23
 
Tief drunten im Verlies
 
»Mein Narr!«, rief Lear, als mich die Wachen in den Kerker schleiften. »Bringt ihn her und lasst ihn los!« Der Alte sah kräftiger aus, wacher, wachsamer. Gab schon wieder Kommandos. Doch bei diesem Befehl ereilte ihn ein Hustenanfall, der einen Blutfleck auf dem weißen Bart nach sich zog. Drool hielt dem alten Mann den Wasserschlauch, half ihm beim Trinken.
»Wir müssen erst eine Tracht Prügel loswerden«, sagte eine der Wachen. »Dann bekommt Ihr Euren Narren, hübsch gestreift und kleinkariert.«
»Nicht wenn ihr Semmeln und Bier wollt«, sagte Bubble. Sie war eine andere Treppe heruntergekommen und trug einen Korb, der mit einem Tuch zugedeckt war und köstlich nach frisch gebackenem Brot duftete. Ein Krug Ale hing über ihrer Schulter, und unter dem freien Arm klemmte ein Kleiderbündel.
»Oder wir prügeln den Narren und nehmen uns deine Semmeln trotzdem«, sagte der jüngere Gardist, einer von Edmunds Leuten und offenbar mit der Hackordnung im White Tower noch nicht vertraut. Vergiss Gott, den Heiligen Georg und den weißbärtigen König, wenn es sein muss, aber weh dir, du stößt die knurrige Köchin namens Bubble vor den Kopf, denn von Stund an findest du in jeder Mahlzeit Sand und Larven, bis dir das Gift den Garaus macht.
»Darauf solltest du lieber nicht beharren, Sportsfreund«, sagte ich.
»Der Narr trägt die Kluft eines meiner Dienstboten«, sagte Bubble. »Der Knabe steht nackt und bibbernd in meiner Küche.« Bubble warf ein Bündel schwarzer Kleider durch das Gitter in die Zelle zu Drool und Lear. »Hier ist dein Narrenrock! Zieh dich aus, Bengel, damit ich wieder an meine Arbeit gehen kann!«
Die Wachen lachten. »Dann mal los, kleiner Mann, runter mit den Klamotten!«, sagte der Ältere. »Auf uns warten Ale und warme Semmeln.«
Ich zog mich vor der versammelten Bande aus, wobei Lear hin und wieder protestierte, als gäbe irgendwer auch nur einen Stiefel warmer Pisse darauf, was er noch zu sagen hatte. Erst als ich splitternackt war, schlossen die Wachen auf, und ich schlich zu meinem Bündel. Ja! Meine Messer waren noch da, zwischen den Sachen. Mit Fingerfertigkeit und ein wenig Ablenkung durch Bubble, die Semmeln und Ale verteilte, konnte ich sie in meinem Wams verstecken, als ich mich ankleidete.
Zwei weitere Wachen gesellten sich zu den beiden draußen vor unserer Zelle und teilten sich mit ihnen Brot und Bier. Bubble watschelte wieder die Treppe hinauf und zwinkerte mir zu.
»Der König ist melancholisch, Pocket«, sagte Drool. »Wir sollten ihm ein Lied singen, um ihn aufzuheitern.«
»Scheiß auf den König!«, sagte ich und blickte offen in Lears Falkenaugen.
»Vorsicht, Junge …«, sagte Lear.
»Oder was? Sonst haltet Ihr meine Mutter fest, während man sie vergewaltigt, und werft sie dann in den Fluss? Danach lasst Ihr meinen Vater töten? Ach, Moment mal! Die Drohungen sind gar nicht mehr aktuell, habe ich recht … Oheim? Ihr habt sie bereits wahrgemacht.«
»Was redest du da, Junge?« Der alte Mann sah furchterregend aus, als hätte er vergessen, dass man ihn wie Dreck behandelt und in einen Käfig voller Narren geworfen hatte. Er stellte sich dem neuerlichen Affront.
»Ihr. Lear. Ihr erinnert Euch? Eine steinerne Brücke in Yorkshire, vor etwa siebenundzwanzig Jahren? Ihr rieft ein Bauernmädchen vom Flussufer herauf, ein hübsches kleines Ding, und hieltet es fest, während Ihr Eurem Bruder befahlt, es zu schänden. Könnt Ihr Euch erinnern, Lear, oder habt Ihr so viel Böses angerichtet, dass in Eurer Erinnerung alles zu dicken, schwarzen Schwaden verschwimmt?«
Da wurden seine Augen groß, und ich sah, dass er sich erinnerte.
»Canus …«
»Aye, damals hat mich Euer syphilitischer Bruder gezeugt, Lear. Und als niemand meiner Mutter glauben wollte, dass ihr Sohn der Bastard eines Prinzen war, hat sie sich im selben Fluss ertränkt, in den Ihr sie an jenem Tag geworfen hattet. All die Jahre habe ich Euch Oheim genannt … Wer hätte gedacht, dass es wahr wäre?«
»Das ist nicht wahr!«, sagte er mit bebender Stimme.
»Wohl ist es wahr! Das wisst Ihr genau, Ihr klapperige Knochenkiepe 37. Nichts als niedere Bosheit und gemeine Gier halten Euch noch zusammen, ihr verdorrte Ausgeburt eines Drachen!«
Die vier Wachen hatten sich am Gitter versammelt und spähten herein, als wären sie die Eingesperrten.
»Donnerschlag«, sagte eine der Wachen.
»Dreister kleiner Knirps«, sagte eine andere.
»Dann also kein Lied?«, fragte Drool.
Mit zitterndem Finger zeigte Lear auf mich, so wütend, dass ich sehen konnte, wie das Blut durch die Ader an seiner Stirn pumpte. »So redest du nicht mit mir! Du bist weniger als nichts. Ich habe dich aus der Gosse geholt, und wenn ich es sage, rinnt dein Blut noch vor Sonnenuntergang durch diese selbe Gosse.«
»Tatsächlich, Oheim? Mein Blut mag rinnen, doch nicht auf Euer Wort hin. Auf Euer Wort hin mag Euer Bruder umgekommen sein. Auf Euer Wort hin mag Euer Vater umgekommen sein. Auf Euer Wort hin mögen Eure Königinnen umgekommen sein. Nur nicht dieser prinzliche Bastard, Lear. Euer Wort ist für mich nicht mehr als eine laue Brise.«
»Meine Töchter werden …«
»Eure Töchter sind oben und streiten um den Kadaver Eures Königreichs. Sie selbst haben Euch hier eingesperrt, Gevatter!«
»Nein, sie …«
»Ihr habt diese Zelle versiegeln lassen, als Ihr die Mutter der Mädchen gemeuchelt habt. Sie haben es mir beide erzählt.«
»Du hast sie gesprochen?« Er wirkte seltsam hoffnungsvoll, als hätte ich womöglich vergessen, ihm gute Nachricht von seinen verräterischen Kindern zu überbringen.
»Gesprochen? Ich habe sie gevögelt.« Im Grunde albern, dass es – nach seinen finsteren Taten, den Kränkungen, der Grausamkeit – von Bedeutung sein sollte, dass ein Narr seine Töchter vögelte, doch war es sehr wohl von Bedeutung, und es bot mir eine Möglichkeit, ein wenig von dem Zorn, den ich für ihn empfand, auf ihn loszulassen.
»Hast du nicht!«, sagte Lear.
»Hast du?«, fragten die Wachen.
Da stand ich nun, stolzierte vor meinem Publikum ein wenig auf und ab, und außerdem war ich jetzt in einer besseren Position, um Lear meine Stiefelspitze in die Seele zu bohren. Ich sah nur noch, wie die Fluten über meiner Mutter zusammenschlugen, ich hörte nur noch ihre Schreie, als Lear sie festhielt. »Beide habe ich sie gevögelt, wiederholt und mit Vergnügen. Bis sie quiekten und bettelten und jammerten. Ich habe sie auf den Zinnen mit Blick über die Themse gevögelt, in den Türmen, unter dem Tisch in der Großen Halle, und einmal habe ich Regan auf einem Tablett voll Schweinefleisch vor den Augen von Muslimen gevögelt. Ich habe Goneril in Eurem Bett gevögelt, in der Kapelle und auf Eurem Thron, was übrigens ihre Idee war. Ich habe sie gevögelt, während Diener zusahen, und zwar – falls Ihr Euch das fragen solltet -, weil sie darum gebeten hatten, und aus reiner Bosheit wie jede Prinzessin gevögelt werden sollte. Und sie … sie haben es getan, weil sie Euch hassen.«
Lear hatte gejammert, während ich zeterte. Nun knurrte er: »Tun sie nicht. Sie lieben mich. Das haben sie gesagt.«
»Ihr habt ihre Mutter ermordet, geisteskranker Tattergreis! Sie haben Euch in eine Zelle in Eurem eigenen Verlies geworfen. Was braucht Ihr noch – eine schriftliche Erklärung? Ich habe versucht, den Hass aus ihnen herauszuvögeln, Oheim, doch manche Heilung übersteigt selbst eines Narren Gabe.«
»Ich wollte einen Sohn. Ihre Mutter wollte mir keinen schenken.«
»Na, wenn sie das gewusst hätten, hätten sie Euch sicher nicht so sehr verachtet – mir aber auch nicht so gutgetan.«
»Meine Töchter würden dich nicht nehmen. Du hast sie nicht gehabt.«
»Oh, doch! Bei meinem schwarzen Herzen, das habe ich! Und als ich damit anfing, hat jede Einzelne von ihnen Vater geschrien, wenn sie kam. Ich frage mich, wieso. Oh, ja, Oheim, fürwahr – ich habe es getan. Und sie wollten, dass Ihr es erfahrt … Deshalb haben sie mich vor Euch beschuldigt. Oh, ja, ich habe sie beide geritten.«
»Nein!«, heulte Lear.
»Ich auch«, sagte Drool mit breitem, feuchtem Grinsen. »’tschuldigung«, fügte er eilig hinzu.
»Aber heute nicht …«, sagte eine der Wachen. »Oder?«
»Nein, heute nicht, du blöder Hammel! Heute habe ich sie umgebracht.«
 
 
Die Franzosen marschierten über Land, von Südosten her, und segelten mit ihren Schiffen die Themse hinauf. Die Lords von Surrey im Süden leisteten keinerlei Widerstand, und da Dover in der Grafschaft Kent lag, leisteten die Truppen des verbannten Grafen nicht nur keinen Widerstand, sondern schlossen sich den Franzosen bei deren Angriff auf London an. Diese waren quer durch England gesegelt und marschiert, ohne auch nur einen einzigen Bolzen abzuschießen oder auch nur einen einzigen Mann zu verlieren. Vom White Tower aus konnten die Wachen sehen, wie die Lagerfeuer der Franzosen einen rötlichen Halbmond in die Nacht malten, der den Himmel erhellte.
Als man auf der Burg zu den Waffen rief, drückten unter Hauptmann Curans Kommando des Königs Ritter und Knappen den Männern Edmunds und Regans ihre Klingen an den Hals und forderten sie auf, sich zu ergeben – oder zu sterben. Die Garde auf der Burg war vom Küchenpersonal mit einem geheimnisvollen, wenn auch nicht lebensgefährlichen Mittel vergiftet worden, das sämtliche Anzeichen des Todes vortäuschte.
Hauptmann Curan übermittelte dem Herzog von Albany eine Nachricht der französischen Königin: Wenn er sich füge, wenn er zu ihr stehe, dürfe er nach Albany heimkehren und seine Armee, seine Ländereien und seinen Titel behalten. Gonerils Armee aus Cornwall und Edmunds Armee aus Gloucester, die auf der Westseite des Turmes lagerten, stellten fest, dass sie im Süden und Osten von Franzosen eingekesselt waren, und im Norden von Albany. Bogen- und Armbrustschützen waren auf den Mauern des Towers oberhalb von Cornwalls Armee postiert, und ein Herold kämpfte sich zwischen den verunsicherten Soldaten hindurch zum Kommandeur mit der Nachricht, die Armee von Cornwall solle ihre Waffen auf der Stelle niederlegen, sonst würde der Tod mit einer Heftigkeit auf sie herniederregnen, die alle Vorstellungskraft überstieg.
Niemand war bereit, für die Sache Edmunds, des Bastards von Gloucester, oder des toten Herzogs von Cornwall zu sterben. Sie legten ihre Waffen nieder und marschierten ein paar Meilen gen Westen.
Nach zwei Stunden war alles vorbei. Von den fast dreißigtausend Mann, die auf dem Feld beim White Tower standen, kam kaum ein Dutzend zu Tode, durchweg Edmunds Leibgardisten, die sich nicht ergeben wollten.
 
 
Die vier Wachen lagen seltsam verrenkt am Boden des Verlieses und machen einen ziemlich toten Eindruck.
»Blödes Scheißgift!«, sagte ich. »Drool, versuch du mal, ob du an den Kerl mit den Schlüsseln rankommst!« Der Simpel reckte sich durch die Gitterstäbe, doch die Wache lag zu weit entfernt.
»Ich hoffe, Curan weiß, dass wir hier unten sind.«
Lear sah wilden Blickes um sich, als wäre der Wahn zurückgekehrt. »Was soll das heißen? Hauptmann Curan ist hier? Meine Ritter auch?«
»Selbstredend! Dem Klang der Trompeten nach zu urteilen, würde ich sogar sagen, Curan hat die Burg eingenommen, ganz wie geplant.«
»Dann war dein Theater reine Ablenkung?«, fragte der König. »Du bist mir gar nicht gram?«
»Doch, bin ich, du alte Bratzbirne, aber ich wollte meine Hasstirade nicht so lange auswalzen, bis das Gift wirkt. Für mich bist du nach wie vor eine schwimmende Kackwurst in der Milch der frommen Denkungsart, genau wie ich gesagt habe.«
»Nein!«, brüllte der alte Mann, als interessierte er sich ernstlich für meinen Zorn. Er musste wieder husten und erntete für seine Anstrengung eine blutige Hand. Drool setzte ihn auf und wischte ihm das Gesicht ab. »Ich bin der König! Ich werde mich von dir nicht richten lassen, Narr!«
»Nicht allein nur Narr, Oheim! Euer Bruder Sohn. Habt Ihr ihn von Kent ermorden lassen? Ein einziger anständiger Bursche in Euren Diensten und Ihr macht ihn zum Attentäter, ja?«
»Nein, nicht Kent. Es war ein anderer, nicht einmal ein Ritter. Ein Beutelschneider, der vor Gericht stand. Ihn hat Kent getötet. Ich habe Kent dem Attentäter auf den Hals gehetzt.«
»Es lässt ihm bis heute keine Ruhe, Lear. Habt Ihr auch Euren Vater von einem Beutelschneider meucheln lassen?«
»Mein Vater war ein leprakranker Nekromant. Ich konnte es nicht mehr ertragen, dass seine bucklige Gestalt Britannien regierte.«
»An Eurer Stelle, meint Ihr?«
»Ja, an meiner Stelle. Ja. Aber ich habe ihm keinen Mörder geschickt. Er saß in einer Zelle im Tempel von Bath. Weit weg, abseits der Menschen. Ich konnte den Thron nicht besteigen, bevor er tot war. Aber ich habe ihn nicht getötet. Die Priester haben ihn eingemauert. Die Zeit hat meinen Vater getötet.«
»Ihr habt ihn eingemauert? Bei lebendigem Leib?« Ich zitterte. Ich dachte, ich hätte dem Alten verzeihen können, da ich ihn so leiden sah, doch nun hörte ich das Blut in meinen Ohren rauschen.
Stiefel hallten durchs steinerne Verlies, und als ich aufblickte, sah ich den Bastard Edmund im Lichtschein der Fackeln.
Er trat nach einer der bewusstlosen Wachen und starrte sie an, als hätte er Affensperma in seinen Weetabix38. »Na, das ist jetzt aber doch eher nervig, oder«, sagte er. »Ich schätze, da werde ich euch wohl eigenhändig töten müssen.« Er bückte sich, nahm einer der Wachen die Armbrust vom Rücken und spannte die Sehne.
PAUSE
(Hinter der Bühne bei den Schauspielern)
 
 
»Pocket, du Halunke, du hast mich in eine Komödie gelockt!«
»Nun, für manchen mag es eine sein, ja.«
»Als ich den Geist sah, dachte ich, die Tragödie sei mir sicher.«
»Stimmt, in Tragödien geht’s nicht ohne Geist.«
»Aber die Verwechslung, die Unkeuschheit, das leichte Thema, der Mangel an Ideen -, es ist doch zweifellos eine Komödie. Für eine Komödie bin ich nicht richtig gekleidet. Ich bin ganz in Schwarz.«
»Genau wie ich, und dennoch sind wir hier.«
»Also ist es eine Komödie.«
»Eine schwarze Komödie …«
»Ich wusste es.«
»Für mich zumindest.«
»Dann eine Tragödie?«
»Der Geist weckt eine Ahnung, was?«
»Aber diese ganze sinnentleerte Vögel- und Wichserei?«
»Geniale Irreführung.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
»Tut mir leid, aber nein. In der nächsten Szene erwartet dich eine pikeniere Überraschung.«
»Dann werde ich also von einem Spieß durchbohrt?«
»Zum großen Vergnügen des Publikums.«
»Och, Mann!«
»Aber es gibt auch eine gute Nachricht.«
»Ja?«
»Für mich bleibt es eine Komödie.«
»Mein Gott, bist du ein nerviger Wicht!«
»Hasse das Stück, doch nie den Mimen, mein Freund! Hier, lass mich dir den Vorhang halten! Hast du mit diesem silbernen Dolch noch was Bestimmtes vor? Wenn du nicht mehr da bist, meine ich?«
»Eine blutige Komödie …«
»Tragödien enden immer tragisch, Edmund, doch das Leben geht weiter, nicht wahr? Der Winter unserer Unzufriedenheit wird unweigerlich zum Frühling eines neuen Abenteuers. Wiederum nicht für dich.«
»Ich habe noch nie einen König erschlagen«, sagte Edmund.
»Meint Ihr, ich werde dadurch berühmt?«
»Ihr werdet Euch kaum die Gunst der Herzoginnen sichern, indem Ihr deren Vater tötet«, sagte ich.
»Ach, die beiden … ganz wie diese Wachen hier – mausetot, wie ich leider sagen muss. Sie teilten sich einen Krug Wein, während sie über ihren Karten noch die Schlachtenstrategien planten. Plötzlich sanken beide zu Boden, Schaum vor dem Mund. Schade.«
»Die Wachen sind nicht tot. Nur betäubt. In ein, zwei Tagen kommen sie wieder zu sich.«
Er ließ die Armbrust sinken. »Dann schlafen die Weibsbilder nur?«
»Oh, nein, die sind wohl tot. Ich habe beiden je zwei Fläschchen gegeben. Eines mit Gift, das andere mit Wasser. Bubble hat das Betäubungsmittel behalten und den Wachen gegeben. Hätte eine der Schwestern beschlossen, sich der anderen gegenüber als gnädig zu erweisen, müsste eine von beiden noch am Leben sein. Aber – wie Ihr schon sagtet – schade.«
»Gut inszeniert, Narr. Doch da fällt mir ein … ich werde mich Königin Cordelias Gnade unterwerfen müssen und sie wissen lassen, dass ich gegen meinen Willen in diese schreckliche Verschwörung hineingezogen wurde. Vielleicht behalte ich so den Titel und die Grafschaft von Gloucester.«
»Meine Töchter? Tot?«, sagte Lear.
»Ach, halt die Klappe, Tattergreis«, sagte Edmund.
»Die waren ulkig«, sagte Drool traurig.
»Und wenn Cordelia erfährt, was Ihr wirklich getan habt?«, fragte ich.
»Was uns genau zum Thema bringt, nicht wahr? Ihr werdet Cordelia nicht berichten können, was vorgefallen ist.«
»Cordelia, meine einzig wahre Tochter!«, heulte Lear.
»Schnauze!«, bellte Edmund. Er hob die Armbrust, zielte durch die Gitterstäbe auf Lear, dann trat er einen Schritt zurück und schien sein Ziel aus den Augen zu verlieren, als eines meiner Wurfmesser mit dumpfem Schlag aus seiner Brust ragte.
Er ließ die Armbrust sinken und starrte den Messergriff an. »Aber du sagtest doch: pikeniere Überraschung!«
»Überraschung!«, sagte ich.
»Bastard«, knurrte der Bastard. Er hob die Armbrust, um zu schießen, diesmal auf mich, und ich schleuderte ihm das zweite Messer ins rechte Auge. Die Armbrust schepperte, und der schwere Bolzen fiel klappernd auf den Steinfußboden, als sich Edmund einmal um die eigene Achse drehte und auf den Wachenhaufen kippte.
»Astrein«, sagte Drool.
»Du sollst belohnt werden, Narr!«, sagte Lear, und seine Stimme rasselte vor Blut. Er hustete.
»Vergiss es«, sagte ich.
Dann ertönte in der Zelle eine Frauenstimme: »Raben schreien auf den Zinnen. Der Wind weht Edmunds Tod herbei, und die Schnäbel wässern schon ob des Schurken modrig Fäule!«
Der Geist. Die schillernde Gestalt stand über Edmunds Leichnam gebeugt, direkt vor unserer Zelle, eher noch ätherischer als bei unserer letzten Begegnung. Sie blickte auf und grinste. Drool wimmerte ungehemmt und versuchte, sich hinter Lears weißer Mähne zu verstecken.
Lear wollte sie wegwinken, doch sie schwebte vor ihm an die Gitterstäbe. »Nun, Lear, hast wohl deinen Vater eingemauert, was? Ja?«
»Geh weg, Geist! Plage mich nicht!«
»Hast auch die Mutter deiner Tochter eingemauert, was?«, sagte der Geist.
»Sie war mir untreu!«, rief der Alte.
»Nein«, sagte der Geist. »War sie nicht.«
Benommen setzte ich mich auf den Zellenboden. Edmund zu meucheln, war mir nicht gut bekommen. »Dann war die Eremitin von Dog Snogging Eure Königin?«, fragte ich, und meine Stimme klang in meinen Ohren, als käme sie aus weiter Ferne.
»Sie war eine Hexe«, sagte Lear. »Und sie hat meinem Bruder schöne Augen gemacht. Ich habe sie nicht getötet. Ich konnte es nur nicht ertragen. Ich ließ sie in die Abtei von Yorkshire sperren.«
»Nun, mit dem Einmauern habt Ihr sie ja wohl auch umgebracht!«, schrie ich.
Lear schreckte vor meiner Unverblümtheit zurück. »Sie war untreu, tändelte mit einem der Burschen dort. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie bei einem anderen war.«
»Also habt Ihr sie zumauern lassen.«
»Ja! Ja! Und der Junge kam an den Galgen. Ja!«
»Ihr seid ein widerliches Monstrum!«
»Außerdem hat sie mir keinen Sohn geschenkt. Ich wollte einen Sohn.«
»Sie hat Euch Cordelia geschenkt, Euren Liebling.«
»Und sie war dir treu«, sagte der Geist. »Bis du sie fortgeschickt hast.«
»Nein!« Der alte König versuchte, den Geist zu verscheuchen.
»Oh, doch! Und du hattest einen Sohn, Lear. Jahrelang hattest du einen Sohn.«
»Ich hatte keinen Sohn.«
»Noch eine Bauernmaid, die du dir auf einem Schlachtfeld genommen hast. Diesmal in Iberien.«
»Ein Bastard? Ich habe einen Bastard?«
Ich sah Hoffnung in Lears kalten Augen keimen und wollte sie auslöschen, wie Regan es mit Gloucesters Augen getan hatte. Ich zückte mein letztes Messer.
»Ja«, sagte der Geist. »Du hattest einen Sohn, all die Jahre, und nun liegst du in seinen Armen.«
»Was?«
»Der Simpel ist dein Sohn«, sagte der Geist.
»Drool?«, sagte ich.
»Drool?«, sagte Lear.
»Drool«, sagte der Geist.
»Papa!«, sagte Drool. Und er drückte seinen lang verlorenen Vater mit monströsen Armen an sich. »Mein Papa!« Man hörte Knochen knacken und ein ekliges Geräusch von Luft, die feuchten, zerdrückten Lungen entwich. Lears Augen traten aus dem Kopf, und seine Pergamenthaut wurde blau, als Drool ihm die Liebe seines ganzen Lebens auf einmal schenkte.
Als der Alte nicht mal mehr ein Pfeifen von sich gab, ging ich zu Drool und löste seine Arme. »Lass ihn, Junge! Lass los!«
»Papa?«, sagte Drool.
Ich schloss die kristallblauen Augen des alten Mannes. »Er ist tot, Drool.«
»Arschloch!«, sagte der Geist und spuckte aus – einen klitzekleinen Speichelfladen, der wie eine Motte davonflatterte.
Da stand ich auf und wandte mich dem Geist zu. »Wer bist du? Welches Unrecht wurde dir zugefügt, das ungeschehen zu machen wäre, damit deine Seele Ruhe findet oder du endlich verschwindest, ätherknochiger Quälgeist?«
»Dieses Unrecht wurde soeben aus der Welt geschafft«, sagte der Geist. »Endlich.«
»Wer bist du?«
»Wer ich bin? Wer ich bin? Was meinst du wohl, wer ich bin, guter Pocket? Klopf an deine Narrenkappe und frag den nutzlosen Hirnkasten, woher seine Kunst wohl rührt. Klopf an deinen Hosenbeutel und frag den kümmerlichen Bewohner, wer ihn des Nachts um den Schlaf bringt. Klopf an dein Herz und frag die Seele dort, wer sie in der Wärme ihres heimischen Feuers erweckt hat … Frag den zarten Geist, der in dem Geist vor deinen Augen steckt!«
»Thalia!«, sagte ich, denn nun endlich erkannte ich sie. Ich sank vor ihr auf die Knie.
»Aye, Junge. Aye.« Sie legte ihre Hand auf meinen Kopf. »Erhebt Euch, Sir Pocket von Dog Snogging!«
»Aber warum? Warum hast du nie gesagt, dass du eine Königin bist? Warum?«
»Er hatte meine Tochter in der Gewalt, meine süße Cordelia.«
»Und du wusstest immer schon von meiner Mutter?«
»Ich hatte Geschichten gehört, aber ich wusste nicht, wer dein Vater war, zumindest nicht, als ich noch lebte.«
»Warum hast du mir nichts von meiner Mutter erzählt?«
»Du warst ein kleiner Junge. Das ist keine Geschichte für kleine Jungen.«
»Nicht so klein, dass du mir nicht durch das Kreuz einen runterholen konntest.«
»Das war erst später. Ich wollte es dir wohl erzählen, aber dann ließ er mich endgültig einmauern.«
»Weil wir erwischt wurden?«
Der Geist nickte. »Er hatte schon immer ein Problem mit der Tugend anderer. Nie mit seiner eigenen.«
»War es schlimm?« Ich hatte versucht, nicht an sie zu denken, allein in der Finsternis, verhungernd und verdurstend.
»Es war einsam. Ich war immer einsam, nur nicht mit dir, Pocket.«
»Tut mir leid.«
»Du bist ein Schatz, Pocket. Lebwohl.« Sie griff durch die Gitterstäbe und strich wie feine Seide über meine Wange. »Kümmere dich um sie!«
»Bitte?«
Sie schwebte zur gegenüberliegenden Wand, wo Edmunds Leichnam lag.
Sie sagte:
»Nach Kränkung seiner Töchter drei,
der König bald ein Narr wohl sei.«
»Neiiiin«, heulte Drool. »Mein Papa ist tot!«
»Nein, ist er nicht«, sagte Thalia. »Lear war nicht dein Vater. Ich hab dich nur auf den Arm genommen.«
Sie verblasste. Ich musste lachen, und schon war sie weg.
»Lach nicht, Pocket!«, sagte Drool. »Ich bin ein Findling.«
»Sie hat uns die verdammten Schlüssel nicht gegeben«, sagte ich.
 
 
Schwere Schritte hallten von der Treppe her, und Hauptmann Curan erschien mit zwei Rittern im Gang. »Pocket! Wir suchen dich schon! Der Tag ist unser, und Königin Cordelia naht von Süden her! Was ist mit dem König los?«
»Tot«, sagte ich. »Der König ist tot.«
Fool: Roman
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