18
Kätzchenkrallen
Wir schlichen in die
Burg von Gloucester, was gar nicht meine Art ist, wie man sich
denken kann. Ich bin eher dafür gemacht, mit ein paar Flickflacks
einzutreten, einem Klapperstock, dem einem oder anderen unflätigen
Geräusch und einem »Grüß Gott, Ihr
Gnome!« Arsch und Zwirn, schließlich bin ich mit Glöckchen
und Puppe ausstaffiert! Die ewige Rumschleicherei machte mich
fertig. Ich folgte dem Grafen von Gloucester durch eine geheime
Luke im Stall in einen Tunnel unter dem Burggraben. Im Dunkeln
wateten wir durch wadenhohes, kaltes Wasser, dass es in meinem
Schritt nur so schwappte und schwengelte. Nie im Leben würde Drool
durch diesen engen Gang passen, selbst wenn ich die Finsternis mit
einer Fackel vertrieb. Durch eine weitere Luke führte der Tunnel
ins Kerkergeschoss. Der Graf verabschiedete sich in ebenjener
Folterkammer, in der ich Regan besucht hatte.
»Ich mache mich auf
den Weg und arrangiere die Reise deines Herrn nach Dover, Narr.
Noch habe ich ein paar Diener, die mir treu sind.«
Ich fühlte mich
Gloucester verpflichtet, weil er mir in die Burg geholfen hatte,
besonders angesichts seiner einstigen Verbitterung mir gegenüber.
»Haltet Euch vom Bastard fern, Hoheit! Ich weiß, er ist Euer
Lieblingssohn, doch nicht zu Recht. Er ist ein Lump.«
»Würdige Edmund nicht
herab, Narr! Ich weiß um deine Hinterlist. Erst gestern Abend stand
er mir zur Seite, als ich dagegen protestierte, wie Cornwall den
König behandelt.«
Ich hätte Gloucester
von dem Brief erzählen können, den ich gefälscht hatte, von des
Bastards Plan, seinen Bruder zu verdrängen, aber was konnte er
schon machen? Vermutlich wäre er in Edmunds Gemächer gestürmt, und
der Bastard hätte ihn auf der Stelle erschlagen.
»Nun denn …«, sagte
ich. »Hütet Euch, Mylord! Cornwall und Regan sind eine vieräugige
Schlange! Sollten sie ihr Gift gegen Edmund verspritzen, müsst Ihr
ihn ziehen lassen. Eilt ihm nicht zu Hilfe, damit die Nattern nicht
auch Euch vergiften!«
»Mein letzter, mein
wahrer Sohn! Schäm dich, Narr!«, sagte der Graf. Er schnaubte
verächtlich und eilte aus dem Kerker, die Treppe
hinauf.
Ich dachte daran, den
einen oder anderen Gott zu bitten, dass er den alten Grafen
schützte, doch falls die Götter in meinem Sinne handelten, taten
sie es ohnehin, und wenn sie es anders sahen, gab es keinen Grund,
sie auf mich aufmerksam zu machen. Es schmerzte mich, dennoch zog
ich meine Schuhe aus, nahm die Kappe ab und stopfte sie in mein
Wams, damit die Glöckchen schwiegen. Jones war bei Lear in der
Hütte geblieben.
Die Waschküche lag im
unteren Bereich der Burg, also machte ich mich zuerst dorthin auf
den Weg. Das Waschweib mit den bereits erwähnten Hupen von
eindrucksvoller Überzeugungskraft hängte gerade Hemden vor dem
Feuer auf, als ich eintrat.
»Wo ist Drool,
Spätzchen?«, fragte ich.
»Versteckt«, sagte
sie.
»Verdammt, ich weiß,
dass er sich versteckt, sonst wäre die Frage ja wohl überflüssig,
oder?«
»Dann soll ich ihn
also einfach so verraten? Wie kann ich wissen, dass du ihn nicht
meucheln willst? Der alte Ritter, der ihn hergebracht hat, sagte,
niemand darf wissen, wo er ist.«
»Aber ich bin hier,
um ihn aus der Burg zu schaffen. Um ihn zu retten.«
»Aye, das behauptest
du, aber...«
»Hör zu, du blöde
Tussi, lass den Dussel frei!«
»Emma«, sagte die
Wäscherin.
Ich sank neben den
Kamin und ließ meinen Kopf in die Hände sinken. »Spätzchen, ich hab
die Nacht im Sturm verbracht, mit einer Hexe und zwei Hirnis. Ich
habe zwei Kriege an der Backe, die sporadische Schändung zweier
Prinzessinnen und die dazugehörige Hahnreiung zweier Herzöge. Ich
bin zu Tode betrübt, untröstlich vom Verlust eines Freundes, und
der sabbernde Trottel, der mein Lehrling ist, wandert offenbar
durch diese Burg, auf der Suche nach einem Loch in der Brust. Habt
Mitleid mit einem Narren, gute Frau! Der nächste dumme Spruch
könnte meinen morschen Verstand in tausend Stücke
schlagen.«
»Ich heiße Emma«,
sagte die Wäscherin. »Ich bin hier drüben, Pocket«, sagte Drool und
stand im großen Kessel auf. Er hatte einen Wäschehaufen auf dem
Kopf. »Euterchen hat mich versteckt. Sie ist ein
Schatz.«
»Hörst du das?«,
sagte Emma. »Er nennt mich immer Euterchen.«
»Das ist ein
Kompliment, Liebes.«
»Das ist respektlos«,
sagte sie. »Ich heiße Emma.«
Ich werde Frauen nie
verstehen. Mir schien, die Wäscherin war auf eine Art und Weise
gekleidet, die ihre Brüste im wahrsten Sinne des Wortes hervorhob,
wenn nicht gar feilbot – eine fest geschnürte Weste, die alles nach
oben schob, bis es aus dem Ausschnitt quoll -, aber sobald einem so
was auffällt, ist dieselbe Dame beleidigt. Ich werde es nie
verstehen.
»Du weißt, dass er
nicht mehr alle Zinnen auf dem Turm hat, oder, Emma?«
»Trotzdem.«
»Gut. Drool,
entschuldige dich bei Emma dafür, dass du gesagt hast, sie hat
tolle Euter.«
»Tut mir leid, das
mit deinen Eutern«, sagte Drool und verneigte sich so tief, dass
seine Wäsche in den Kessel fiel.
»Zufrieden,
Emma?«
»Muss
wohl.«
»Gut, also: Weißt du,
wo Hauptmann Curan sein könnte, der Kommandant von König Lears
Rittern?«
»Na klar«, sagte
Emma. »Lord Edmund und der Herzog haben mich heute früh zu
militärischen Problemen konsultiert, wie es so ihre Art ist – wo
ich doch Waschfrau bin und Ahnung von der allerbesten Taktik und
den Strategien und dem ganzen Zeug habe.«
»Vom Sarkasmus werden
dir noch die Titten abfallen«, sagte ich.
»Stimmt nicht«, sagte
sie und verschränkte die Arme, um ihre Brüste zu
stützen.
»Das ist eine
Tatsache«, sagte ich und nickte ernst, dann sah ich zu Drool
hinüber, der ebenfalls ernst nickte und sagte: »Das ist eine
Tatsache«, Ton für Ton mit meiner Stimme.
»Das ist echt
unheimlich.« Ein kalter Schauer durchfuhr Emma. »Verschwindet aus
meiner Waschküche, ihr zwei!«
»Nun gut«, sagte ich.
Ich winkte Drool, er solle aus dem Kessel steigen. »Ich danke dir
dafür, dass du auf unser Naturtalent aufgepasst hast, Emma. Ich
wünschte, ich könnte irgendetwas …«
»Töte Edmund!«, sagte
sie.
»Bitte?«
»Der Sohn eines
Baumeisters wollte mich heiraten, bevor ich anfing, hier zu
arbeiten. Ein angesehener Mann. Edmund nahm mich gegen meinen
Willen und prahlte damit im Dorf herum. Da wollte mein Liebster
mich nicht mehr. Niemand, der auch nur einen Pfifferling wert ist,
will mich, nur der Bastard, und der, wann immer ihm danach zumute
ist. Edmund hat befohlen, dass ich dieses ausgeschnittene Kleid
trage. Er sagt, er schickt mich in den Schweinestall, wenn ich ihm
nicht zu Willen bin. Töte ihn für mich!«
»Aber, Mädchen, ich
bin doch nur ein Narr. Ein Clown. Und ein kleiner noch
dazu.«
»An dir ist viel mehr
dran, schwarzmütziger Halunke! Ich habe die Messer an deinem Rücken
gesehen, und ich sehe, wer hier auf der Burg die Fäden zieht, und
es ist weder der Graf, noch der alte König. Töte den
Bastard!«
»Edmund hat mich
gehauen«, sagte Drool. »Und sie hat echt Mördereuter.«
»Drool!«
»Hat sie
aber.«
»Na gut«, sagte ich
und nahm die Hand der Wäscherin. »Aber alles zu seiner Zeit. Vorher
muss noch einiges passieren.« Ich verneigte mich über ihrer Hand,
küsste diese, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und tappte
barfüßig aus der Waschküche hinaus, um Geschichte zu
machen.
»Ficken bis zum
Gehtnichtmehr«, flüsterte Drool der Wäscherin zwinkernd
zu.
Ich versteckte Drool
im Torhaus zwischen den schweren Ketten, die ich mir für meine
Flucht zunutze gemacht hatte, als ich Lear in den Sturm hinaus
gefolgt war. Den Simpel unbemerkt auf die Mauer und ins Torhaus zu
bugsieren, das war keine leichte Aufgabe, und er hinterließ eine
Sabberspur auf den Steinen, bis wir in den Außenbereich der Burg
kamen, doch bei diesem Unwetter war die Mauer nur dünn besetzt,
sodass wir sie größtenteils unbeobachtet hinter uns brachten. Meine
Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eisblöcken, als ich
endlich in die Nähe eines Feuers kam, aber es ging nicht anders.
Drool in diesem engen Geheimtunnel, da er sich doch im Dunkeln
fürchtete... das wünschte ich nicht mal meinem ärgsten Feind. Ich
fand eine Wolldecke und wickelte den Klotzkopf darin ein, damit er
auf mich wartete.
»Pass auf meine
Schuhe und den Ranzen auf, Drool!«
Ich machte mich auf
den Weg, drückte mich in jeden Winkel, schlich durch die Küche zum
Dienereingang in die Große Halle, weil ich hoffte, Regan dort zu
finden. Der riesige Kamin der Halle wäre für die Prinzessin an
einem derart frostigen Tag sicher verlockend, denn sosehr sie sich
auch für das Treiben in der Folterkammer begeisterte, fühlte sie
sich doch zum Feuer hingezogen wie eine Katze.
Da die Burg
Gloucester keine äußere Ringmauer besaß, war sogar die Große Halle
mit Schießscharten ausgestattet, sodass sich der Bau bei einem
Angriff von allen Stockwerken aus verteidigen ließ. Die
Schießscharten waren zwar mit Läden versehen, doch es zog dort wie
Hechtsuppe, sodass man gegen den Wind Arazzi35 vor die
Alkoven gehängt hatte – der perfekte Ort für einen Narren, wenn er
jemanden beobachten, sich aufwärmen und den rechten Moment abwarten
wollte.
Ich schlich mit einem
Schwarm von Dienstmaiden in die Halle und stracks in den Alkoven,
der dem Kamin am nächsten war. Dort saß sie am Feuer, in einem
schweren, schwarzen Pelzumhang mit Kapuze, und zeigte der Welt nur
ihr Gesicht.
Ich schob den
Wandteppich beiseite und wollte eben etwas sagen, als die Haupttür
der Großen Halle aufflog und der Herzog von Cornwall eintrat,
herausgeputzt wie stets mit seinem roten Löwenwappen auf der Brust,
doch unverblümt mit Lears Krone auf dem Kopf – der Krone, die der
alte Mann an jenem schicksalshaften Abend im White Tower auf den
Tisch geknallt hatte. Selbst Regan schien verdutzt, sie auf dem
Haupt ihres Mannes zu sehen.
»Mylord, ist es denn
klug, die Krone Britanniens zu tragen, solange unsere Schwester auf
der Burg weilt?«
»Stimmt ja, wir
müssen den Schein wahren, als wüssten wir nicht, dass Albany eine
Armee gegen uns zusammenzieht.« Cornwall nahm die Krone ab und
versteckte sie unter einem Kissen neben dem Kamin. »Ich will mich
hier mit Edmund treffen und einen Plan für des Herzogs Absetzung
schmieden. Man kann nur hoffen, dass Eure Schwester keinen Schaden
nimmt.«
Regan zuckte mit den
Schultern. »Wenn sie sich dem Schicksal vor die Hufe wirft – wer
sind wir, sie davor zu bewahren, dass ihr Hirn zu Brei getrampelt
wird?«
Cornwall schloss sie
in die Arme und küsste sie leidenschaftlich.
O Mylady, dachte ich, stoßt
ihn von Euch, wenn Ihr Eure Lippen nicht mit Bosheit besudeln
wollt! Dann wurde mir bewusst (vielleicht später, als es
hätte der Fall sein sollen), dass sie die Bosheit ebenso wenig
herausschmecken würde, wie ein Knoblauchesser einen speziellen
Rosenduft erkennen könnte. Ihr Atem roch schon jetzt
böse.
Selbst als der Herzog
sie in seinen Armen hielt und seine Bewunderung für sie bekundete,
wischte sie sich den Mund hinter seinem Rücken mit dem Ärmel ab.
Sie stieß den Herzog von sich, als der Bastard Edmund die Halle
betrat.
»Mylord«, sagte
Edmund und nickte Regan nur zu. »Wir müssen unseren Plan
verschieben. Seht diesen Brief!«
Der Herzog nahm das
Pergament von Edmund entgegen.
»Was?«, sagte Regan.
»Was, was, was?«
»Frankreich hat
Truppen angelandet. Er weiß um die Unruhen zwischen uns und Albany
und hält Truppen überall an der Küste Britanniens
versteckt.«
Regan riss Cornwall
das Pergament aus der Hand und las es selbst. »Der Brief ist an
Gloucester adressiert.«
Edmund verneigte sich
mit gespielter Reue. »Aye, Mylady, ich fand ihn in seinem Schrank
und brachte ihn hierher, sobald ich seines Inhaltes gewahr
wurde.«
»Wache!«, rief
Cornwall. Die großen Türen gingen auf, und ein Soldat lugte herein.
»Bringt mir den Grafen Gloucester! Spart Euch jeglichen Respekt für
seinen Titel. Er ist ein Verräter!«
Ich suchte nach einem
Weg zurück zur Küche, um vielleicht Gloucester dort zu finden und
ihn vor dem Verrat des Bastards zu warnen, doch Edmund stand dem
Alkoven zugewandt, in dem ich mich versteckte, und so konnte ich
unmöglich unentdeckt entkommen. Ich öffnete den Laden der
Schießscharte. Selbst wenn ich es schaffen konnte, mich
hindurchzuzwängen, fiel doch die Mauer senkrecht bis zum See hinab.
Ich drückte den Holzladen zu und verriegelte ihn.
Wieder hörte ich die
großen Türen und trat an den Spalt zwischen Wand und Teppich, von
wo aus ich Goneril eintreten sah, gefolgt von zwei Soldaten, die
Gloucester bei den Armen hielten. Der alte Mann sah aus, als hätte
er schon aufgegeben, und hing wie ein Ertrunkener zwischen den
Soldaten.
»Knüpft ihn auf!«,
sagte Regan und wandte sich dem Feuer zu, um ihre Hände
aufzuwärmen.
»Was soll das?«,
sagte Goneril.
Cornwall reichte ihr
den Brief und sah ihr über die Schulter, während sie
las.
»Stecht ihm die Augen
aus!«, sagte sie und machte sich nicht mal die Mühe, Gloucester
anzusehen.
Cornwall nahm ihr den
Brief sanft aus der Hand und legte brüderlich seine Hand auf ihre
Schulter. »Überlasst ihn unserem Missvergnügen, Schwester! Edmund,
geleitet unsere Schwester, und sorgt dafür, dass sie sicher nach
Hause gelangt! Mylady, sagt Eurem Herzog, dass wir uns gegen die
fremde Kriegsmacht vereinen müssen! Wir halten uns über Depeschen
auf dem Laufenden! Nun eilt, edler Graf Gloucester! Ihr wollt
gewiss nicht sehen, wie es dem Verräter hier ergeht.«
Edmund konnte sich
sein Grinsen nicht verkneifen, als man ihm den Titel gab, nach dem
es ihn schon seit so vielen Jahren gelüstete. »Das will ich tun«,
sagte Edmund. Er bot Goneril seinen Arm, und sie hakte sich bei ihm
ein. Dann wollten sie die Halle verlassen.
»Nein!«, rief
Regan.
Alle hielten inne.
Cornwall trat zwischen Regan und ihre Schwester. »Mylady, jetzt ist
die Zeit gekommen, gegen die fremde Macht gemeinsam
aufzustehen.«
Regan knirschte mit
den Zähnen, wandte sich dem Feuer zu und winkte sie hinaus.
»Hinfort mit euch!«
Edmund und Goneril
verließen die Halle.
»Bindet ihn an diesen
Stuhl, dann geht hinaus!«, befahl Cornwall seinen
Soldaten.
Sie fesselten den
alten Grafen an den schweren Stuhl und traten zurück.
»Ihr seid hier meine
Gäste«, sagte Gloucester. »Lasst Gerechtigkeit
walten!«
»Schmutziger
Verräter!«, sagte Regan. Sie nahm ihrem Mann den Brief aus der Hand
und warf ihn dem Alten ins Gesicht. Dann packte sie ein Büschel
seines Bartes und riss es heraus. Der Graf schrie auf.
»Verräterisch weiß«,
sagte sie.
»Ich bin kein
Verräter. Ich bleibe meinem König treu.«
Noch einmal riss sie
ihm ein Büschel aus. »Was für Briefe habt Ihr jüngst aus Frankreich
erhalten? Was plant man dort?«
Gloucester
betrachtete das Pergament am Boden. »Ich weiß nicht mehr als
das.«
Cornwall stürmte auf
Gloucester zu, packte ihn an den Haaren und riss den Kopf des alten
Mannes zurück. »Sprecht! In wessen Hände habt Ihr den
geisteskranken König gegeben? Wir wissen, dass Ihr ihm Hilfe
entsandt habt.«
»Nach Dover. Ich habe
ihn nach Dover geschickt. Vor ein paar Stunden erst.«
»Warum nach Dover?«,
sagte Regan.
»Aasfresser!«,
keuchte Gloucester hustend. »Teufelin, ich sage
nichts!«
»Dann sollt Ihr das
Licht der Sonne nie mehr sehen«, sagte Cornwall und stürzte sich
auf den alten Mann.
Ich konnte es nicht
ertragen. Ich zückte mein Messer, um es zu werfen, doch bevor es
mir gelang, umfing ein Ring aus Eis mein Handgelenk, und ich sah
den Geist neben mir, der meinen Wurf verhinderte und mich auch noch
vollends lähmte. Nur meine Augen konnte ich bewegen und das Grauen
betrachten, das in der Großen Halle geschah.
Plötzlich kam ein
Junge mit einem langen Schlachtermesser aus dem Treppenhaus zur
Küche gerannt und stürzte sich auf den Herzog. Cornwall stand auf
und wollte sein Schwert zücken, doch gelang es ihm nicht, bevor der
Junge bei ihm war und ihm das Messer in die Seite stieß. Als der
Knabe ausholte, um noch einmal zuzustechen, zückte Regan einen
Dolch aus dem Ärmel ihres Kleides und stieß ihn dem Jungen in den
Hals, dann wich sie vor dem spritzenden Blut zurück. Der Junge
griff sich an den Hals und ging zu Boden.
»Verschwindet!«,
kreischte Regan und schwenkte drohend ihren Dolch nach den Dienern
auf der Küchentreppe und an der großen Tür, und sie zerstreuten
sich wie eine verschreckte Mäuseschar.
Wankend kam Cornwall
auf die Beine und stieß dem Jungen sein Schwert ins Herz. Dann
steckte er das Schwert in die Scheide zurück und betastete seine
Seite. Alles war klebrig vom Blut.
»Geschieht dir recht,
du miese Ratte«, sagte Gloucester.
Schon fiel Cornwall
wieder über ihn her. »Heraus mit dir, o fauliger Gelee!«, rief er
und wollte gerade seinen Daumen in das gesunde Auge des Grafen
drücken, als noch im selben Moment Regans Messer herabstieß und
sich in ebenjenes Auge bohrte. »Lasst mich das für Euch erledigen,
Mylord!«
Da verlor Gloucester
vor Schmerzen das Bewusstsein und hing leblos in seinen Fesseln.
Cornwall stand auf und trat dem Alten vor die Brust, dass dieser
nach hinten kippte. Der Herzog sah Regan an, mit schwärmerischem
Blick, voller Wärme und Bewunderung, wie es offenbar nur möglich
ist, wenn du siehst, wie deine Frau einem anderen ein Auge
aussticht, nur um dir behilflich zu sein.
»Eure Wunde?«, fragte
Regan.
Cornwall breitete die
Arme aus, und seine Frau trat an ihn heran, ließ sich umarmen. »Der
Dolch hat nur meine Rippen gestreift. Ich werde ein wenig bluten,
und es schmerzt, doch wenn man mich bandagiert, wird es schon nicht
tödlich sein.«
»Zu dumm«, sagte
Regan, stieß ihm das Messer unters Brustbein und hielt es fest,
während sein Herzblut über ihre schneeweiße Hand rann.
Der Herzog wirkte
irgendwie überrascht.
»Ach«, sagte er, dann
sank er zu Boden. Regan wischte ihre Klinge und die Hände an seinem
Hemd ab. Sie schob das Messer in ihren Ärmel, dann ging sie zu
jenem Kissen, unter dem Cornwall die Krone ihres Vaters versteckt
hatte, strich ihre Kapuze zurück und setzte sich die Krone
auf.
»Nun, Pocket«, sagte
die Herzogin, ohne sich zu dem Alkoven umzudrehen, in dem ich mich
versteckte. »Wie steht sie mir?«
Ich war irgendwie
überrascht (wenn auch nicht ganz so wie der Herzog).
Da entließ mich der
Geist. Ich stand hinter dem Wandteppich, mein Messer
wurfbereit.
»Du wirst schon
hineinwachsen, Täubchen«, sagte ich.
Sie sah zu meinem
Alkoven herüber und grinste. »Ja, nicht wahr? Wolltest du
irgendwas?«
»Lass den alten Mann
frei!«, sagte ich. »König Jeff von Frankreich hat seine Armee in
Dover angelandet. Deshalb hat Gloucester Lear dort hingeschickt. Es
wäre klug, ein Lager südlich davon aufzustellen. Verbinde deine
Truppen mit Edmunds und Albanys. Am White Tower
vielleicht.«
Die großen Türen
knarrten, und ein Kopf schob sich herein, ein behelmter
Soldat.
»Schickt nach einem
Arzt!«, rief Regan. Sie gab sich Mühe, erschüttert zu klingen.
»Mylord ist verletzt. Werft den Attentäter auf den Misthaufen und
jagt diesen Verräter Gloucester aus der Burg! Soll er sich den Weg
zu seinem altersschwachen König in Dover
erschnüffeln.«
Einen Augenblick
später füllte sich die Halle mit Dienern und Soldaten, und Regan
ging hinaus, wobei sie einen letzten Blick und ein verschmitztes
Lächeln auf mein Versteck warf. Ich habe keine Ahnung, warum sie
mich am Leben ließ. Wahrscheinlich weil sie mich noch immer
mochte.
Ich schlich durch die
Küche hinaus und kehrte ins Torhaus zurück.
Der Geist stand über
Drool gebeugt, der sich unter seiner Decke in eine Ecke drückte.
»Komm schon, süßer Grobian, lass uns ein bisschen
knutschen!«
»Lass ihn in Ruhe,
Wölkchen!«, rief ich, obwohl sie fast so fleischlich war wie eine
Sterbliche.
»Hab ich dir die Tour
vermasselt, Narr?«
»Vielleicht hätte ich
das Auge des alten Mannes retten können.«
»Hättest du
nicht.«
»Vielleicht hätte ich
Regan zu ihrem Herzog schicken können, in welcher Hölle er auch
schmoren mag.«
»Nein, hättest du
nicht.« Dann hielt sie einen nebulösen Finger hoch, räusperte sich
und reimte:
»Wenn aus der zweiten Schwester Spott dann
quellen
Lügen, die den Blick verstellen,
Und zerschneiden Bande, die Familien
binden,
Steht ein Irrer auf und führt den
Blinden.«
»Den hast du schon
mal gebracht.«
»Ich weiß. Da war ich
wohl etwas vorschnell. Entschuldige. Ich hoffe, du findest ihn
jetzt passender. Ich schätze, selbst ein Esel wie du müsste das
Rätsel nun lösen können.«
»Oder du könntest mir
auch einfach sagen, was es bedeuten soll«, sagte ich.
»Tut mir leid, das
darf ich nicht. Gespensterehre und so. Tschau.« Und damit
verschwand sie durch die Mauer.
»Ich hab das Gespenst
nicht gepoppt«, heulte Drool. »Ich hab sie nicht
gepoppt.«
»Ich weiß, Kleiner.
Sie ist weg. Und jetzt steh auf. Wir müssen an der Zugbrücke
runterklettern und den blinden Grafen suchen.«