir springen! Oh, ihr Götter des Olymp, wir springen! In die Sonne ... in das Schwarze Loch, das die Samariter ...!«

Sein Puls stieg an. Es piepste mehrmals, der Diagnosecomputer berechnete die Reaktion. Grünliche Flüssigkeit rann durch die Schläuche. Das Sedativum. Nach zehn Sekunden beruhigte sich Lyssander, lallte undeutlich und verfiel in Schlaf; das Herz schlug ruhig und langsam.

Kris versuchte noch immer zu begreifen, was er gehört hatte. Ist er nun unschuldig oder nicht? War es gelogen? Versucht er, sich herauszureden und die Schuld abzuwälzen? Fantasierte er? Er sah Faye an und ließ ihre Hand los. »Ich ...«

Völlig überfordert verließ er den Raum und ging ein paar Meter. Die Arme hatte er erhoben, die Hände an den Hinterkopf gelegt; so atmete er tief ein und aus, als sei er kilometerweit gerannt, Tränen liefen seine Wangen hinab, doch er wehrte sich nicht länger dagegen.

Faye folgte ihm. Sie lief neben ihm her, ohne etwas zu sagen.

Er wischte sich die Tropfen weg. »Es war einfacher, ihn zu hassen, anstatt ihn zu bemitleiden«, sagte er dumpf. »Was, wenn es stimmt, was er eben gesagt hat?«

»Die Wahrheit finden wir nur über einen Detektortest heraus.« Sie überlegte. »Natürlich kann es Taktik gewesen sein, um dich weichzumachen und an dein Mitgefühl zu appellieren. Aber ... ich habe es fast schon für ehrlich gehalten.« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nur so ein Gefühl. Hör nicht auf mich. Die Sache mit dem Schwarzen Loch musst du unbedingt meiner Schwester sagen. Sie sitzt gerade in der Konferenz mit der VHR. Die Physiker sollen sich die Köpfe zerbrechen, ob es möglich ist.«

»Wir haben diesen Ort gesehen, den sie zur Geburt eines Schwarzen Lochs vorbereiten. Diese silberne Boje und all das«, sagte er leise. Wer konnte ahnen, dass die Collectors eine solche Technologie beherrschen?

Faye blickte an sich herab. »Ich muss dringend duschen. Du kommst zurecht?« Als sie ihn nicken sah, wandte sie sich um und wollte loslaufen.

Er hielt sie an der Schulter fest. »Danke, Faye.«

»Wofür denn?«

»Für deinen Beistand.«

»Sehr gern.« Sie lächelte beinahe verschämt und ging davon.

Kris lehnte sich gegen die Korridorwand. So einfach mache ich es ihm nicht, beschloss er. Er kann nicht wach werden und alles auf die Collectors schieben. Hätte er sich damals besser verhalten, hätte er nicht von Hakup flüchten müssen. In sich lauschend, stellte er sich die Frage: Will ich ihm überhaupt verzeihen? Wäre ich dazu bereit? Oder hatte er sich in den Jahren so sehr auf den Hass und die Wut festgelegt, dass er nicht mehr davon loskam?

»SK, bitte sofort zu UNS in UNSEREN Raum«, tönte Suedes Stimme über den Lautsprecher.

Das passt. Ich muss ihr von dem Core-System berichten. Kris machte sich auf den Weg zum Lift.

Sex konnte sie vergessen, darauf hatte er gar keine Lust. Außerdem versuchte er, seine Gedanken auf die Person zu lenken, die seine Hilfe viel dringender benötigte als ein ausgebrannter Sprungpilot, der dem Feind geholfen hatte.

Ich brauche endlich etwas, um Soraya aus BaIns Fängen zu reißen.

Jetzt rächte es sich, dass er mit Faye nicht das Bier getrunken und über Lopez' Bemerkung zu den Chims gesprochen hatte.

Er sah auf die Uhr. Später. Dann habe ich es mir vermutlich hart verdient.

Plötzlich wurde Kris eiskalt: Soraya befand sich auf Rubicon.

Im Core-System.

 

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