18
 
Kätzchenkrallen
 
Wir schlichen in die Burg von Gloucester, was gar nicht meine Art ist, wie man sich denken kann. Ich bin eher dafür gemacht, mit ein paar Flickflacks einzutreten, einem Klapperstock, dem einem oder anderen unflätigen Geräusch und einem »Grüß Gott, Ihr Gnome!« Arsch und Zwirn, schließlich bin ich mit Glöckchen und Puppe ausstaffiert! Die ewige Rumschleicherei machte mich fertig. Ich folgte dem Grafen von Gloucester durch eine geheime Luke im Stall in einen Tunnel unter dem Burggraben. Im Dunkeln wateten wir durch wadenhohes, kaltes Wasser, dass es in meinem Schritt nur so schwappte und schwengelte. Nie im Leben würde Drool durch diesen engen Gang passen, selbst wenn ich die Finsternis mit einer Fackel vertrieb. Durch eine weitere Luke führte der Tunnel ins Kerkergeschoss. Der Graf verabschiedete sich in ebenjener Folterkammer, in der ich Regan besucht hatte.
»Ich mache mich auf den Weg und arrangiere die Reise deines Herrn nach Dover, Narr. Noch habe ich ein paar Diener, die mir treu sind.«
Ich fühlte mich Gloucester verpflichtet, weil er mir in die Burg geholfen hatte, besonders angesichts seiner einstigen Verbitterung mir gegenüber. »Haltet Euch vom Bastard fern, Hoheit! Ich weiß, er ist Euer Lieblingssohn, doch nicht zu Recht. Er ist ein Lump.«
»Würdige Edmund nicht herab, Narr! Ich weiß um deine Hinterlist. Erst gestern Abend stand er mir zur Seite, als ich dagegen protestierte, wie Cornwall den König behandelt.«
Ich hätte Gloucester von dem Brief erzählen können, den ich gefälscht hatte, von des Bastards Plan, seinen Bruder zu verdrängen, aber was konnte er schon machen? Vermutlich wäre er in Edmunds Gemächer gestürmt, und der Bastard hätte ihn auf der Stelle erschlagen.
»Nun denn …«, sagte ich. »Hütet Euch, Mylord! Cornwall und Regan sind eine vieräugige Schlange! Sollten sie ihr Gift gegen Edmund verspritzen, müsst Ihr ihn ziehen lassen. Eilt ihm nicht zu Hilfe, damit die Nattern nicht auch Euch vergiften!«
»Mein letzter, mein wahrer Sohn! Schäm dich, Narr!«, sagte der Graf. Er schnaubte verächtlich und eilte aus dem Kerker, die Treppe hinauf.
Ich dachte daran, den einen oder anderen Gott zu bitten, dass er den alten Grafen schützte, doch falls die Götter in meinem Sinne handelten, taten sie es ohnehin, und wenn sie es anders sahen, gab es keinen Grund, sie auf mich aufmerksam zu machen. Es schmerzte mich, dennoch zog ich meine Schuhe aus, nahm die Kappe ab und stopfte sie in mein Wams, damit die Glöckchen schwiegen. Jones war bei Lear in der Hütte geblieben.
Die Waschküche lag im unteren Bereich der Burg, also machte ich mich zuerst dorthin auf den Weg. Das Waschweib mit den bereits erwähnten Hupen von eindrucksvoller Überzeugungskraft hängte gerade Hemden vor dem Feuer auf, als ich eintrat.
»Wo ist Drool, Spätzchen?«, fragte ich.
»Versteckt«, sagte sie.
»Verdammt, ich weiß, dass er sich versteckt, sonst wäre die Frage ja wohl überflüssig, oder?«
»Dann soll ich ihn also einfach so verraten? Wie kann ich wissen, dass du ihn nicht meucheln willst? Der alte Ritter, der ihn hergebracht hat, sagte, niemand darf wissen, wo er ist.«
»Aber ich bin hier, um ihn aus der Burg zu schaffen. Um ihn zu retten.«
»Aye, das behauptest du, aber...«
»Hör zu, du blöde Tussi, lass den Dussel frei!«
»Emma«, sagte die Wäscherin.
Ich sank neben den Kamin und ließ meinen Kopf in die Hände sinken. »Spätzchen, ich hab die Nacht im Sturm verbracht, mit einer Hexe und zwei Hirnis. Ich habe zwei Kriege an der Backe, die sporadische Schändung zweier Prinzessinnen und die dazugehörige Hahnreiung zweier Herzöge. Ich bin zu Tode betrübt, untröstlich vom Verlust eines Freundes, und der sabbernde Trottel, der mein Lehrling ist, wandert offenbar durch diese Burg, auf der Suche nach einem Loch in der Brust. Habt Mitleid mit einem Narren, gute Frau! Der nächste dumme Spruch könnte meinen morschen Verstand in tausend Stücke schlagen.«
»Ich heiße Emma«, sagte die Wäscherin. »Ich bin hier drüben, Pocket«, sagte Drool und stand im großen Kessel auf. Er hatte einen Wäschehaufen auf dem Kopf. »Euterchen hat mich versteckt. Sie ist ein Schatz.«
»Hörst du das?«, sagte Emma. »Er nennt mich immer Euterchen.«
»Das ist ein Kompliment, Liebes.«
»Das ist respektlos«, sagte sie. »Ich heiße Emma.«
Ich werde Frauen nie verstehen. Mir schien, die Wäscherin war auf eine Art und Weise gekleidet, die ihre Brüste im wahrsten Sinne des Wortes hervorhob, wenn nicht gar feilbot – eine fest geschnürte Weste, die alles nach oben schob, bis es aus dem Ausschnitt quoll -, aber sobald einem so was auffällt, ist dieselbe Dame beleidigt. Ich werde es nie verstehen.
»Du weißt, dass er nicht mehr alle Zinnen auf dem Turm hat, oder, Emma?«
»Trotzdem.«
»Gut. Drool, entschuldige dich bei Emma dafür, dass du gesagt hast, sie hat tolle Euter.«
»Tut mir leid, das mit deinen Eutern«, sagte Drool und verneigte sich so tief, dass seine Wäsche in den Kessel fiel.
»Zufrieden, Emma?«
»Muss wohl.«
»Gut, also: Weißt du, wo Hauptmann Curan sein könnte, der Kommandant von König Lears Rittern?«
»Na klar«, sagte Emma. »Lord Edmund und der Herzog haben mich heute früh zu militärischen Problemen konsultiert, wie es so ihre Art ist – wo ich doch Waschfrau bin und Ahnung von der allerbesten Taktik und den Strategien und dem ganzen Zeug habe.«
»Vom Sarkasmus werden dir noch die Titten abfallen«, sagte ich.
»Stimmt nicht«, sagte sie und verschränkte die Arme, um ihre Brüste zu stützen.
»Das ist eine Tatsache«, sagte ich und nickte ernst, dann sah ich zu Drool hinüber, der ebenfalls ernst nickte und sagte: »Das ist eine Tatsache«, Ton für Ton mit meiner Stimme.
»Das ist echt unheimlich.« Ein kalter Schauer durchfuhr Emma. »Verschwindet aus meiner Waschküche, ihr zwei!«
»Nun gut«, sagte ich. Ich winkte Drool, er solle aus dem Kessel steigen. »Ich danke dir dafür, dass du auf unser Naturtalent aufgepasst hast, Emma. Ich wünschte, ich könnte irgendetwas …«
»Töte Edmund!«, sagte sie.
»Bitte?«
»Der Sohn eines Baumeisters wollte mich heiraten, bevor ich anfing, hier zu arbeiten. Ein angesehener Mann. Edmund nahm mich gegen meinen Willen und prahlte damit im Dorf herum. Da wollte mein Liebster mich nicht mehr. Niemand, der auch nur einen Pfifferling wert ist, will mich, nur der Bastard, und der, wann immer ihm danach zumute ist. Edmund hat befohlen, dass ich dieses ausgeschnittene Kleid trage. Er sagt, er schickt mich in den Schweinestall, wenn ich ihm nicht zu Willen bin. Töte ihn für mich!«
»Aber, Mädchen, ich bin doch nur ein Narr. Ein Clown. Und ein kleiner noch dazu.«
»An dir ist viel mehr dran, schwarzmütziger Halunke! Ich habe die Messer an deinem Rücken gesehen, und ich sehe, wer hier auf der Burg die Fäden zieht, und es ist weder der Graf, noch der alte König. Töte den Bastard!«
»Edmund hat mich gehauen«, sagte Drool. »Und sie hat echt Mördereuter.«
»Drool!«
»Hat sie aber.«
»Na gut«, sagte ich und nahm die Hand der Wäscherin. »Aber alles zu seiner Zeit. Vorher muss noch einiges passieren.« Ich verneigte mich über ihrer Hand, küsste diese, dann machte ich auf dem Absatz kehrt und tappte barfüßig aus der Waschküche hinaus, um Geschichte zu machen.
»Ficken bis zum Gehtnichtmehr«, flüsterte Drool der Wäscherin zwinkernd zu.
 
 
Ich versteckte Drool im Torhaus zwischen den schweren Ketten, die ich mir für meine Flucht zunutze gemacht hatte, als ich Lear in den Sturm hinaus gefolgt war. Den Simpel unbemerkt auf die Mauer und ins Torhaus zu bugsieren, das war keine leichte Aufgabe, und er hinterließ eine Sabberspur auf den Steinen, bis wir in den Außenbereich der Burg kamen, doch bei diesem Unwetter war die Mauer nur dünn besetzt, sodass wir sie größtenteils unbeobachtet hinter uns brachten. Meine Füße fühlten sich an, als steckten sie in Eisblöcken, als ich endlich in die Nähe eines Feuers kam, aber es ging nicht anders. Drool in diesem engen Geheimtunnel, da er sich doch im Dunkeln fürchtete... das wünschte ich nicht mal meinem ärgsten Feind. Ich fand eine Wolldecke und wickelte den Klotzkopf darin ein, damit er auf mich wartete.
»Pass auf meine Schuhe und den Ranzen auf, Drool!«
Ich machte mich auf den Weg, drückte mich in jeden Winkel, schlich durch die Küche zum Dienereingang in die Große Halle, weil ich hoffte, Regan dort zu finden. Der riesige Kamin der Halle wäre für die Prinzessin an einem derart frostigen Tag sicher verlockend, denn sosehr sie sich auch für das Treiben in der Folterkammer begeisterte, fühlte sie sich doch zum Feuer hingezogen wie eine Katze.
Da die Burg Gloucester keine äußere Ringmauer besaß, war sogar die Große Halle mit Schießscharten ausgestattet, sodass sich der Bau bei einem Angriff von allen Stockwerken aus verteidigen ließ. Die Schießscharten waren zwar mit Läden versehen, doch es zog dort wie Hechtsuppe, sodass man gegen den Wind Arazzi35 vor die Alkoven gehängt hatte – der perfekte Ort für einen Narren, wenn er jemanden beobachten, sich aufwärmen und den rechten Moment abwarten wollte.
Ich schlich mit einem Schwarm von Dienstmaiden in die Halle und stracks in den Alkoven, der dem Kamin am nächsten war. Dort saß sie am Feuer, in einem schweren, schwarzen Pelzumhang mit Kapuze, und zeigte der Welt nur ihr Gesicht.
Ich schob den Wandteppich beiseite und wollte eben etwas sagen, als die Haupttür der Großen Halle aufflog und der Herzog von Cornwall eintrat, herausgeputzt wie stets mit seinem roten Löwenwappen auf der Brust, doch unverblümt mit Lears Krone auf dem Kopf – der Krone, die der alte Mann an jenem schicksalshaften Abend im White Tower auf den Tisch geknallt hatte. Selbst Regan schien verdutzt, sie auf dem Haupt ihres Mannes zu sehen.
»Mylord, ist es denn klug, die Krone Britanniens zu tragen, solange unsere Schwester auf der Burg weilt?«
»Stimmt ja, wir müssen den Schein wahren, als wüssten wir nicht, dass Albany eine Armee gegen uns zusammenzieht.« Cornwall nahm die Krone ab und versteckte sie unter einem Kissen neben dem Kamin. »Ich will mich hier mit Edmund treffen und einen Plan für des Herzogs Absetzung schmieden. Man kann nur hoffen, dass Eure Schwester keinen Schaden nimmt.«
Regan zuckte mit den Schultern. »Wenn sie sich dem Schicksal vor die Hufe wirft – wer sind wir, sie davor zu bewahren, dass ihr Hirn zu Brei getrampelt wird?«
Cornwall schloss sie in die Arme und küsste sie leidenschaftlich.
O Mylady, dachte ich, stoßt ihn von Euch, wenn Ihr Eure Lippen nicht mit Bosheit besudeln wollt! Dann wurde mir bewusst (vielleicht später, als es hätte der Fall sein sollen), dass sie die Bosheit ebenso wenig herausschmecken würde, wie ein Knoblauchesser einen speziellen Rosenduft erkennen könnte. Ihr Atem roch schon jetzt böse.
Selbst als der Herzog sie in seinen Armen hielt und seine Bewunderung für sie bekundete, wischte sie sich den Mund hinter seinem Rücken mit dem Ärmel ab. Sie stieß den Herzog von sich, als der Bastard Edmund die Halle betrat.
»Mylord«, sagte Edmund und nickte Regan nur zu. »Wir müssen unseren Plan verschieben. Seht diesen Brief!«
Der Herzog nahm das Pergament von Edmund entgegen.
»Was?«, sagte Regan. »Was, was, was?«
»Frankreich hat Truppen angelandet. Er weiß um die Unruhen zwischen uns und Albany und hält Truppen überall an der Küste Britanniens versteckt.«
Regan riss Cornwall das Pergament aus der Hand und las es selbst. »Der Brief ist an Gloucester adressiert.«
Edmund verneigte sich mit gespielter Reue. »Aye, Mylady, ich fand ihn in seinem Schrank und brachte ihn hierher, sobald ich seines Inhaltes gewahr wurde.«
»Wache!«, rief Cornwall. Die großen Türen gingen auf, und ein Soldat lugte herein. »Bringt mir den Grafen Gloucester! Spart Euch jeglichen Respekt für seinen Titel. Er ist ein Verräter!«
Ich suchte nach einem Weg zurück zur Küche, um vielleicht Gloucester dort zu finden und ihn vor dem Verrat des Bastards zu warnen, doch Edmund stand dem Alkoven zugewandt, in dem ich mich versteckte, und so konnte ich unmöglich unentdeckt entkommen. Ich öffnete den Laden der Schießscharte. Selbst wenn ich es schaffen konnte, mich hindurchzuzwängen, fiel doch die Mauer senkrecht bis zum See hinab. Ich drückte den Holzladen zu und verriegelte ihn.
Wieder hörte ich die großen Türen und trat an den Spalt zwischen Wand und Teppich, von wo aus ich Goneril eintreten sah, gefolgt von zwei Soldaten, die Gloucester bei den Armen hielten. Der alte Mann sah aus, als hätte er schon aufgegeben, und hing wie ein Ertrunkener zwischen den Soldaten.
»Knüpft ihn auf!«, sagte Regan und wandte sich dem Feuer zu, um ihre Hände aufzuwärmen.
»Was soll das?«, sagte Goneril.
Cornwall reichte ihr den Brief und sah ihr über die Schulter, während sie las.
»Stecht ihm die Augen aus!«, sagte sie und machte sich nicht mal die Mühe, Gloucester anzusehen.
Cornwall nahm ihr den Brief sanft aus der Hand und legte brüderlich seine Hand auf ihre Schulter. »Überlasst ihn unserem Missvergnügen, Schwester! Edmund, geleitet unsere Schwester, und sorgt dafür, dass sie sicher nach Hause gelangt! Mylady, sagt Eurem Herzog, dass wir uns gegen die fremde Kriegsmacht vereinen müssen! Wir halten uns über Depeschen auf dem Laufenden! Nun eilt, edler Graf Gloucester! Ihr wollt gewiss nicht sehen, wie es dem Verräter hier ergeht.«
Edmund konnte sich sein Grinsen nicht verkneifen, als man ihm den Titel gab, nach dem es ihn schon seit so vielen Jahren gelüstete. »Das will ich tun«, sagte Edmund. Er bot Goneril seinen Arm, und sie hakte sich bei ihm ein. Dann wollten sie die Halle verlassen.
»Nein!«, rief Regan.
Alle hielten inne. Cornwall trat zwischen Regan und ihre Schwester. »Mylady, jetzt ist die Zeit gekommen, gegen die fremde Macht gemeinsam aufzustehen.«
Regan knirschte mit den Zähnen, wandte sich dem Feuer zu und winkte sie hinaus. »Hinfort mit euch!«
Edmund und Goneril verließen die Halle.
»Bindet ihn an diesen Stuhl, dann geht hinaus!«, befahl Cornwall seinen Soldaten.
Sie fesselten den alten Grafen an den schweren Stuhl und traten zurück.
»Ihr seid hier meine Gäste«, sagte Gloucester. »Lasst Gerechtigkeit walten!«
»Schmutziger Verräter!«, sagte Regan. Sie nahm ihrem Mann den Brief aus der Hand und warf ihn dem Alten ins Gesicht. Dann packte sie ein Büschel seines Bartes und riss es heraus. Der Graf schrie auf.
»Verräterisch weiß«, sagte sie.
»Ich bin kein Verräter. Ich bleibe meinem König treu.«
Noch einmal riss sie ihm ein Büschel aus. »Was für Briefe habt Ihr jüngst aus Frankreich erhalten? Was plant man dort?«
Gloucester betrachtete das Pergament am Boden. »Ich weiß nicht mehr als das.«
Cornwall stürmte auf Gloucester zu, packte ihn an den Haaren und riss den Kopf des alten Mannes zurück. »Sprecht! In wessen Hände habt Ihr den geisteskranken König gegeben? Wir wissen, dass Ihr ihm Hilfe entsandt habt.«
»Nach Dover. Ich habe ihn nach Dover geschickt. Vor ein paar Stunden erst.«
»Warum nach Dover?«, sagte Regan.
»Aasfresser!«, keuchte Gloucester hustend. »Teufelin, ich sage nichts!«
»Dann sollt Ihr das Licht der Sonne nie mehr sehen«, sagte Cornwall und stürzte sich auf den alten Mann.
Ich konnte es nicht ertragen. Ich zückte mein Messer, um es zu werfen, doch bevor es mir gelang, umfing ein Ring aus Eis mein Handgelenk, und ich sah den Geist neben mir, der meinen Wurf verhinderte und mich auch noch vollends lähmte. Nur meine Augen konnte ich bewegen und das Grauen betrachten, das in der Großen Halle geschah.
Plötzlich kam ein Junge mit einem langen Schlachtermesser aus dem Treppenhaus zur Küche gerannt und stürzte sich auf den Herzog. Cornwall stand auf und wollte sein Schwert zücken, doch gelang es ihm nicht, bevor der Junge bei ihm war und ihm das Messer in die Seite stieß. Als der Knabe ausholte, um noch einmal zuzustechen, zückte Regan einen Dolch aus dem Ärmel ihres Kleides und stieß ihn dem Jungen in den Hals, dann wich sie vor dem spritzenden Blut zurück. Der Junge griff sich an den Hals und ging zu Boden.
»Verschwindet!«, kreischte Regan und schwenkte drohend ihren Dolch nach den Dienern auf der Küchentreppe und an der großen Tür, und sie zerstreuten sich wie eine verschreckte Mäuseschar.
Wankend kam Cornwall auf die Beine und stieß dem Jungen sein Schwert ins Herz. Dann steckte er das Schwert in die Scheide zurück und betastete seine Seite. Alles war klebrig vom Blut.
»Geschieht dir recht, du miese Ratte«, sagte Gloucester.
Schon fiel Cornwall wieder über ihn her. »Heraus mit dir, o fauliger Gelee!«, rief er und wollte gerade seinen Daumen in das gesunde Auge des Grafen drücken, als noch im selben Moment Regans Messer herabstieß und sich in ebenjenes Auge bohrte. »Lasst mich das für Euch erledigen, Mylord!«
Da verlor Gloucester vor Schmerzen das Bewusstsein und hing leblos in seinen Fesseln. Cornwall stand auf und trat dem Alten vor die Brust, dass dieser nach hinten kippte. Der Herzog sah Regan an, mit schwärmerischem Blick, voller Wärme und Bewunderung, wie es offenbar nur möglich ist, wenn du siehst, wie deine Frau einem anderen ein Auge aussticht, nur um dir behilflich zu sein.
»Eure Wunde?«, fragte Regan.
Cornwall breitete die Arme aus, und seine Frau trat an ihn heran, ließ sich umarmen. »Der Dolch hat nur meine Rippen gestreift. Ich werde ein wenig bluten, und es schmerzt, doch wenn man mich bandagiert, wird es schon nicht tödlich sein.«
»Zu dumm«, sagte Regan, stieß ihm das Messer unters Brustbein und hielt es fest, während sein Herzblut über ihre schneeweiße Hand rann.
Der Herzog wirkte irgendwie überrascht.
»Ach«, sagte er, dann sank er zu Boden. Regan wischte ihre Klinge und die Hände an seinem Hemd ab. Sie schob das Messer in ihren Ärmel, dann ging sie zu jenem Kissen, unter dem Cornwall die Krone ihres Vaters versteckt hatte, strich ihre Kapuze zurück und setzte sich die Krone auf.
»Nun, Pocket«, sagte die Herzogin, ohne sich zu dem Alkoven umzudrehen, in dem ich mich versteckte. »Wie steht sie mir?«
Ich war irgendwie überrascht (wenn auch nicht ganz so wie der Herzog).
Da entließ mich der Geist. Ich stand hinter dem Wandteppich, mein Messer wurfbereit.
»Du wirst schon hineinwachsen, Täubchen«, sagte ich.
Sie sah zu meinem Alkoven herüber und grinste. »Ja, nicht wahr? Wolltest du irgendwas?«
»Lass den alten Mann frei!«, sagte ich. »König Jeff von Frankreich hat seine Armee in Dover angelandet. Deshalb hat Gloucester Lear dort hingeschickt. Es wäre klug, ein Lager südlich davon aufzustellen. Verbinde deine Truppen mit Edmunds und Albanys. Am White Tower vielleicht.«
Die großen Türen knarrten, und ein Kopf schob sich herein, ein behelmter Soldat.
»Schickt nach einem Arzt!«, rief Regan. Sie gab sich Mühe, erschüttert zu klingen. »Mylord ist verletzt. Werft den Attentäter auf den Misthaufen und jagt diesen Verräter Gloucester aus der Burg! Soll er sich den Weg zu seinem altersschwachen König in Dover erschnüffeln.«
Einen Augenblick später füllte sich die Halle mit Dienern und Soldaten, und Regan ging hinaus, wobei sie einen letzten Blick und ein verschmitztes Lächeln auf mein Versteck warf. Ich habe keine Ahnung, warum sie mich am Leben ließ. Wahrscheinlich weil sie mich noch immer mochte.
Ich schlich durch die Küche hinaus und kehrte ins Torhaus zurück.
Der Geist stand über Drool gebeugt, der sich unter seiner Decke in eine Ecke drückte. »Komm schon, süßer Grobian, lass uns ein bisschen knutschen!«
»Lass ihn in Ruhe, Wölkchen!«, rief ich, obwohl sie fast so fleischlich war wie eine Sterbliche.
»Hab ich dir die Tour vermasselt, Narr?«
»Vielleicht hätte ich das Auge des alten Mannes retten können.«
»Hättest du nicht.«
»Vielleicht hätte ich Regan zu ihrem Herzog schicken können, in welcher Hölle er auch schmoren mag.«
»Nein, hättest du nicht.« Dann hielt sie einen nebulösen Finger hoch, räusperte sich und reimte:
»Wenn aus der zweiten Schwester Spott dann quellen
Lügen, die den Blick verstellen,
Und zerschneiden Bande, die Familien binden,
Steht ein Irrer auf und führt den Blinden.«
»Den hast du schon mal gebracht.«
»Ich weiß. Da war ich wohl etwas vorschnell. Entschuldige. Ich hoffe, du findest ihn jetzt passender. Ich schätze, selbst ein Esel wie du müsste das Rätsel nun lösen können.«
»Oder du könntest mir auch einfach sagen, was es bedeuten soll«, sagte ich.
»Tut mir leid, das darf ich nicht. Gespensterehre und so. Tschau.« Und damit verschwand sie durch die Mauer.
»Ich hab das Gespenst nicht gepoppt«, heulte Drool. »Ich hab sie nicht gepoppt.«
»Ich weiß, Kleiner. Sie ist weg. Und jetzt steh auf. Wir müssen an der Zugbrücke runterklettern und den blinden Grafen suchen.«
Fool: Roman
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