20
Nach ihrer Rückkehr ins Benedict’s gelangte Clarice, die in ihren Domino gewickelt war, um das zerrissene Oberteil zu verdecken, unbemerkt zu ihren Zimmern.
Sie warf ihren Domino über einen Stuhl, ging zu einem der weich gepolsterten Sessel vor dem Kamin und ließ sich darauf fallen. Sie lehnte sich erschöpft zurück, innerlich noch immer zitternd. Ein Feuer brannte im Kamin; sie beugte sich vor und hielt ihre kalten Hände vor die Flammen.
»Ich denke, Moira steckt dahinter.«
»Moira?« Jack war auf der Türschwelle stehen geblieben; sie konnte seinen Blick auf sich spüren. »Nicht der Henker des Verräters?«
»Höchstens wenn der Henker des Verräters Freunde von Moiras Töchtern dazu bewegen kann, ihm zu helfen.« Sie faltete die Hände und starrte in die Flammen. »Mir ist gerade wieder eingefallen, wo ich den Mann und die Frau vorher schon einmal gesehen habe. Sie waren mit Hilda und Mildred vor ein paar Tagen in der Bond Street.«
Wie Moira lachen würde, wenn sie merkte, wie gut ihr Racheplan aufgegangen war. Clarice war vor dem Unsäglichen gerettet worden, das Moira sich für sie ausgedacht hatte, dafür hatte man sie aber in einer viel skandalöseren Situation ertappt als damals vor sieben Jahren.
Glücklicherweise war sie nicht länger zweiundzwanzig, und ihr Vater war tot.
Jack stand plötzlich neben ihr.
»Hier.«
Sie blickte hoch. Er hielt ihr ein Glas Brandy hin. Sie nahm es entgegen, lehnte sich zurück und nippte daran. Die feurige Flüssigkeit rann ihr durch die Kehle, breitete sich in ihr aus und vertrieb die eisige Kälte, die sich in ihrem Magen geballt hatte.
Einen Moment lang stand Jack da, trank von seinem Brandy und blickte in die Flammen. Dann setzte er sich in den anderen Lehnstuhl. Die Unterarme auf die Knie gestützt hielt er den Brandyschwenker in den Händen, hob den Kopf und erwiderte ihren Blick. »Wir müssen reden.«
Innerlich erstarrte sie und nahm noch einen Schluck Brandy. »Worüber?«
Sein Blick ruhte weiter auf ihrem Gesicht.
»Über die neue Situation.«
Sie unterdrückte den Drang zu fragen: »Welche Situation?« Aber sie konnte in dem Ausdruck seiner haselnussbraunen Augen erkennen, dass er es nicht zulassen würde, dass sie dem Thema auswich. »Was genau meinst du?«
Er zögerte. Sie bemerkte, dass er nach Worten suchte.
»Trotz des Wunschdenkens unserer Unterstützer, egal, was die Leute nun tatsächlich gesehen haben oder nicht, sie haben jedenfalls genug gesehen. Gleichgültig, wie sehr alle es auch abstreiten, die Wahrheit wird sich nicht leugnen lassen.«
Er machte eine Pause, dann holte er tief Luft. Sie wünschte, sie könnte die Diskussion abkürzen, seine Worte abtun und einfach wegschauen, aber sie konnte ihre Augen nicht von ihm losreißen, von dem Gesicht, das sie nun so gut kannte.
»Innerhalb der ton … gibt es gewisse Regeln. Wir halten vielleicht wenig von ihnen, aber es gibt sie trotzdem. Wenn wir ein Teil dieser Gesellschaft bleiben wollen, der Kreise, in die wir hineingeboren wurden, dann müssen wir uns ihren Regeln beugen.«
Eine noch viel durchdringendere Kälte breitete sich in ihr aus. Sie hielt eine Hand hoch, um zu verhindern, dass er weitersprach.
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »Nein, lass mich ausreden. Du hast dir deine Stellung in der Gesellschaft zurückerobert, dich behauptet. Man war bereit, dich wieder in Ehren aufzunehmen, dich willkommen zu heißen und dir die Stellung zurückzugeben, die du früher innehattest, vielleicht auch, um Moira loszuwerden. Mit der Zeit ist Gras über die alten Geschichten gewachsen, und die vornehme Welt ist einmal mehr deine Welt. Mit deinem wiedergewonnenen Ansehen kannst du einiges tun, um deinen Brüdern zu helfen und eine Grundlage für die nächste Generation deiner Familie zu schaffen – ein lobenswertes Ziel, das ich verstehen und nachvollziehen kann.« Seine Stimme wurde härter. »Aber um in der Gesellschaft zu bleiben, musst du dich in der Stellung behaupten, die du zurückerobert hast. Du musst den bevorstehenden Skandal nicht nur überstehen, du musst ihn zermalmen.«
Er verstummte. Sie konnte immer noch nicht den Blick von ihm abwenden. »Ich weiß, es ist nicht das, was du dir wünschst, aber … wenn du es willst, heirate ich dich. Wenn wir uns darauf einigen zu heiraten, wird es keinen Skandal geben, und du wirst alles erreichen können, was du dir in der Gesellschaft nur wünschen kannst.«
Sie fragte sich, was er wohl sah, als er ihr forschend in die Augen schaute, dann verstärkte er sachte den Druck um ihre Hand.
»Es ist deine Entscheidung.« Seine Lippen verzogen sich leicht ironisch. »Aber du musst die Entscheidung treffen. Jetzt. Heute Abend.«
Sie blinzelte und versuchte, klar zu denken.
Ich weiß, es ist nicht das, was du dir wünschst.
Er irrte, er irrte sich so sehr. Ihn zu heiraten war genau das, was sie sich wünschte – wenn sonst nichts klar war, das wusste sie. Aber nicht so. Niemals.
Das hier war ein Albtraum, der Wirklichkeit wurde, nicht nur für sie, sondern auch für ihn.
»Nein.« Jetzt drückte sie seine Hand. Sie war dankbar für die Berührung. Als sie ihm in die Augen sah, erkannte sie, wie nahe sie sich gekommen waren, dass es nicht möglich war, dass sie einfach für sie beide eine Entscheidung treffen konnte.
Es war nicht leicht, die Schutzschilde zu senken, ihm fest in die Augen zu blicken, damit er sehen konnte, was sie empfand und warum. Sie schluckte und fand ihre Stimme wieder. »Vor sieben Jahren habe ich mich geweigert, zu heiraten und mir von der ton mein Leben diktieren zu lassen. Das war damals die richtige Entscheidung… und jetzt ist diese Entscheidung umso richtiger. Wir sind beide beinahe Opfer von jemandem geworden, der eben diese Regeln ausnutzen wollte, um uns zu kontrollieren und zur Heirat zu nötigen. Du weißt und ich weiß, wie wir beide uns dabei gefühlt haben, was wir über eine Hochzeit unter solchen Umständen denken, vor allem wenn man unter Druck gesetzt wird. Sich jetzt genau diesen Regeln zu beugen, uns das anzutun … nein. Ich werde dich nicht opfern oder mich, weder ihren falschen Göttern noch ihrer Arroganz.«
»Aber …«
»Nein, lass mich ausreden.« Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich habe meinen Brüdern gesagt, dass ich nicht in den Schoß der Familie zurückkehren wollte, nicht in das Leben der vornehmen Kreisen. Ich möchte nicht auf Dauer die tonangebende Frau der Familie sein.« Sie legte den Kopf schief und musterte sein Gesicht, versuchte, in seinen Augen zu lesen. »Ich denke nicht, dass sie mir geglaubt haben, oder, um genauer zu sein, sie bilden sich ein, sie könnten mich umstimmen. Ich bin mir auch nicht sicher, dass ich dich überzeugen konnte.«
Sie verzog die Lippen zu einem kleinen selbstironischen Lächeln, lehnte sich im Stuhl zurück, ließ seine Hand aber nicht los. »Du weißt, ich ändere nur selten meine Meinung, und bei diesem Thema werde ich es nie tun. Sobald der große Verlobungsball meiner Brüder vorbei ist, bin ich fest entschlossen, ins Pfarrhaus von Avening zurückzukehren. Die ton wird es nicht verstehen, aber das müssen die Leute auch nicht. Es ist das, was ich will, wo ich sein möchte, und das ist alles, worauf es ankommt.«
Er sagte eine Weile nichts, dann strich er ihr über die Hand. »Du kehrst einer Gesellschaft den Rücken, für die andere Damen über Leichen gingen.«
»Vielleicht. Aber anders als sie kenne ich den wahren Wert dessen, was ich ablehne, und den Wert dessen, was ich dafür bekomme.«
Dich. Eine andere Art von Leben – ein wesentlich erfüllteres Leben.
»Es gibt Zeiten, da fällt es mir schwer, dich zu begreifen.«
Sie lächelte, aber es war ein schwacher Versuch.
»Macht nichts.« Er verstand nicht, dass sie ihn von ganzem Herzen liebte, aber das hatte sie ja auch erst gerade herausgefunden, und sie wusste nicht, was er für sie empfand. Sie hatte keine Ahnung, ob sich je mehr aus ihrer Beziehung entwickeln würde; sie konnte nur hoffen. Sie waren beide komplizierte Menschen mit komplizierten Beweggründen, die für den jeweils anderen niemals einfach zu erkennen sein würden. Es sei denn, sie sprachen darüber.
Und als sie ihm in die inzwischen so vertrauten haselnussbraunen Augen schaute, war sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht mutig genug, auszusprechen, klipp und klar zu sagen, was sie fühlte.
Irgendwann später, aber nicht heute Abend.
Die Erkenntnis war noch zu neu, ihre Gefühle waren noch zu frisch, wühlten sie zu sehr auf.
Sie hatte nicht damit gerechnet, sich so rettungslos zu verlieben.
Sanft löste er sich von ihr und stand auf. Er nahm die beiden leeren Brandygläser und stellte sie auf das Kaminsims. Dann schaute er sie an. Musterte ihre Augen, ihr Gesicht.
»Wenn du dir sicher bist …«
»Das bin ich.« Sie hielt ihm die Hände hin, und er fasste sie, zog sie auf die Füße.
Einen Moment lang standen sie sich von Angesicht zu Angesicht dicht gegenüber. Sie lächelte, nahm wieder seine Hände und führte ihn in ihr Schlafzimmer.
In der Kühle der Nacht, in den weichen Kissen ihres Bettes, gewann trotz ihrer Vertrautheit etwas anderes die Oberhand. Als ob sie durch ihre Ablehnung seines überstürzten Heiratsantrages die Grenzen des geregelten Lebens hinter sich gelassen und sich von allen Hemmnissen befreit hätten.
Sodass er sie ungehemmter liebte und sie darauf nicht nur mit Leidenschaft reagierte, sondern mit einer restlosen Hingabe, die viel tiefer reichte und unendlich viel mehr bedeutete. Wie gewöhnlich wechselten sie sich ab, mal übernahm sie die Führung, mal er. Als sie wieder an der Reihe war, verwöhnte sie ihn, was bei ihm nicht nur ein Gefühl körperlicher Lust auslöste, sondern tiefer drang und all seine Gefühle ergriff.
Es begann harmlos, eine Berührung, ein Seufzen, ein Kuss. Aber dann gewann das Verlangen die Oberhand, erfasste sie und wirbelte sie umher, bis sie brannten, nicht schnell und wild, sondern hell und beständig. Sie beide wollten mehr, brauchten mehr und nahmen mehr. Und gaben einander mehr.
Die Schatten der Nacht umfingen sie, und in der süßen Dunkelheit fand sie in seinen Armen schließlich das, was sie nie zu finden für möglich gehalten hatte, wozu sie bestimmt war. Alles, wozu sie bestimmt war.
Ihr Herz stieg in ungeahnte Höhen, und es kümmerte sie nicht länger, ob er ihr das Herz brechen würde. Denn sie konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als hier zu sein, zusammen mit ihm.
Und sie wusste, dass sie ihn liebte.
Jack erwachte in den frühen Morgenstunden. Die Welt war noch in Dunkelheit gehüllt, und es war ganz still, als hielte die Welt den Atem an. Hier im Bett herrschte Friede und eine tröstende angenehme Wärme.
Neben ihm schlief Clarice tief und fest, eine Hand auf seiner Brust, während er das sanfte rhythmische Heben und Senken ihres Brustkorbs verfolgte. Eingehüllt von ihrer tröstlichen Nähe lag er da, ganz entspannt, und zog Bilanz.
Sie hatte sich geweigert, ihn zu heiraten.
Rein verstandesmäßig betrachtet, müsste er sich abgewiesen fühlen, niedergeschlagen sein. Stattdessen fühlte er sich, als ob sie einem tückischen Hindernis, das das Schicksal ihnen in den Weg gelegt hatte, erfolgreich ausgewichen wären und es überwunden hätten. Als ob sie triumphiert hätten.
Sie hatte ihn abgewiesen, aber er verstand die Gründe dafür. Er hatte nicht auf diese Weise um ihre Hand anhalten wollen, hatte sich aber dazu verpflichtet gefühlt.
Und sie hatte ihn ablehnen müssen.
Irgendwie hatte sein Antrag und dass sie Nein gesagt hatte sie befreit, das Netz gesellschaftlicher Vorschriften durchtrennt und alle übrigen Zweifel aus seinem Kopf vertrieben.
Der Weg war klar vorgezeichnet, und er war sich so sicher wie nie zuvor, dass er ihm folgen würde.
Es war Zeit zu handeln. Den Augenblick zu nutzen. Das sagte ihm sein kriegerischer Instinkt.
Er schaute zu Clarice, ließ seinen Blick über sie wandern, ihre schönen Züge, entspannt im Schlaf, dann löste er sich behutsam von ihr, ohne sie zu stören, und schlüpfte aus dem Bett.
Er fand seine Hosen und sein Hemd, ging lautlos in den Salon nebenan und zog an der Klingelschnur. Als der müde wirkende Lakai aus dem Nachtdienst an die Tür klopfte, trug er ihm auf, die Schachtel zu holen, die er bei dem Portier hinterlegt hatte.
»Boudicca, Boudicca, wach auf.«
Clarice wurde von seinem Flüstern geweckt, spürte federleichte Küsse, die wie Regentropfen auf ihre Haut fielen. Ein Regenschauer aus seidiger Weichheit, Liebkosungen, die so zart waren, dass sie sie kaum wahrnahm.
Noch bevor sie die Augen öffnete, bemerkte sie den Duft, und eine flüchtige Erinnerung blitzte auf; sie war wieder in Avening, in der Laube, genoss Nächte voller Leidenschaft, nichts konnte sie davon abhalten, nichts bereitete ihr Sorge.
Sie öffnete die Augen und sah, wie Jack sich über sie beugte. Seine Hand schien über ihr zu schweben, und es regnete Apfelblüten auf ihre bloße Brust herab. Sie drehte sich zu ihm auf den Rücken und schaute sich um.
Entdeckte, dass sie in einem Meer aus Apfelblüten lag.
Sie blickte ihm in die Augen, als er zurückrutschte und sie betrachtete.
Seine Lippen verzogen sich.
»So sehe ich dich … so will ich dich sehen. Meine Kriegerkönigin nackt auf einem Bett aus Apfelblüten.«
Die Decken lagen zu ihren Füßen. Die rosa-weißen Blütenblätter waren überall, auf ihr, unter ihr; sie klebten an ihrer Haut, bei ihm waren es weniger, da seine Haut behaart war. Aber als er sie berührte, streichelte, ihre Formen mit den Händen nachfuhr und Hitze sich über ihre Haut ausbreitete, stieg der betörende Duft der Blütenblätter auf, bis sie die Augen schloss und meinte, wieder in Avening zu sein.
Sie seufzte, als er mit seinen Händen über ihre Haut strich.
Dann schlug sie die Augen wieder auf und öffnete den Mund – er beugte sich vor und küsste sie, fuhr mit seiner Zunge in ihren Mund. Er schob sich weiter über sie, spreizte ihre Schenkel und berührte sie, liebkoste sie, bis sie seufzte und losließ.
Ihn gewähren ließ.
Zuließ, dass er ihre Beine anhob und sie sich um die Hüften legte und sich tief in sie stieß. Sie ließ sich von ihm ausfüllen und in Besitz nehmen, ganz und gar.
Zum ersten Mal versuchte sie nicht, ihm die Zügel aus der Hand zu nehmen, sondern ließ ihn tun, was er wollte, er sollte ihr zeigen, was er wollte. Ohne Zögern gab sie sich in seine Hände und überließ sich seinen Vorstellungen, seinen Wünschen.
Der Morgen brach an und goss sein sanftes Licht über sie.
Den Kopf nach hinten in den Nacken gelegt, bog sie sich ihm entgegen, während er sie liebte, sie zu dem lockenden Kamm ihrer sinnlichen Welle trieb; sie klammerte sich an ihn, schluchzte und keuchte, während er sie küsste, gab ihm alles, was er von ihr wollte, nahm alles, was er ihr im Gegenzug bot. Und spürte tief in sich eine Hoffnung aufkeimen und sich entfalten, sah vor sich eine Landschaft, neu und frisch, gefüllt mit Möglichkeiten, mit Verheißungen.
Mit Liebe.
Es war ein Land, das sie besitzen konnten, wenn sie es wollten.
Die Welle brach; sie hielten einander beinahe verzweifelt, während die Ekstase sie durchtoste, sie in den Himmel hob und zerbersten ließ, um sie am Ende neu zu erschaffen.
Sie verschmolz sie zu etwas vollkommen Neuem. Sie verfügte nicht über die Worte, es auszudrücken, aber sie erkannte es mit ihrem Herzen.
Wusste, dass sie nie wieder dieselben wie zuvor sein würden.
Die Welle sinnlicher Freude zog sich zurück wie ein verklingender Seufzer und ließ sie befriedigt, ermattet und eng umschlungen im zerwühlten Bett zurück.
In einem Meer aus Apfelblüten.
Von Liebe eingehüllt.
Sie schwebte, schlief aber nicht, war zu glücklich, zu energiegeladen.
Wie konnten Apfelblüten nur so viel bedeuten?
Wie konnte ein schlichtes Vereinen ihrer Körper so bedeutsam sein? So erschütternd machtvoll?
Sie kannte die Antworten. Es waren weder die körperlichen noch die sinnlichen Verbindungen, die sie eingegangen waren, sondern das, was daraus entstand, wofür die Blüten und der Liebesakt standen, was sie zum Ausdruck brachten.
Gemeinsame Aufgaben, gemeinsame Ziele, gemeinsam Erreichtes, gemeinsame Erfolge, gemeinsame Freude. All, was ein erfülltes gemeinsames Leben ausmachte.
Dafür, das wusste sie, war sie geschaffen, darauf hatte sie all die Jahre gewartet.
Sein Leben mit ihm zu teilen, deswegen war sie hier, und ihm stand ein rechtmäßiger Platz in ihrem Leben zu.
Sie lag auf dem Rücken, strich mit den Fingern leicht durch sein Haar, während er ausgestreckt halb auf ihr lag, sein Kopf ruhte auf ihrem Busen. Sie blinzelte und sah ihn mit schmalen Augen an.
»Wie hast du mich vorhin genannt?«
Er ließ seine Augen geschlossen, aber sie spürte an ihrer Haut, wie seine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen. »Boudicca.« Nach einem Moment fügte er hinzu: »Das ist mein Spitzname für dich.«
Sie starrte ihn an, war sprachlos, unsicher, wie sie darauf regieren sollte, was sie darauf erwidern sollte.
Offenbar erkannte er, dass ihm etwas gelungen war, was nur wenigen vor ihm geglückt war, denn er öffnete die Augen und hob den Kopf, um so ihren sprachlosen Gesichtsausdruck besser betrachten zu können.
Was sie in seinen Augen sah, der sanfte Schein, der in dem Goldgrün schimmerte, erstaunte sie nur noch mehr, raubte ihr einmal mehr die Sprache.
Sie wusste, was er war, hatte es immer schon gewusst, hatte die stählerne Härte, seine Schutzschilde wahrgenommen. Dass er so verwundbar sein könnte und sich für sie öffnete – dass er sie Boudicca nennen würde, seine Kriegerkönigin –, das nahm ihr schlicht den Atem.
Er nahm ihre Hand und berührte mit den Lippen die Fingerspitzen.
Die Berührung holte sie zurück, half ihr, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Sie blinzelte erneut und runzelte leicht die Stirn.
»Boudicca wurde in Blau gemalt.«
Immer noch lächelnd schüttelte er den Kopf.
»Nein, Blau ist nichts für dich – Rosa und Weiß. Wenn du etwas brauchst, um deine Nacktheit zu bedecken«, er betrachtete ihren Busen, »können es nur Apfelblüten sein.«
Auf seinem Gesicht zeigte sich ein selbstzufriedener, durch und durch männlicher Ausdruck. Sie konnte nicht anders – sie lachte.
Sah als Antwort darauf auch ein Lachen in seinen Augen aufblitzen, wusste, das war die richtige Reaktion gewesen, mehr brauchte es nicht.
Sie zog sein Gesicht zu sich und küsste ihn. Er erwiderte ihren Kuss.
Schließlich löste er sich von ihr.
»Es ist bereits Morgen. Ich muss gehen.«
Sie blickte in seine Augen.
»Bleib.«
Er betrachtete ihr Gesicht forschend, zögerte und schnitt eine Grimasse.
»Nein, noch nicht. Nicht, bis das alles hier vorbei ist.«
Sie seufzte und ließ ihn gehen. Seine Miene war entschlossen; er war wieder ganz der Krieger. Es war seine Aufgabe, ihren Ruf zu schützen, oder wenigstens sah er es so.
Während sie umgeben von Apfelblüten dalag und sie auf ihrer Haut spürte, schaute sie zu, wie er sich ankleidete, und wusste, sie würde niemals wollen, dass er sich änderte.
»Ich werde nachher in deinen Club kommen. Vermutlich willst du dich da mit deinen Kameraden treffen.«
Er schaute sie an, nickte. Dann kehrte er zum Bett zurück, küsste sie leidenschaftlich und schlüpfte aus dem Zimmer, während sich in ihrem Kopf noch alles drehte.
Als sie um elf Uhr im Club eintraf, blickte sie in ernste Gesichter.
»Ein paar Kahnführer, die ich angeheuert hatte, haben Humphries’ Leiche gefunden, sie wurde mit der Morgenflut an Land gespült.« Jack blickte Christian und Deverell an, dann drehte er sich zu Clarice zurück. »Wir – du und ich – sollten die Nachricht dem Bischof überbringen.«
Clarice nickte.
»In der Zwischenzeit«, sagte Christian mit ausdrucksloser, stahlharter Stimme, »werden wir unsere Quellen anzapfen und Tristan dazu bewegen, dasselbe zu tun. Jemand hat vielleicht Humphries bei den Docks am Ufer oder an einer der Brücken gesehen. Vielleicht fällt jemandem noch etwas ein, jetzt, da wir wissen, worauf wir uns konzentrieren müssen.«
Ernst und fast feierlich trennten sie sich. Jack half Clarice in Altons Kutsche, dann fuhren sie zum Lambeth Palace. Nachdem sie ins Innere des Bischofssitzes vorgelassen worden waren, mussten sie über eine Stunde warten. Der Bischof, der Dekan und Diakon Olsen waren in der Kathedrale zu einem Gottesdienst.
Schließlich kehrte der Dekan zurück. Als er ihre Nachricht vernommen hatte, trübte sich seine Miene ein, aber er organisierte rasch eine Privataudienz beim Bischof.
Seine Lordschaft war entsetzt. Jack erkannte, dass, egal wie oft man ihm erklärt hatte, dass Humphries in ein gefährliches Spiel hineingezogen worden war, der Bischof bis zu diesem Augenblick nicht begriffen hatte, dass es sich um ein Spiel auf Leben und Tod handelte.
»Ich … ach du lieber Himmel!« Mit bleichem Gesicht starrte der Bischof ihn an. »Wie …? Was ist passiert?«
»Es scheint, dass er einen Schlag auf den Kopf erhalten hat, sodass er das Bewusstsein verlor, und dann ins Wasser gestoßen wurde. Er ist sicher schnell ertrunken.«
Der Bischof schaute Clarice an. Obwohl sie blass war, hielt sie sich besser als er. Dass sie so gefasst war, schien ihm zu helfen.
»Ja, nun, wir werden natürlich das tun, was notwendig ist. Wenn Sie den Leichnam hierher bringen lassen …«
Es klopfte an der Tür. Der Bischof runzelte die Stirn. »Was ist?« Sein Ton war mürrisch; er war zutiefst erschüttert.
Olsen steckte den Kopf zur Tür herein.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Mylord, aber für Lord Warnefleet ist eine Nachricht eingetroffen.«
Jack durchquerte das Zimmer. Er nahm die Nachricht entgegen, betrachtete das Siegel und brach es. Er sah den Bischof an. »Es ist von Christian Allardyce-Dearne.«
Der Bischof blickte ihn verwundert an.
»Er gehört auch zu Ihnen?«
Jack antwortete darauf nicht, sondern überflog den Inhalt der Nachricht. Dann drehte er sich zu den anderen um, die schweigend dastanden.
»Vor zwei Tagen wurde Humphries gesehen, wie er abends am Themse-Ufer in der Nähe der Tower Bridge entlangging. Er befand sich in Begleitung eines Mannes – groß, schlicht gekleidet, mit einem bleichen rundlichen Gesicht.« Er hob den Blick.
Clarice schaute ihn an.
»Das ist der Mann, der Informant und Kurier, über den wir die ganze Zeit immer wieder stolpern.«
Jack nickte.
»Aber… warum den armen Humphries umbringen?« Der Bischof wirkte verwirrt.
»Vermutlich weil Humphries diesen Mann zu gut kannte und ihn identifizieren konnte.« Jack seufzte. »Ich nehme an, wir sind mit unseren Ermittlungen in eine Sackgasse geraten. Es sei denn, wir finden Hinweise in Humphries’ Zimmer?«
Er schaute Olsen und den Dekan an, beide schüttelten ihre Köpfe.
»Als er nicht zurückkam«, erklärte der Dekan, »haben wir überall gesucht, in der Hoffnung, einen Hinweis auf einen Treffpunkt zu finden, eine Adresse oder wie er mit dieser Person in Kontakt treten konnte, aber in Humphries’ Papieren war nichts darüber zu finden.«
Jack schnitt eine Grimasse.
»Das ist Standard. Bloß nichts aufschreiben.«
Ein Moment verstrich, während sie sich mit dem Umstand abzufinden versuchten, dass Humphries nicht nur tot war, sondern dass sein Mörder höchstwahrscheinlich seiner gerechten Strafe entkommen würde.
Clarice rührte sich.
»Was ist mit der Anklage gegen James?«
Der Bischof blinzelte verwirrt, sah sie an und winkte ab. »Betrachten Sie sie als nichtig.« Er schaute Clarice an. »Ich bin überaus froh, dass ich James verboten habe, Avening zu verlassen. Schlimm genug, dass ich einen guten Mann verloren habe bei dieser… dieser Scharade, die sich jemand ausgedacht hat. Wenn ich auch James verloren hätte, wäre ich zutiefst betrübt. Ich werde ihm auf jeden Fall schreiben, aber ich wäre Ihnen sehr zum Dank verpflichtet, wenn Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, mitteilen könnten, dass er sich auf meine weitere Unterstützung verlassen kann. Und dass wir uns freuen, ihn hier zu sehen, wenn er das nächste Mal für seine Studien in die Hauptstadt reist.«
»Gewiss, Mylord.« Clarice knickste.
Jack verneigte sich.
»Wenn Sie uns nun bitte entschuldigen wollen, Mylord, ich glaube, wir sollten diese Information ohne weitere Verzögerung Whitehall mitteilen.«
Der Bischof bedankte sich erneut und entließ sie.
Olsen und der Dekan folgten ihnen. Jack versicherte ihnen, dass Humphries’ Leichnam in Kürze in den Palast gebracht werden würde. Teddy erschien, als sie die Eingangshalle durchquerten, und sprach kurz mit Clarice. Er stand zusammen mit dem Dekan und Olsen auf der Treppe, während Jack Clarice in die wartende Kutsche half. Dann verabschiedete sich Jack von den drei Männern und folgte ihr. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und die Kutsche rollte gemächlich über die Auffahrt des Bischofssitzes.
Whitehall lag nicht weit entfernt.
Clarice hatte freilich nicht die Absicht, in der Kutsche zu warten, während Jack mit Dalziel sprach. Jack war sich sicher, dass sie einen weiteren Blick auf seinen geheimnisumwitterten ehemaligen Vorgesetzten werfen wollte. Und er sah keinen Grund, ihr das zu verwehren. Vielleicht half es ihrer Erinnerung auf die Sprünge und ihr fiel wieder ein, wer Dalziel in Wahrheit war.
Er führte sie in das verwinkelte Gebäude zu dem Vorzimmer, durch das man in Dalziels Büro gelangte. Dem unauffälligen Schreiber nannte er seinen Namen, aber der schien dem Mann nichts zu sagen. Während der Angestellte ging, um seinen Herrn zu fragen, ob er Jack vorlassen solle, überlegte dieser, ob Dalziel seine Schreiber eigentlich mit Absicht regelmäßig auswechselte. Es war nie derselbe.
Der Mann kam unverzüglich zurück.
»Er empfängt Sie, aber die Dame soll bitte hierbleiben.«
Jack wusste anhand der Art und Weise, wie der Schreiber sich wand, dass Clarice ihn mit schmalen Augen musterte. Ehe sie den armen Kerl auseinandernehmen konnte, drückte er ihr die Hand.
»Lass nur, das nützt nichts. So ist er nun einmal – für ihn gelten seine eigenen Gesetze. Warte hier, es wird nicht lange dauern.«
Er ließ sie stehen und ging zu Dalziels Büro, hörte, wie sie sich halblaut über das eingebildete Benehmen der Sprösslinge adeliger Familien beschwerte, zu denen sie ja selbst gehörte. Er musste lächeln, als er Daziels Schreiber über den kurzen Korridor folgte. Der Mann ließ ihn eintreten, dann entfernte er sich und schloss die Tür.
Dalziel erhob sich von dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Er reichte Jack die Hand, die dieser ergriff und schüttelte. Es war eine höfliche Geste, auf die sie bislang verzichtet hatten, aber Jack war jetzt nicht mehr einer von Dalziels Untergebenen. Jetzt waren sie mehr oder weniger gleichgestellt, Gentlemen, die dabei waren, die letzten noch offenstehenden Probleme eines Jahrzehnte dauernden Krieges zu lösen.
Dalziels Blick glitt über Jacks Gesicht, sobald er das Zimmer betrat. Jetzt winkte er ihn zu dem Stuhl vor dem Schreibtisch und setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Ich nehme an, Sie haben keine guten Neuigkeiten?«
Jack verzog das Gesicht.
»Humphries’ Leichnam wurde heute Morgen in den Marschen bei Deptford an Land gespült.«
Dalziel fluchte wortgewaltig. Er starrte zur Decke empor. »Wissen wir irgendetwas über den Mann, der dafür verantwortlich ist?«
Jack erzählte, was sie herausgefunden hatten. »Es ist also derselbe Mann.«
Dalziels dunkle Augen richteten sich auf Jack. »Kein Anzeichen auf irgendjemand anderes?«
»Nein.« Jack betrachtete Dalziels unergründlichen Gesichtsausdruck, dann fragte er kühn: »Haben Sie eine Ahnung, wer der echte Verräter ist?«
Dalziel erwiderte seinen Blick einen Moment lang, ehe er antwortete.
»Ich weiß nicht, wer es ist, aber mittlerweile, worum es geht. Dieser Vorfall wird uns leider nicht zu dem Mann führen – dazu ist er zu gerissen. Wer auch immer dieser Fremde ist, er ist bestimmt nicht der kluge Kopf des Ganzen. Dennoch, diese Scharade hat uns gezeigt, dass unser Verräter sich bestens mit den Verstrickungen in der Regierung auskennt, dem Gerichtssystem und der Gesellschaft. Er hat nur einen Fehler gemacht – sich James Altwood als Opfer auszuwählen, der Sie kannte, und das wusste er nicht. Deshalb haben wir uns in einem so frühen Stadium auch sicher sein können, dass James keine Schuld trifft, und uns blieb genug Zeit, um Gegenmaßnahmen zu ergreifen.«
Dalziel schauderte. »Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn die Anschuldigungen zu einem Gerichtsverfahren geführt hätten. Das Scheitern des Falles wäre so aufsehenerregend gewesen, dass es jegliche Chance, den letzten Verräter jemals vor Gericht zu bringen, zunichtegemacht hätte.« Er schwieg, dann fügte er hinzu: »Seine eigene Sicherheit zu gewährleisten, das steckte hinter dieser Scharade. Wer auch immer es ist, er wusste bis ins letzte Detail genau, was er da tat. Natürlich hat er nicht damit gerechnet, dass er scheitern könnte.« Dalziels Miene veränderte sich kaum merklich. Er schaute Jack an. »Durch die Schwierigkeiten, die aufgetreten sind, haben wir gelernt, dass es den letzten Verräter tatsächlich gibt. Bis jetzt ist er kaum mehr als ein Schatten gewesen, jemand, den es geben musste, für dessen Existenz aber jeder Beweis fehlte. Ich hatte nur einen instinktiven Verdacht. Aber jetzt wissen Sie, Dearne, Deverell, Trentham und ich, dass es den Verräter tatsächlich gibt.«
Jack neigte den Kopf.
»Stimmt. Obwohl wir also das Scharmützel gewonnen haben, bringt uns das nicht mehr als ein paar weitere Informationen.«
Dalziel lächelte.
»Sehr treffend formuliert.« Er dachte einen Moment nach. »Eine letzte Sache noch. Hat irgendjemand einen Blick auf diesen Fremden werfen können?«
»Anthony Sissingbourne – er hat das Gesicht des Mannes kurz aus der Nähe gesehen. Und Lady Clarice Altwood – sie hat ihn aus größerer Entfernung beobachtet, kann aber seinen Gang beschreiben, seine Art, sich zu bewegen.« Jack zögerte, dann fügte er hinzu: »Lady Clarice wird eher als Anthony in der Lage sein, den Mann wiederzuerkennen.«
Dalziel nickte.
»Es wäre die Mühe wert, die Ausländer einmal einer genaueren Prüfung zu unterziehen, von denen man weiß, dass die Beschreibung auf sie zutrifft. Ich denke da an die Männer, die in den Botschaften, Konsulaten und verschiedenen diplomatischen Posten ein- und ausgehen und so weiter. Wenn wir dabei auf irgendwelche Kandidaten stoßen, die infrage kämen, werden wir vielleicht Lady Clarice’ Hilfe benötigen.«
Mit ausdrucksloser Miene schaute Dalziel Jack in die Augen. »Wenn Sie weiterhin unter meinem Kommando stünden, würde ich Ihnen die Order geben, sie unter Ihre Fittiche zu nehmen und gut auf sie aufzupassen.« Seine Lippen zuckten. »Wie auch immer, nach allem, was ich so höre, werden Sie genau das tun, Order hin oder her.«
Jack neigte den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen.
»Sie sagt, sie wolle nach Gloucestershire zurückkehren. Gleichgültig, wofür sie sich entscheidet, ich bleibe bei ihr.«
»Gut.« Dalziel stand auf.
Jack erhob sich ebenfalls und runzelte die Stirn.
»Es wäre mir viel lieber, wenn ich wüsste, dass wir uns nicht wiedersehen.«
Ein selbstironisches Lächeln umspielte Dalziels Lippen. »Leider behauptet unser beider Instinkt unabhängig voneinander, dass das eher unwahrscheinlich ist.« Er verzog das Gesicht. »Passen Sie gut auf sie auf.«
»Das werde ich.« Die Hand auf der Türklinke blieb Jack stehen und blickte noch einmal zurück. »Bislang hat sie Sie noch nicht wiedererkannt.«
Bereits wieder auf seinem Stuhl sitzend, schaute Dalziel ihn an und zuckte die Achseln.
»Mit ein wenig Glück wird es, wenn es ihr wieder einfällt, nicht länger von Bedeutung sein.«
Dalziel nahm eine Schreibfeder und wandte seine Aufmerksamkeit dem Brief vor sich zu. Jack verließ das Zimmer und ging über den Flur zu Clarice zurück, die ungeduldig vor dem zutiefst beunruhigten Schreiber auf und ab lief.
In der Kutsche berichtete er ihr alles, was Dalziel gesagt hatte; sie hörte zu, erwiderte darauf nichts und runzelte nur die Stirn.
Sie kehrten ins Hotel zurück, um Bilanz zu ziehen. Auf dem Tisch in ihrem Salon fanden sie einen Brief von Alton vor, in dem sich zwei Karten für die Royal Gala am heutigen Abend in Vauxhall befanden.
»Ich dachte, Karten zu solchen Ereignissen seien nur durch königlichen Beschluss zu bekommen.« Jack betrachtete die goldgeränderten Karten.
Clarice schnaubte.
»Das stimmt schon, aber wenn er will, kann Alton ebenso charmant sein wie gewisse andere Leute, die ich kenne.« Sie las die Nachricht. »Er schreibt, dass der Bischof ihn darüber in Kenntnis gesetzt hat, dass die Vorwürfe gegen James in vollem Umfang zurückgezogen wurden und dass er, Roger und Nigel die Gala als Gelegenheit nutzen wollen, ihre Befreiung aus Moiras Klauen, die bevorstehenden Verlobungen und James’ Entlastung zu feiern, und Alton lädt uns beide dazu ein.«
Sie reichte das Blatt Jack und lächelte vor sich hin. Es war offenkundig, dass ihre Brüder vorhatten, die Gala – den Höhepunkt der gesellschaftlichen Veranstaltungen schlechthin – zu nutzen, um sie umzustimmen und ihr vor Augen zu führen, welche Vorzüge damit verbunden wären, wenn sie in ihr altes Leben zurückkehrte.
Damit würden sie freilich keinen Erfolg haben, aber wenn sie ihnen gestattete, den Versuch zu unternehmen, wenn sie teilnahm und Spaß hatte und ihnen dann sagte, dass sie nach Avening und in ihr beschauliches Leben auf dem Lande zurückkehren wollte, würden sie erkennen, dass es witzlos war, sie weiter zu bedrängen, und dass sie eine endgültige Entscheidung gefällt hatte.
Und Jack würde es ebenfalls mitbekommen und verstehen.
Ihr Lächeln verstärkte sich, als sie sich zu ihm umdrehte. Er stand an dem Tisch und starrte auf die Eintrittskarten in seiner Hand.
»Wir müssen gehen, das steht fest.«
Jack blickte sie an und erkannte die Vorfreude in ihren Augen. Er nickte und lächelte – wie immer äußerst charmant.
Neun Stunden später lächelte er immer noch charmant, aber er wurde es langsam leid – und es kostete ihn Mühe, seine wahren Gefühle nicht durchscheinen zu lassen, den immer drängender werdenden Wunsch, seine Maske fallen zu lassen und Clarice zu packen und sie zu entführen.
Weg von ihren Brüdern und den anderen, die wollten, dass sie hierblieb, im Zentrum der feinen Gesellschaft.
Es war nicht schwer zu erkennen, dass sie in Versuchung geraten würde.
Der Pavillon, den ihr Bruder gemietet hatte, lag direkt gegenüber der Rotunde mit der großen Tanzfläche davor. Jack saß in der vordersten Ecke und verfolgte still, wie Clarice mit Nigel eine Polka tanzte.
Um sie herum die Crème de la Crème der guten Gesellschaft, man spazierte umher, lachte und unterhielt sich, Juwelen funkelten, Seide und Satin schimmerten im Licht der schaukelnden Laternen. Parfüm und der Geruch nach Wein und erlesenem Essen vermischten sich, regten die Sinne an; die Musik und das Stimmengewirr verwoben sich zu einem angenehmen Klangteppich.
Alle waren entschlossen, sich zu amüsieren; ihr Gastgeber war als Meister der Vergnügungen bekannt, und sie richteten sich nach ihm. Da nur die besten Familien des Landes Einladungen zu erhielten, gab es an dem gesellschaftlichen Ansehen der Gäste keinen Zweifel. Daher war die Veranstaltung auch keinen strengen Regeln unterworfen; man war unter sich, was angesichts der Umgebung und der Atmosphäre für ein Gefühl von Freiheit sorgte. Man war frei von den sonstigen Beschränkungen, sodass man die Maske ablegen und sich einfach vergnügen konnte.
Selbst für sein Dafürhalten war die Umgebung bezaubernd und wurde noch betörender durch die unbeschwerte Stimmung.
Alton tanzte mit Sarah im Arm vorüber, und Jack musste den Drang bekämpfen, finster zu blicken. Alle hatten ihren Spaß … außer ihm – und es war schwer, nicht Alton dafür die Schuld zu geben. Besonders da der Mann alle Register gezogen hatte, um Clarice davon zu überzeugen, die Rolle der tonangebenden Frau bei den Altwoods zu übernehmen.
Jack war gezwungen gewesen, neben Clarice zu stehen und mit anzuhören, wie ihre zukünftigen Schwägerinnen ihr versicherten, wie sehr sie sich freuen würden, wenn sie ihnen helfen würde, ihre jeweiligen Haushalte zu gründen, ihre Rolle in der guten Gesellschaft zu finden und zu sichern. Er musste lächeln und nicken, während eine einflussreiche Gastgeberin nach der anderen Clarice ihre Aufwartung machte, sie in ihre Kreise einlud.
Zugegeben, Clarice hatte ihrerseits nur gelächelt und es vermieden, Zusagen zu machen, aber sie hatte auch nicht Nein gesagt.
Es wäre ihm viel lieber gewesen, sie hätte einfach abgelehnt, obwohl er natürlich wusste, dass eine solch offene Absage gesellschaftlich inakzeptabel wäre.
Er fühlte sich so gar nicht geneigt, sich im gesellschaftlich akzeptablen Rahmen zu benehmen.
Und mit jeder Minute, die verstrich, wurde der Drang heftiger.
Und er fühlte sich immer elender.
Egal, was sie gesagt hatte, egal, was er gedacht und gehofft hatte heute Morgen, wenn sie erst einmal über den heutigen Abend nachdachte, was er bedeutete, würde sie da ihre Meinung ändern und sich entscheiden, in dieses Leben zurückzukehren?
In dieses Leben hier war sie schließlich hingeboren, für dieses Leben war sie erzogen worden.
Wenn sie es tat … dann würde es ohne ihn geschehen. Das wusste er. Und er wusste, dass der einzige Ort, den er jemals sein Zuhause nennen würde, an dem er jemals Frieden finden konnte, Avening war. Dennoch… würde er ohne sie jemals echten Frieden, echtes Glück finden?
Ihre Familie wollte sie zurückhaben; ihre Wertschätzung stieg von Tag zu Tag. Aber sie kannten sie nicht wirklich, nicht so wie er. Sie begriffen Boudicca nicht vollkommen, konnten sich nicht mit ihr messen und sie herausfordern, wie er es tat.
Sie brauchten sie weder, noch wollten sie sie so sehr wie er.
Er beobachtete sie, als sie plötzlich abrupt stehen blieb, mitten in einer schwungvollen Drehung, und einen Schritt zurücktrat. Sie schaute zum Rand der Tanzfläche. Nigel schien sie zu fragen, was los sei.
Jack stand auf. Über die Köpfe der anderen hinweg verfolgte er, was Clarice tat. Sie löste sich aus Nigels Händen, der sie festhalten wollte. Jack folgte der Richtung ihres Blickes und musterte die Personen, die in der Nähe standen – bis er einen Mann mit einem sehr blassen, sehr runden Gesicht sah.
Jack fluchte. Er sprang mit einem Satz über die Brüstung des Geländers um den Pavillon und stürzte sich in die Menge. Es begleiteten ihn gedämpfte Schreie und Ausrufe, Warnungen, doch vorsichtiger zu sein, während er sich rücksichtslos seinen Weg durch das Gedränge bahnte. Es war ihm egal, wen er gegen sich aufbrachte. Clarice hatte Nigel stehen lassen und war dem Mann gefolgt, dem Kurier-Informanten, der Humphries ermordet hatte.
Der Mann sah Clarice, starrte sie an und ging schneller, zwängte sich durch die Menschenmassen. Dank ihrer Größe konnte Clarice ihn sehen. Sie folgte ihm, ließ ihn nicht aus den Augen.
Jack fluchte wieder und versuchte mit aller Kraft, sie einzuholen, scherte sich nicht darum, welches Chaos er anrichtete. Die Musik hatte aufgehört und die Tänzer strömten zurück von der Tanzfläche in der Mitte zu ihren Pavillons, sodass er gegen eine wahre Menschenwelle ankämpfen musste.
Clarice ging dem Mann unbeirrt nach, der Anthony von der Straße gedrängt hatte. Ihr war klar, dass er sie bemerkt hatte, aber indem sie das Gedränge zu ihrem Vorteil nutzte, hoffte sie, ihn in dem Glauben zu wiegen, er habe sie abgeschüttelt.
Sie wollte sehen, wohin er ging, mit wem er sich traf. Er musste sich hier mit jemandem treffen wollen; warum sollte so jemand wie er sonst auf einer solchen Veranstaltung sein?
Sie schlüpfte durch die Menge, behielt ihn im Blick und holte langsam auf. Er ging um die Rotunde herum und schien nach einem bestimmten Pavillon zu suchen. Er schien tatsächlich zu meinen, sie habe ihn aus den Augen verloren.
Dann blieb er stehen. Am Rand der Menge stehend schaute er sich noch einmal prüfend um, bevor er weiterging.
Clarice duckte sich rasch hinter eine Gruppe Gäste und war froh, dass sie heute, wie viele andere Damen auch, Federn im Haar trug. Sie zählte bis zehn und spähte hinüber zu dem Mann – gerade als sich die Leute vor ihr in Bewegung setzten.
Sodass sie den Fremden direkt anstarrte, der nur zehn Schritt von ihr entfernt stand.
Seine kleinen Augen weiteten sich. Dann wirbelte er herum, während er halblaut fluchte, und lief den Weg hinter ihm entlang.
Clarice raffte ihre Röcke und setzte ihm nach.
Es war einer der breiteren Hauptwege, erhellt durch lauter kleine Laternen, die zwischen den Bäumen hingen. Pärchen und Grüppchen schlenderten den Weg entlang, sodass Clarice sich zwar sicher fühlte, aber trotzdem Aufsehen erregte.
Wie der Mann, der ebenfalls versuchte, den Anschein von Normalität aufrechtzuerhalten. Die Idee, »Haltet den Dieb!« zu rufen und auf ihn zu zeigen, schoss ihr durch den Kopf, als er in einen Seitenweg einbog.
Sie fluchte und ging schneller. Der Abstand zwischen ihnen war größer geworden. Sie rannte beinahe, als sie die Ecke erreichte und dem nächsten Weg folgte.
Es war ein abgelegener schmalerer Pfad – und daher unbeleuchtet.