Dritte Szene

Kris wurde von zwei Soldaten durch eine brüllend heiße Dreckwolke in den Gleiter gezerrt. Er musste die Luft anhalten, die Augen brannten und schienen in Sekunden auszutrocknen. Jemand drückte ihm einen Respirator ins Gesicht, was es erträglicher machte, bis sie in der Schleuse waren.

Sie setzten ihn auf einen freien Platz und schnallten ihn an.

Genau gegenüber von Joule.

Sie ist es! Er starrte sie an. Sie haben sie mitgenommen! »Sie müssen das Ding loswerden!«, rief er und zeigte auf die 20T. Als sich niemand anschickte, seinen Aufforderungen Folge zu leisten, versuchte Kris, sich von seinen Gurten zu befreien. »Geben Sie mir ein Gewehr, eine Pistole! Ich mache es selbst. Sie haben keine Ahnung, was für ein Monstrum das ist!«

»Setzen Sie sich, Zivilist«, wurde er angewiesen. Als er nicht sofort reagierte, zwang ihn ein Gepanzerter in den Sitz. Der Mann blieb sogar vor ihm stehen, um ihn daran zu hindern, wieder aufzustehen. In der Aries One war ihm das ein Leichtes. »Keine Diskussion im Einsatz. Gurte nicht anfassen.«

Kris beugte sich zur Seite, um an ihm vorbei zu schauen.

Joule lächelte ihn an. Kalt, satanisch und ohne jegliches Gefühl in ihren entseelten Kamera-Augen. So hatte sie auch geschaut, als sie in seinem Beisein die Behältnisse mit Suedes Überresten einen nach dem anderen sabotiert hatte. Eine Killerin für den Tech-Orden. Sie formte mit den Lippen: Nicht mit mir.

»Wen haben Sie alles gerettet?«, fragte er den Soldaten. »Keine Auskünfte«, schmetterte er ihn ab. Kris fluchte.

»Wir haben den Chemical«, sagte der Mann neben ihm schwach, trotz der verstärkenden Helmlautsprecher, und zog den Kopfschutz ab. Auf die Proteste des Soldaten achtete er nicht. »Und den Kopf von Suede.« Er seufzte schwer. Die Augen standen voller Blut, es rann sogar über die Lippen und aus den Ohren. Unter der Nase trug er eine feucht glitzernde, rote Tamponade. »Theresa ist tot. Faye kam zu spät.«

Kris starrte in das ledrige alte Gesicht seines Vaters. »Du hast mich gefunden! Du warst es! Mit deiner Gabe!«

»Ja«, antwortete Lyssander schleppend und sehr müde. »Aber ich kann ... nicht mehr. Sie haben mir das Neuroleptikum gegeben. Meine Gabe ... schläft. Ruht sich aus ... zerläuft.« Er fuhr sich mit den Fingern über die Augen und verschmierte das Blut wie eine Schicht zu dicken Kajals. »Sie ist tot. Und das Kind. Mein Kind ...«

Er redet von der Bishopness. Kris musste einmal tief durchatmen, um den Schock zu verdauen. Doch eine Tote besaß weniger Vorrang als die Lebenden. »Was ist mit Suede?« Er rüttelte an seiner Schulter. »Vater...« Er stockte, weil er ihn zum ersten Mal so genannt hatte. Nach fünfundzwanzig Jahren, was Anatol zum Lächeln brachte. »Vater, habt ihr das Gefäß überprüft, in dem sie Suedes Kopf konserviert haben?« Sie darf nicht sterben. Mit herzzerdrückender Angst dachte er an den intakten Driver in ihrem Kopf, der sofort in Faye übergehen würde, wenn die Schwester ihr Leben verlor. Und das Geistwesen würde Faye auf diese fürchterliche Art verändern, wie es das bei ihrer Schwester getan hatte. Das darf nicht geschehen!

»Es ist auf der Krankenstation. Funktionstüchtig.« Anatol sah seine Sorge. »Haben wir etwas übersehen? Müssen wir mehr Energie...«

»Sie«, unterbrach Kris ihn und deutete auf Joule. »Ich habe gesehen, wie sie die Behälter sabotierte. Sie ist von Kothar Gamma als Körper für Suede vorgesehen gewesen. Sie sagte mir, dass sie nicht will, dass ihr Kopf...«

»Das hätte er gern gehabt! Aber ich lasse mich doch nicht wegen eines CoDrivers ersetzen«, giftete Joule. Ihre Stimme klang plötzlich hasserfüllt, trotz der gewollten elektronischen Verzerrung. »Dieser Körper ist mir heilig. Ich habe meine Weihen nicht unter großen Schmerzen erhalten, um einem unwürdigen ... Ding als Wirt zu dienen. Kothar hätte mich kalt lächelnd über die Klinge springen lassen und meinen Kopf entfernt. Für... das da! Die Parasiten müssen ausgemerzt werden! Sie sind keine Vorteile für uns! Automaton Prime irrt! Es irrt sich!« Sie lachte dunkel. »Der Driver wird verrecken! Dafür habe ich gesorgt!«

Kris' bekam eine Gänsehaut.

»Schnauze, Automat!« Der Gepanzerte versetzte der 20T einen Tritt ins Gesicht. Der Einschlag des Stiefels hätte einem Menschen den Schädel zertrümmert, die Kraft der Rüstung war tödlich.

Joules Kopf schnappte nach hinten, prallte mit einem vernehmbaren klang gegen die Stahlwand. Ein Stück Haut hatte sich von der Stirn bis zum Kinn gelöst, blaue Flüssigkeit rann aus dem falschen Gewebe, unter dem es schwarz schimmerte. Karbon. Die entstellende Verletzung machte ihr Grinsen noch schrecklicher.

Anatol betätigte sein Kom-Gerät und rief die kleine Krankenstation des Gleiters. »Checken Sie das Behältnis, in dem sich Nuria Suedes Kopf befindet, auf Unregelmäßigkeiten und den Zustand des Schädels«, wies er die Medics an. »Es ist wichtig.«

Joule muss vernichtet werden. Kris sah die drei letzten Soldaten zurückkehren. In der Mitte, das muss Faye sein. Die Einzige mit einem Justifiers-Abzeichen auf der Rüstung. Er fühlte sich glücklich und schuldig zugleich. Sie hatten viele Menschen in der Obhut zurücklassen müssen, weil es nicht anders ging. Wir kommen bald wieder und befreien sie. Sie alle!, sagte er sich. Aber es wurde nicht besser.

Unmittelbar auf der Hyperiona krachte es, das blaue Licht erlosch. Gleichzeitig spritzte Dreck neben dem Schiff in die Höhe, und die drei Gepanzerten verschwanden in einer Staubwolke. Pfeifend flogen Schrapnelle in das Innere.

Kris fühlte, dass ihn etwas am Arm traf, doch der Schmerz war erträglich. »Nein!«, schrie er entsetzt und sprang von seinem Sitz auf. Er öffnete die Gurte. »Wir müssen noch die ...« Keiner kümmerte sich um seine Einwände.

»Hoch«, befahl irgendeiner mit einem besonderen Abzeichen und dem Kürzel GC auf der schwarzen Rüstung. Kris spürte, dass sie Abstand zur Oberfläche gewannen. »Schleuse zu.«

Ein Gepanzerter krachte von oben auf die sich schließende Luke und drohte, über die Kante nach unten abzurutschen, während die Halle unter ihnen zurückfiel. Er sah das Justifiers-Abzeichen auf der Rüstung.

Faye! Kris sprang, ohne zu zögern, und streckte die Hand aus. Er bekam ein gepanzertes Bein zu fassen. Das Gewicht riss ihn nach vorne, er musste kämpfen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Du wirst nicht auf Ra zurückbleiben. Einen gewaltigen Schrei ausstoßend, zog er sie Zentimeter für Zentimeter über den Rand. Seine rechte Hand schmerzte unglaublich, die Muskeln schienen reißen zu wollen. Dann rutschte sie endlich in die Schleuse und warf ihn um.

»Danke, ihr Götter!« Er nahm ihren Helm ab, um nach ihr zu schauen. Die ruckartige Beschleunigung der Hyperiona warf ihn nach hinten.

»Zurück auf den Platz«, schrie der Mann mit dem GC auf der Panzerung ihn an. Zwei Gerüstete drückten ihn erneut in den Sessel, zwei andere kümmerten sich um die bewusstlose Faye und schnallten sie hastig fest.

Kris sah ihr Gesicht und freute sich. Es war mehr als Freude, wie er sich eingestehen musste. Nein, er durfte es sich eingestehen.

»Willkommen in der Freiheit«, sagte der Mann mit dem Abzeichen. »Ich bin der Ground Commander des Einsatzteams, mein Name ist Uschtrow. Die VHR schickt uns, Sie zu befreien.« Es grummelte und donnerte plötzlich, als flöge der Jagdflieger durch ein schweres Gewitter. Ein Krachen, ein Scheppern, die Passagiere wurden durchgerüttelt und hohen Gravitationskräften ausgesetzt. Die künstlichen Turbulenzen hatten nicht lange auf sich warten lassen.

»Ein Jammer, dass wir die anderen nicht mitnehmen konnten. Ich hoffe, sie werden nicht sofort zu Fressen für die Collies verarbeitet.« Uschtrow schien von den Vorgängen nicht allzu sehr betroffen. Kris unterstellte ihm unglaubliche Gefühlskälte. Die Berufskrankheit eines erprobten Soldaten. »Obwohl... Sie haben bestimmt andere Sorgen, nachdem wir aufgetaucht sind.«

Kris musste schlucken und klammerte sich an seinen Gurten fest. »Fressen?«

»Sie haben während des Aufenthalts nichts bemerkt?«

»Ich habe die meiste Zeit geschlafen. Irgendwelche Beruhigungsmittel, nehme ich an.«

»Sie züchten uns. Die Obhut soll für möglichst viele Menschen sorgen, damit die Bestien was zum Fressen haben.« Der GC zeigte mit dem Gewehrlauf auf Joule. »Hat sie uns erzählt.« Ihm fiel die Verletzung der Frau auf. »Gott, verdammt! Wer hat sie so zugerichtet?«

»Ich, Sir«, meldete sich der Schuldige. »Sie verhielt sich unangemessen. Wir haben ihr erklärt, wie das an Bord der Hyperiona gehandhabt wird.«

Der GC begab sich auf einen freien Platz. Die Sache war wohl erledigt. »Drücken wir die Daumen, dass uns die Automaten nicht aus dem Himmel holen.« Er zeigte auf Kris. »Sauerstoffmaske auf, falls wir ein Leck bekommen. Im All gibt es nichts zum Atmen.«

Daran muss er mich nicht erinnern. Kris sah die 20T an, die das Grinsen aufgegeben hatte und stur geradeaus blickte, ohne dass sie ein Ziel fokussierte. Wer weiß, was sie noch alles vorhat. Er nahm die Maske aus der Halterung über sich und streifte sie über. Sie war mit einem Ohrstöpsel und Sprechfunk ausgestattet, so dass er sich weiter unterhalten konnte. Ein Medic kümmerte sich an Ort und Stelle um die bewusstlose Faye. Auf der Krankenstation war kein Platz mehr frei.

Die Hyperiona ging in einen senkrechten Steigflug über, das Gewitter fiel hinter ihnen zurück.

»Wir fliegen zum Rendezvous mit der Jeton. Ein Zerstörer der Hyperion-Klasse«, sagte ihm Uschtrow, dem kaum Anstrengung anzuhören war, trotz der höheren Beschleunigungskräfte. »Danach springen wir aus dem System und stoßen zur VHR-Flotte.«

»Flotte?«

»Die Großen der Welt sind sich einig: Wir treten den Collies in den Arsch«, sagte Uschtrow lachend, und seine Leute fielen mit ein.

Eine Flotte! Endlich! Kris hatte dennoch das Gefühl, dass es kein auch nur halbwegs gutes Ende für die Menschheit nehmen würde. Besorgt sah er zu Faye. Der Medic hatte einen Injektor an einer kleinen Öffnung angesetzt, ein Kabel stöpselte er an einer anderen Stelle ein. Die Justifierin war komplett medizinisch überwacht.

Der Medic hielt das Display schräg, damit Kris die Werte sehen konnte. »Alles wieder okay. Prellungen, Anbrüche, ein paar Zerrungen. Schmerzhaft, aber nicht lebensbedrohlich«, erstattete er Bericht.

Kris war erleichtert und hörte eine Frauenstimme sagen: »GC, wir werden verfolgt. Es ist kein Collie-Schiff. Dem Transpondersignal nach heißt das Schiff Cortés, und es ist beschädigt. Es hat unseren Kurs aufgenommen. Soll ich es abschießen? Könnte eine Falle sein.«

»Das ist 23«, rief Kris und fühlte sich bei seiner Annahme sehr sicher. »Der Chemical fliegt das Schiff per Gedankensteuerung. Die Cortés gehört zu uns.«

»Auf Abschuss verzichten«, befahl Uschtrow. »Krankenstation, fragen Sie den Chemical, ob er das wirklich ist. Falls ja, soll er die Cortés hinter uns lassen. Wir führen ihn zum Rendezvous-Punkt.«

 

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