8

Er hatte Hunderte Frauen umgarnt und für sich eingenommen, im Sturm erobert. Alles, was er tun musste, war Boudicca mit seinem Charme zu gewinnen.

Jack stand am Fenster des Empfangssalons im Herrenhaus und schaute zu, wie Clarice flott über seine Auffahrt marschierte, als habe sie vor, seine Burg zu erstürmen. Ein Blick in ihr blasses und ernstes Gesicht, und er bezweifelte, dass er mit Charme heute weit käme, aber was ihn mehr sorgte, war die Gestalt neben ihr. James.

Clarice war nur wenige Zentimeter kleiner als James, und sie hatte die längeren Beine. Jack beobachtete, wie sie stehen blieb, mit verbissener Miene wartete, bis James sie eingeholt hatte, und dann weiterstürmte.

James wirkte nicht ärgerlich, sondern besorgt, aber  – da war sich Jack sicher  – nicht wegen Clarice. Er verschwendete keine Zeit damit, sich zu fragen, was wohl geschehen sein konnte, sondern ging zur Haustür.

Es läutete. Howlett erschien, zog seinen Rock gerade, während er sich zur Tür begab. Jack folgte ihm. Er wartete, bis Howlett die Tür weit geöffnet hatte, dann trat er vor, um Clarice zu begrüßen, die hocherhobenen Hauptes hereinkam.

Er griff nach ihrer Hand, drückte sie und schaute ihr in die dunklen Augen.

»Was ist passiert?« So nahe bei ihr und mit ihrer Hand in seiner konnte er ihre Aufregung spüren.

Sie holte tief Luft und sagte:

»Am Frühstückstisch heute Morgen ist mir wieder eingefallen, an wen mich der unglückliche junge Mann erinnert.« Sie winkte James, der keuchend zu ihr aufschloss und ebenfalls eintrat. Er wechselte einen Blick und ein Nicken mit Jack, während Clarice fortfuhr: »Der junge Mann erinnert mich an James.«

Jack blinzelte; der Verletzte sah ganz anders aus als James.

Clarice machte ein abfälliges Geräusch. »Nicht wie James jetzt aussieht. Aber in der Ahnengalerie hängt ein Bild von ihm, als er sechzehn war.« Sie betrachtete James kritisch. »Jetzt sieht James mehr wie Altwood aus, aber damals sah er der Familie seiner Mutter, den Sissingbournes, viel ähnlicher.«

James schaute Jack an.

»Wenn Clarice recht hat, dann befürchte ich, dass der junge Mann einer meiner Verwandten sein könnte.« James’ Gesicht umwölkte sich. »Ich hätte früher herkommen sollen.«

»Das tut jetzt nichts zur Sache. Denk nicht weiter daran.« Clarice nahm seinen Arm und zog ihn mit sich.

»Jetzt bist du ja hier. Lass uns nach oben gehen und sehen …« Sie brach ab.

Schritte waren zu hören, und sie blickten zur Treppe. Ein Zimmermädchen kam eilig heruntergelaufen. Als es sie entdeckte, errötete es und wurde langsamer; unten angekommen knickste es hastig.

»Ich bitte um Verzeihung, Mylord, Mylady, Reverend Altwood, aber Mrs. Connimore lässt ausrichten, der junge Mann rührt sich wieder. Sie denkt, dieses Mal könnte er aufwachen.«

Clarice nickte.

»Wir waren gerade auf dem Weg nach oben.« Entschlossen bugsierte sie James zur Treppe.

Jack trat auf die andere Seite, gerade rechtzeitig, um ihn murmeln zu hören:

»Ich frage mich, ob es Teddy ist?«

Clarice schaute James scharf von der Seite an.

»Erwartest du ihn?«

James schüttelte den Kopf.

»Aber es ist am wahrscheinlichsten, dass er mich als Einziger von der ganzen Bande besuchen kommt.« An Jack gewandt fügte er hinzu: »Teddy ist Kanonikus beim Bischof von London.«

»Nicht viele Kanoniker, die ich kenne«, erklärte Jack, »fahren einen hochrädrigen Phaeton.«

James Miene hellte sich auf.

»Stimmt.« Dann kehrte sein Stirnrunzeln zurück. »Also…«

Clarice ging von der Treppe zum Flur.

»Komm schon, danach können wir uns immer noch den Kopf zerbrechen, weshalb er hier ist.«

Ihr aufmunternder, leicht erbitterter Tonfall bewirkte, dass James schneller ging. Sie kamen an die offen stehende Tür zum Krankenzimmer. Clarice ging voraus, dann trat sie zur Seite. James folgte ihr, und sein Blick richtete sich sofort auf das Bett und den jungen Mann.

»Nein, es ist nicht Teddy.« James musterte den Verletzten, der sich unruhig bewegte, unter der Bettdecke zuckte und die Stirn runzelte, als hätte er einen Albtraum. James runzelte für einen Moment ebenfalls die Stirn. »Anthony. Das ist Anthony.« James sah zu Jack. »Teddys jüngerer Bruder.«

Beim Klang seines Namens beruhigte sich der junge Mann. Dann hob er mit unverkennbarer Anstrengung die Augenlider. James stand am Bettende direkt in seinem Blickfeld.

»James?« Der junge Mann blinzelte, bemühte sich, klarer zu sehen. »Bist du das?«

»Ja, allerdings, mein Junge.« James ging um das Bett herum, sodass Anthony ihn leichter sehen konnte. »Aber was bringt dich hierher? Und was ist geschehen?«

Anthony leckte sich die trockenen Lippen. Sogleich war Clarice auf der anderen Seite, sie hatte ein Glas Wasser in der Hand. Jack schob sich an James vorbei und stützte Anthony, sodass er den Kopf anheben konnte. Dankbar trank er von dem Wasser, dann machte er eine kraftlose Handbewegung, signalisierte, dass er genug habe. Jack legte ihn zurück in die Kissen, die Mrs. Connimore aufgeschüttelt hatte. Erfreut nahm er zur Kenntnis, dass allmählich wieder Farbe in sein Gesicht zurückkehrte.

»Ich bin gekommen, dich zu warnen. Teddy hat mich geschickt.« Anthony sah James an. »Er hat herausgefunden, dass es in der Kirche einen Bericht gibt, in dem erwähnt wird, dass du in den letzten zehn Jahren als Militärspion tätig warst. Gegen dich läuft eine Ermittlung.«

»Was?« James wirkte restlos verblüfft.

»Das ist Unsinn.« Clarice starrte Anthony an.

Der winkte schwach ab.

»Das wissen wir doch alle, aber… nun, etwas geht da vor sich.« Seine Lider senkten sich. Er schien alle Kraft zu sammeln, dann öffnete er die Augen wieder und deutete auf das Bett. »Nun, warum sollte ich sonst hier liegen?«

Jacks Miene versteinerte sich. Er zog einen Polsterstuhl von der anderen Seite des Zimmers ans Bett und drückte James hinein, der immer noch steif vor Schock war. Auf der anderen Bettseite hatte Mrs. Connimore einen Stuhl für Clarice geholt; Jack nahm sich selbst einen hochlehnigen Stuhl.

Clarice wandte sich an Mrs. Connimore:

»Vielleicht ein wenig Hühnerbrühe?«

Mrs. Connimore nickte, ohne den Blick von Anthony zu nehmen: »Genau das habe ich mir auch gerade gedacht. Ich werde sie sofort warm machen.«

Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Und jetzt«, begann Jack, »erzählen Sie uns erst einmal von dem Unfall auf der Straße.«

Anthonys Lippen verzogen sich.

»Das war kein Unfall. Ich bin kein so tölpelhafter Fahrer, dass ich mein Pferd in den Graben lenke und meinen Phaeton umwerfe. Und ich schwöre, ich war stocknüchtern.«

»Da war eine zweite Kutsche«, half ihm Clarice und wurde sogleich von einem Blick aus den haselnussbraunen Augen durchbohrt. Einen Moment lang geriet sie aus der Fassung, dann erwiderte sie an ihn gewandt aufmüpfig: »Das wissen wir schließlich.«

Anthony nickte, während ihm die Augen halb zufielen.

»Er hat mich von der Straße abgedrängt.«

»Können Sie ihn uns beschreiben?« Jack ließ Clarice nicht aus den Augen; sie setzte sich anders hin, sagte aber nichts.

Anthony zog die Brauen zusammen.

»Eher groß, blasses Gesicht, rundlich. Schien ein Gentleman zu sein.«

Clarice’ Beschreibung war detaillierter gewesen, aber beide beschrieben eindeutig denselben Mann.

»Hatten Sie ihn vorher schon einmal gesehen oder getroffen?«

Anthony begann den Kopf zu schütteln, verzog dann aber schmerzlich das Gesicht und hielt inne.

»Nein. Aber … kurz bevor es passierte, ehe der Phaeton umkippte, wusste ich es… ich wusste, er hatte vor, mich abzudrängen. Er hat mich angestarrt, mir ins Gesicht gesehen.« Anthonys Blick fand Jack. »Er hat es mit voller Absicht getan.«

Mit grimmiger Miene nickte Jack.

»So hat es den Anschein.«

Anthony schnitt eine Grimasse.

»Als ich wusste, dass es sich nicht verhindern lassen würde, bin ich abgesprungen, aber der Phaeton ist auf mich gefallen.« Er blickte zu seinen Beinen.

»Eines ist gebrochen, verheilt aber bereits gut, wie Ihr Arm übrigens auch. Sonst haben Sie nur Prellungen und Zerrungen.« Jack fing Anthonys Blick auf. »Sie werden in ein paar Monaten wieder gesund und munter sein.«

Erleichterung machte sich auf Anthonys Zügen breit, und er sah gleich viel jünger aus.

»Und«, sagte Clarice, »was hat es damit auf sich, dass gegen James ermittelt wird?«

»Bevor Sie zu der Nachricht kommen, die Ihr Bruder schickt«, schaltete sich Jack ein, »berichten Sie bitte noch, was geschehen ist, nachdem Sie von Ihrem Bruder aufgebrochen waren und bevor Sie hier ankamen.«

Anthony lächelte entschuldigend Clarice an und wandte sich an Jack.

»Teddy hat mich zu sich kommen lassen. Ich habe mich mit ihm am Heiligengrab in dem Garten von Lambeth Palace getroffen. Es hat mich gewundert, dass er sich dort mit mir verabredet hat, aber wie sich herausstellte, wollte er nicht, dass ihn irgendjemand mit mir zusammen sieht.«

Clarice presste die Lippen zusammen und schaute über Anthony hinweg zu Jack. Trotz Teddys Vorsichtsmaßnahmen hatte jemand die Brüder gesehen.

»Teddy hat mir von den Vorwürfen gegen dich erzählt und mich gebeten, unverzüglich herzufahren, um dich zu warnen.« Anthony blickte James leicht verlegen an. »Ich musste an dem Abend noch zu einer Dinnergesellschaft, aber ich bin gleich am nächsten Morgen aufgebrochen.«

»Sie haben sicher irgendwo Rast eingelegt.« Jack beugte sich vor. »In Swindon?«

Anthony nickte.

»Ich habe Swindon nach dem Frühstück verlassen. Aber ich war mir nicht sicher, welchen Weg ich nehmen sollte, daher bin ich erst nach Stroud gefahren. Das ist zwar länger, aber wenigstens habe ich mich da nicht verfahren.«

Seine Stimme klang schwächer; er ermüdete rasch. Clarice schwieg, sah Jack an, und ihre Augen weiteten sich.

Er sah zu Anthony.

»Nun gut, und jetzt erzählen Sie uns von den Vorwürfen, die im Raum stehen. Besser noch, versuchen Sie, wortwörtlich wiederzugeben, was Teddy Ihnen gesagt hat.«

Anthony seufzte. Er schloss die Augen, und eine steile kleine Falte erschien zwischen seinen Brauen.

»Teddy hat eine Unterhaltung zwischen dem Bischof und dem Dekan mit angehört. Er ging gerade am Arbeitszimmer des Bischofs vorbei, und die Tür stand einen Spaltbreit offen. Teddy hörte James’ Namen, daher blieb er stehen und… er hörte, dass es Vorwürfe gegen James gebe, dass James mit den Franzosen gemeinsame Sache mache, und nicht erst seit Kurzem.

Die Anschuldigungen besagen, dass James strategische Analysen von Wellingtons Feldzügen weitergegeben habe sowie Informationen, die er über Truppenstärken und -bewegungen von den Soldaten gesammelt hatte, mit denen er gesprochen hatte. Als einer der Diakone den Bischof das erste Mal deswegen gewarnt hatte, hatte der es als bösartige Gerüchte abgetan, aber dann kam der Diakon mit genaueren Angaben und … in dem Gespräch, das Teddy belauschte, teilte der Bischof dem Dekan mit, dass sie die Sache wohl ernst nehmen und sie wohl gegen James ermitteln müssten.«

Anthony machte eine Pause, dann öffnete er die Augen. »Das ist alles, was Teddy gehört hat, weil Diakon Humphries, der die Anschuldigungen erhoben hat, in den Flur kam. Teddy hat ihn aber noch in sein Zimmer gehen sehen, vermutlich, um dem Bischof alle Informationen zu geben.«

James hatte sich bei der Nennung von Humphries’ Namen versteift. Clarice musterte seinen undurchdringlichen Gesichtsausdruck.

»Wer ist Humphries?«

James blinzelte und verzog das Gesicht.

»Er ist ein Gelehrter … nun, sagen wir lieber, ein Möchtegern-Gelehrter. Er hat sich ebenfalls auf Militärstrategie spezialisiert, aber ausschließlich auf Schlachtfeldzüge.«

»Also ist er gewissermaßen ein Konkurrent«, stellte Clarice fest.

James verzog erneut das Gesicht und sah zu Jack.

»Vor Jahren waren Humphries und ich beide die Hauptkandidaten für den Lehrauftrag, den ich noch habe.«

»Also«, erwiderte Jack, »nicht nur ein Konkurrent, sondern ein Rivale.«

James seufzte.

»Unglücklicherweise sieht es Humphries so.«

»Immer noch?«, fragte Clarice. »Dir wurde der Lehrauftrag doch ungefähr vor zwanzig Jahren übertragen.«

James nickte, seine Miene mehr besorgt als verärgert.

»Wenn ich in die Stadt fahre, um Nachforschungen anzustellen, wohne ich im Bischofspalast. Der Bischof war immer schon an meiner Arbeit interessiert, was heißt, dass Humphries natürlich auch davon hört. Er hat sich keine Mühe gegeben, zu verbergen, wie sehr ihn mein Erfolg ärgert. Wisst ihr, im Gegensatz zu mir, ohne Lehrauftrag und Pfarrstelle, muss er seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten, sodass er wenig Zeit für seine Forschungen hat.«

»Also ist er gegen dich eingenommen«, sagte Clarice.

»Ich fürchte, ja.« James wirkte verstört.

Jack richtete sich auf.

»Nun gut, wenn es eine Untersuchung geben wird, dann müssen wir wissen, was an Humphries’ Vorwürfen dran ist.«

»Teddy hat vielleicht inzwischen mehr herausgefunden. Ich bin sicher, er hätte versucht …« Anthony fielen die Augen zu, seine Stimme war nur noch ganz schwach.

Clarice wechselte einen festen Blick mit Jack und James, dann tätschelte sie Anthony die Hand, die auf der Decke lag.

»Das glaube ich allerdings auch. Aber jetzt machen Sie sich erst mal keine Sorgen deswegen. Sie haben die Nachricht überbracht und können den Rest uns überlassen. Sie sollten sich jetzt ausruhen. Mrs. Connimore wird Ihnen bald etwas heiße Hühnerbouillon bringen.«

Sie schob ihren Stuhl zurück und stand auf, zwang James und Jack, ebenfalls aufzustehen, auch wenn die beiden wohl noch gerne geblieben wären.

Anthony hob seine Lider so weit, dass er sie ansehen konnte, er lächelte.

»Sie sind Clarice. Teddy hat gesagt, dass Sie hier sein würden. Sie werden sich vermutlich nicht mehr an mich erinnern. Ich war noch auf der Schule, als sie … gingen, aber Teddy hat mich gebeten, Sie zu grüßen.«

Clarice war überrascht  – wenn James das schwarze Schaf der Familie war, dann war sie die absolute Außenseiterin  –, aber sie lächelte und neigte gnädig den Kopf.

»Danke. Jetzt sollten Sie aber schlafen.«

Sie drehte sich um und verließ das Zimmer, vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, dass James und Jack es ihr nachtaten. Dann ging sie zur Treppe.

Mit einem Nicken zu Anthony folgte Jack James aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er blieb kurz stehen und schlenderte langsam hinter James her, während er sich fragte, ob er die letzten Bemerkungen zwischen Clarice und Anthony richtig gedeutet hatte.

Teddy und Anthony brachten Clarice höchste Achtung entgegen, was sie nicht erwartet hatte. Jack konnte nicht umhin, sich zu wundern, wie tief der Bruch mit ihrer Familie war, wie zerrüttet das Verhältnis zwischen ihnen war. Offenbar war es so weit gekommen, dass sie nicht damit rechnen konnte, von anderen Familienmitgliedern in einem milderen Licht gesehen oder mit Zuneigung bedacht zu werden.

Er ging ein paar Schritte hinter James die Stufen hinunter. Clarice war bereits auf dem Weg in den Empfangssalon und wollte offensichtlich eine Besprechung abhalten, als es durchdringend an der Haustür läutete.

Sie blieb an der Tür zum Empfangssalon stehen. James ging die letzte Stufe hinab und blieb ebenfalls stehen, während Jack ihm folgte. Äußerlich wirkte er unbekümmert, aber innerlich regten sich seine Instinkte mit Macht, auch wenn er nicht erkennen konnte, warum.

Howlett erschien und ging gemessen zur Tür. Er öffnete sie, und über seine Schulter konnte Jack Dickens erkennen, James’ Stallburschen.

Dickens nickte Howlett zu.

»Ich habe eine Nachricht für den Herrn und Lady Clarice. Es ist dringend.«

Howlett machte einen Schritt nach hinten, als Clarice, James und Jack zur Tür kamen.

»Mylady, Mylord, Sir, Macimber schickt mich.« Dickens’ Blick blieb an James hängen. »Der Dekan aus Gloucester ist gekommen und wartet im Pfarrhaus auf Sie, Sir. Er will nicht länger bleiben, hat aber eine wichtige Nachricht vom Bischof und muss Sie daher unverzüglich sehen.«

Jack, der neben James stand, fühlte das Widerstreben bei seinem Freund, gefolgt von Resignation. James seufzte.

»Danke, Dickens. Ich komme sofort.«

James ging an Clarice vorbei. Aber sie lief rasch die Eingangsstufen hinunter, wickelte den Schal fester um ihre Schultern, während sie sich umdrehte und James anschaute.

»Ich komme natürlich mit.«

Jack verbarg ein leises Lächeln. »Wir gehen gemeinsam.« Er erwiderte Clarice’ Blick. »Natürlich.«

Sie zögerte einen Moment, dann nickte sie und wirbelte herum, um Dickens über die Auffahrt zu folgen.

 

»Ich fürchte, James, dass ich darauf bestehen muss, dass du dich dem ausdrücklichen Wunsch des Bischofs fügst.« Dekan Halliwell, der Dekan des Bezirks, der den Bischof von London repräsentierte, gab sich große Mühe, Clarice nicht anzusehen. »Du musst innerhalb der Grenzen der Pfarrei Avening bleiben, bis die Untersuchung dieser Vorwürfe abgeschlossen ist.«

»Diese Anschuldigungen sind doch völlig haltlos und unsinnig«, erklärte Clarice verächtlich, »aber wenn der Bischof so fehlgeleitet ist, auch nur einen Moment in Erwägung zu ziehen, es könnte etwas daran sein, dann ist es doch wohl am besten, wenn James sich selbst dagegen verteidigt.«

Dekan Halliwell saß in einem Lehnstuhl in James’ Arbeitszimmer und hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt. Er wandte den Kopf und schaute sie an.

»Das mag zwar sein…«

»Irgendetwas anderes zu denken wäre, da bin ich mir sicher, ein schweres Fehlurteil.« Im anderen Lehnstuhl wie eine Königin thronend durchbohrte Clarice den bedauernswerten Dekan mit ihrem Blick. »Es kann wohl kaum als gerecht gelten, wenn mein Cousin einerseits gar nicht erfährt, was genau ihm vorgeworfen wird, und andererseits ihm nicht die Gelegenheit geboten wird, sich selbst zu verteidigen.«

Dekan Halliwell atmete tief durch.

»Die Kirche hat eigene Regularien und Vorgehensweisen in einem solchen Fall, Lady Clarice.«

Clarice’ Miene verhärtete sich weiter. Sie hob die Brauen, aber ehe sie die schneidende Erwiderung aussprechen konnte, die ihr auf der Zunge lag, bewegte sich Jack auf seinem Stuhl, der neben ihrem stand, und lenkte so die Aufmerksamkeit des Dekans auf sich.

»Vielleicht«, sagte Jack mit ruhiger Stimme, »könnten Sie uns diese Regularien und Vorgehensweisen erläutern?«

Wie er gehofft hatte, war Dekan Halliwell nur zu gerne bereit, ihnen alles zu erklären, in der Hoffnung, die erzürnte Dame zu Jacks rechter Seite zu besänftigen.

»Ich glaube, die Angelegenheit wird in erster Instanz vor dem Bischof selbst angehört, nur innerhalb des Palastes, Sie verstehen.« Hastig fügte Halliwell hinzu: »Aber wie auch immer, die Vorgehensweise ist die gleiche wie bei einem Kirchengericht. Es wird einen Ankläger und einen Verteidiger geben.«

»Und wer werden diese beiden Personen sein?«, erkundigte sich Clarice.

Ihr Ton war eisig; Dekan Halliwell versuchte, nicht zu zittern.

»Soweit ich weiß, wird der Ankläger der Diakon sein, der den Bischof überhaupt erst über die Anschuldigungen unterrichtet hat.«

Clarice öffnete den Mund, zweifellos, um eine vernichtende Charakterisierung von Diakon Humphries von sich zu geben, doch Jack verhinderte das, indem er rasch einwarf:

»Und der Verteidiger?«

Er beachtete Clarice’ wütenden Blick nicht weiter.

»Ein anderer Diakon namens Olsen.« Dekan Halliwell schien Jack für sein Einschreiten dankbar zu sein und sah James an. »Soweit ich weiß, wollte Dekan Samuels selbst die Verteidigung übernehmen, aber der Bischof hat das nicht zugelassen, mit dem Verweis darauf, dass eine derart offene Parteinahme seines obersten Ratgebers unklug sei.«

Aus den Augenwinkeln sah Jack, dass Clarice’ Augen schmal wurden. Sie hatte ohne jeden Zweifel diese letzte Bemerkung genauso wie er gedeutet: unklug für die Kirche, nicht für James. Er war erleichtert, dass sie, obwohl ihre Lippen schmal wurden, sie geschlossen hielt.

Nach seinem anfänglichen Unverständnis über die Anweisung des Bischofs, dass er sich nur innerhalb der Grenzen von Avening aufhalten durfte, war James immer stiller geworden und hatte alle weiteren Fragen Clarice und Jack überlassen. Jack hakte weiter nach, um so viel wie möglich von Dekan Halliwell zu erfahren, geschickt unterstützt von Clarice, obwohl ihre Beiträge vor allem nonverbal waren.

Schließlich entschuldigte sich Dekan Halliwell und floh, Clarice’ Dolchblick zwischen den Schulterblättern. Sobald seine Kutsche über die Auffahrt davongerattert war, kehrten die drei in James’ Studierzimmer zurück.

James ließ sich langsam in den Stuhl hinter seinem Schreibtisch sinken, als ob er immer noch nicht ganz glauben konnte, welche Wendung die Dinge genommen hatten. Sein Blick war in die Ferne gerichtet, seine Gedanken weit weg.

Obwohl Jack seine Erschütterung nachempfinden konnte  – vor zwei Stunden hatte James noch keine Ahnung gehabt, dass dräuende Wolken am Horizont aufgezogen waren, geschweige denn ein Sturm dieser Größe drohte  –, ähnelte Jacks Reaktion mehr Clarice’ Stimmung.

Sie ging auf und ab, die Arme unter dem Busen verschränkt. Ihre Röcken raschelten, als sie sich umdrehte. Ein ausgeprägtes Stirnrunzeln zog ihre Brauen nach unten. Sie rang eindeutig mit dem Problem, was nun am besten zu tun sei, was als Nächstes kam. Wie sie James’ Namen reinwaschen konnte.

»Nun!« James atmete scharf aus. Sein Blick blieb auf die Wand gegenüber gerichtet.

Jack fing Clarice’ Blick auf und hob eine Braue. Sie blickte ihn einen Moment mit zusammengezogenen Brauen an, dann winkte sie ab.

»Ach, setz dich doch. Jetzt ist nicht die Zeit, sich mit albernen Höflichkeitsregeln aufzuhalten.«

Natürlich hatte sie auf die Einhaltung jeder noch so unbedeutenden Anstandsregel bestanden, solange Dekan Halliwell da gewesen war. Jack verkniff sich ein Lächeln und ließ sich auf einen der Lehnstühle sinken. Er betrachtete James.

Das war James’ Schlacht. Während Jack fest entschlossen war, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um zu helfen, musste er wissen, was in James’ Kopf vor sich ging.

»Ich werde nach London gehen und die Familie zusammentrommeln.«

Bei Clarice’ Erklärung, in einem Tonfall geäußert, der keinen Widerspruch zuließ, hob James den Kopf.

»Oh nein, meine Liebe. Dazu besteht wirklich keine Notwendigkeit … der Bischof wird Vernunft annehmen, da bin ich sicher.« James blickte zu Jack. »Denkst du das nicht auch, mein Junge?«

Jack war nicht derselben Ansicht, wurde aber der Notwendigkeit, dies auszusprechen, durch Clarice enthoben.

»Wenn der Bischof bereit ist, seine Zeit und die zahlloser anderer zu verschwenden, indem er eine interne Gerichtsverhandlung anberaumt, um die Sache offiziell anzuhören, dann spricht auch nichts gegen die Annahme, dass er sich von erdichteten Argumenten beeinflussen lässt, die ihm vorgelegt wurden.«

Genau.

»Ich denke«, begann Jack, einmal mehr dankbar, dass er die Stimme der Vernunft sein und Clarice’ harter, aber zutreffender Einschätzung den Stachel der Wahrheit nehmen konnte, »dass wir darauf werden reagieren müssen, James.«

James betrachtete ihn mit zusammengezogenen Brauen, dann schaute er zu Clarice. Sie blieb stehen und erwiderte ungerührt James’ Blick. Nach einer Weile schien James seine Gedanken abzuschütteln.

»Nein.« Er lehnte sich zurück und schaute sie beide an. »Das ist ein Sturm im Wasserglas, zweifellos und bedauerlicherweise aufgewirbelt von dem neidischen Humphries. Am besten, wir ignorieren die Sache. Je weniger dazu gesagt wird, desto schneller klärt sich die Angelegenheit.«

Über ihren verschränkten Armen schwoll Clarice’ Busen an.

»Nein, James. Nicht.« Jacks Stimme klang nicht länger beruhigend und milde; es war ein Anflug von Härte herauszuhören. »Wenn du diese Vorwürfe nicht zur Kenntnis nimmst und dich nicht verteidigst und der Bischof entscheidet, dass du dich dafür verantworten musst, dann wird die Anklage auf Hochverrat lauten.«

James lächelte.

»Aber das ist es doch gerade, mein Junge. Niemand, der noch ganz richtig im Kopf ist, würde je auf die Idee kommen, einen Altwood des Verrats zu beschuldigen.«

Clarice’ abfälliges Schnauben war beredter als tausend Worte. »Um Himmels willen, James! Der einzige Grund, weswegen der Bischof eine interne Anhörung angesetzt hat, ist doch wegen der Familie, dennoch hat er die Verhandlung anberaumt. Er untersucht die Vorwürfe.«

»Aber die Vorwürfe sind falsch.«

Clarice blickte zur Decke, damit James die Erbitterung in ihren Augen nicht sehen konnte.

»Der Bischof weiß das nicht. Genau genommen weiß er nicht, was er davon halten soll, was er glauben soll, und ohne dich oder sonst jemanden, der in deinem Interesse handelt, wird er vielleicht nie die Beweise zu sehen bekommen, die aufzeigen, dass die Anschuldigungen gegen dich jeder Grundlage entbehren, sondern nur Beweise, die ein großes Fragezeichen hinter deine Integrität setzen.«

»Hinter deine Ehre, James.« Jack fing James’ Blick auf, als der sich zu ihm drehte. »Clarice hat recht. Du brauchst jemanden, dem deine Interessen mehr am Herzen liegen, und nicht irgendeinen Kleriker, der dazu bestimmt wurde, dich zu verteidigen. Kennst du diesen Olsen?«

Ein Anflug von Unsicherheit war kurz in James’ Augen zu sehen. Er blickte nach unten, streckte die Hand aus und hob einen Briefbeschwerer an.

»Ich habe ihn schon einmal getroffen.«

Sie warteten, Clarice stand neben Jacks Stuhl und starrte James auffordernd an, dann sagte sie in forderndem Ton:

»Und?«

James verzog das Gesicht und seufzte.

»Er ist jung. Er ist erst letztes Jahr mit diesem Posten betraut worden. Davor war er Militärkaplan bei der Armee, in einem Regiment. Der Bischof hat ihn berufen, nachdem er von Waterloo heimgekehrt war.«

Jack spürte Clarice’ Temperament auflodern, obwohl es gar nicht ihm galt.

»Also liegt deine Verteidigung in den Händen irgendeines jungen Spundes, der noch feucht hinter den Ohren…«

»Eigentlich«, unterbrach Jack sie, »könnte sich Olsen als nützlich erweisen.« Er sah Clarice an. »Ein Mann mit Schlachtfelderfahrung  – in diesem Fall eindeutig besser als einer, der keine besitzt.«

Sie blickte ihn an, schloss den Mund und nickte.

»Stimmt.« Sie wirbelte herum und begann wieder auf- und abzugehen. »Trotzdem, da du selbst nicht anwesend bist, James, brauchst du jemanden, der dich unterstützt und sicherstellt, dass dieser Olsen die richtigen Argumente und Beweise hat, um aufzuzeigen, dass die Anschuldigungen haltlos sind.«

Nach einem Moment fügte sie hinzu: »Ich werde morgen nach London aufbrechen.«

»Meine Liebe!« James wirkte bestürzt. »Wirklich, dazu besteht kein Anlass.«

»Oh doch.« Sie blieb stehen. »Egal, wie intern die Anhörung beim Bischof sein wird, die Geschichte wird ganz sicher an die Öffentlichkeit dringen. Die Familie wird entsetzt sein.« Sie schaute James an. »Ich bin mir sehr wohl darüber im Klaren, welchen Empfang ich von meiner Familie erwarten kann, wenn ich mich meinetwegen an sie wenden würde. Deinetwegen jedoch und um einen möglichen Skandal im Keim zu ersticken, da bin ich sicher, werden sie mich nicht nur anhören, sondern das Nötige veranlassen.«

»Nein.« James hatte einen störrischen Zug um den Mund. »Ich werde nicht zulassen, dass du dich so einer Situation aussetzt …«

»Sie hat aber recht, James.« Jack wurde ein überraschter, aber erfreuter Blick von Clarice zuteil. Er wusste nicht, warum James glaubte, sie würde sich einer unangenehmen Situation aussetzen, aber er wusste, sie hatte recht, und nach seinem Plan würde ihr nichts Schlimmes widerfahren.

»Genau.« Clarice nickte entschlossen. »Ich breche gleich morgen früh beim ersten Tageslicht …«

»Allerdings«, ohne seine Stimme zu heben, unterbrach Jack sie, »bevor ich nach London aufbreche, will ich alle relevanten Fakten wissen. Daten, James, und eine Liste aller Artikel und Abhandlungen, die du in den letzten zehn Jahren veröffentlicht hast, genau genommen eine Zusammenfassung all dessen, was du in der Zeit recherchiert hast, mit wem du in Briefverkehr standest und wann du wohin gereist bist, mit wem du gesprochen hast, und die Namen aller Soldaten, die du aufgesucht hast … Sobald ich das habe, fahre ich nach London.«

Es erstaunte ihn nicht, Clarice verkünden zu hören:

»Ich komme mit Ihnen.«

Er schaute auf und sah ihr in die dunklen Augen.

»Wie James bereits sagte, besteht dazu wirklich keine Notwendigkeit, und ich habe die richtigen Kontakte.«

Clarice erkannte die ruhige Sicherheit in seinen Augen, nahm sich einen Moment Zeit, zu hören, was ihre innere Stimme ihr sagte, die, wie man ihr schon so oft mitgeteilt hatte, viel zu unbesonnen war. Aber sie hatte noch nie dasitzen können und abwarten können, während sie sich fragte, was gerade geschah.

»Daran zweifle ich nicht. Aber dennoch werde ich Sie nach London begleiten.«

Sie schaute warnend zu James, verbarg ihre Entschlossenheit nicht. Sie würde auf kein Gegenargument hören. Sie konnte allein über sich bestimmen; weder James noch sonst jemand hatte das Recht, ihr irgendetwas vorzuschreiben. »Die Familie muss es erfahren.« Sie blickte zu Jack. »Sie kennen sie nicht, mich dagegen sehr wohl.«

 

Jack hatte bloß genickt  – ob als Zeichen, dass er ihre Entscheidung akzeptierte oder aus der vergeblichen Hoffnung heraus, dass sie später vielleicht ihre Meinung änderte, das wusste sie nicht  –, aber er ließ die Sache auf sich beruhen.

Sie wusste, was sie tat.

Gelassen ging Clarice durch die Nacht, überquerte die Brücke und stieg über den Zauntritt, schritt durch die Wiese zum Hügel und zu der Laube.

Zu Jack. In seine Arme, um seinen Körper und die Erregung zu spüren, die sie bei ihm gefunden hatte.

Sie war sich nicht sicher, ob es wieder so sein würde, so fesselnd, aber sie wollte es dringend herausfinden.

Er hatte sich kurz nach ihrer Erklärung, sie wolle ihn nach London begleiten, entschuldigt. Sie hatte ihn zur Haustür begleitet; er war dicht hinter ihr gegangen und hatte ihr ins Ohr geflüstert. Sie musste sich beherrschen, nicht zu erbeben, hatte aber zugestimmt, sich heute Nacht hier mit ihm zu treffen.

Die Laube tauchte vor ihr auf, die Tür stand wieder verlockend offen. Vorfreude breitete sich in ihr aus. Sie musste insgeheim über sich lächeln, beschleunigte ihre Schritte und eilte voller Eifer weiter.

Von seinem Platz hinter den breiten Fenstern der Laube beobachtete Jack, wie Clarice aus den Schatten der Bäume trat und mit leichtem selbstsicherem Schritt zur Treppe lief. Und sie hochstieg … zu ihm.

Vorfreude baute sich in ihm auf, entschieden und ungewöhnlich mächtig, seltsam verlockend. Nicht einfach die Freude auf sinnliche Genüsse, sondern darauf, sie wieder zu erleben, eine weitere Gelegenheit zu erhalten, sie zu umwerben, ein weiterer Schritt in seiner Kampagne, sie zu erobern.

Er wusste, was er wollte; was er hingegen nicht ganz verstand, war, warum. Was er fühlte, stand außer Frage, was er wollte und brauchte  – was er unbedingt haben musste  –, war kristallklar. Aber er wusste, wer sie war, und kannte sich selbst gut genug, trotzdem konnte er nicht verstehen, wie sich bereits jetzt eine solch starke Verbindung zwischen ihnen entwickelt hatte, wenigstens, was ihn betraf.

So stark, dass er sich gebunden fühlte, dass sie ihn forderte.

Er drehte sich um, als sie durch die Tür kam. Sie sah ihn, lächelte mit ihrer gewohnten Sicherheit, dann schloss sie die Tür und kam zu ihm.

Er wartete, während sie durch das Muster aus Schatten und Licht ging. Sie trug ein helles edles Abendkleid, das sich verspielt an ihre langen Beine schmiegte. Sie ließ den Schal von ihren Schultern gleiten, der auf das Kopfende des Ruhebetts fiel. Sie legte den Kopf leicht schief und musterte sein Gesicht im schwachen Licht, kam näher, blieb erst stehen, als sie so dicht vor ihm war, dass sie mit den Brustspitzen fast seine Brust berührte.

Er schloss seine Hände um ihre Taille, als sie die Arme hob und sie ihm um die Schultern legte.

Sie betrachtete sein Gesicht aus der Nähe.

»Möchtest du über James reden?«

»Nein.« Er hielt ihren Blick einen Moment fest, genoss es, sie zwischen seinen Händen zu spüren, warm und geschmeidig. Sie strahlte eine durch und durch weibliche Stärke aus. Er wunderte sich, welche Gefühle sie in ihm weckte. »Ich möchte nicht reden, auch nicht über James … wenigstens jetzt nicht.«

Seine Stimme war leise, heiser und rau von verheißungsvoller Leidenschaft.

Ihre Lippen verzogen sich, als er den Kopf senkte.

»Gut.«

Dann küsste sie ihn. Und er küsste sie.

Einen Augenblick rangen sie um die Führung in diesem sinnlichen Wettstreit, dann gab sie mit einem leisen Seufzen, das er bis in sein Innerstes fühlte, nach, überließ ihm freiwillig das Recht, den Ablauf für ihr Spiel vorzugeben.

Wie letzte Nacht.

Das war es … sie ergab sich nicht, sondern brachte ihm dieses bereitwillige Vertrauen entgegen, was ihn bis ins Innerste traf und in ihm eine animalische Reaktion wachrief, die ihn dazu trieb, sich alles zu nehmen, was sie ihm bot, zu verzehren, zu wollen und mehr zu verlangen.

Sie haben zu wollen konnte leicht zur Sucht werden.

Als er seine Hand um ihre herrliche Brust schloss und sie besitzergreifend zu kneten begann, ihre hitzige Reaktion spürte, fühlte er, wie die Fangarme des Verlangens ihn in die Tiefe rissen, und er wusste, er war bereits verloren.

Es war witzlos, den Versuch zu unternehmen, dagegen anzukämpfen, weder gegen sie noch gegen das machtvolle Gefühl, das sie in ihm weckte. Sie standen am Fenster und zogen sich rasch, aber nicht überhastet die Kleider aus. Nackt umarmten sie einander, verführten einander mit Lippen und Zunge, ihre Münder verschmolzen, nur um sich mit einem Seufzen zu trennen; heiße Haut, Hände, die berührten, erforschten und liebkosten.

Sie zögerte nicht, besaß nicht die Schamhaftigkeit einer Frau, für die das alles neu war. Selbstsicher stellte sie sich der Herausforderung der Intimität, empfing sie mit einer unerschütterlichen Entschlossenheit, die zuvor von ihrer Unerfahrenheit verdeckt worden war. Selbst jetzt nahm er sie als ebenbürtige Partnerin wahr, die ihm die Führung überlassen konnte, die aber, wenn er ihr die Kontrolle überließ, stark genug war, ihrerseits zu führen.

Die Vorstellung war verlockend. Letzte Nacht, als sie beide von primitiven Impulsen getrieben gewesen waren, die er lieber nicht genauer betrachtete, hatte er sie unter sich gehabt, in die Kissen gedrückt und sie ausgefüllt, wieder und wieder, sie dreimal zum Höhepunkt gebracht. Sie hatte geschluchzt, gestöhnt und am Ende sogar geschrien, aber er hatte sie nicht besiegt. Es hatte sich vielmehr so angefühlt, als sei er besiegt worden, indem er ihre Schreie mit seinem Mund aufgefangen und sie so besitzergreifend geliebt hatte, er sie als Königin anerkannt hatte, die ihm Befehle erteilen konnte.

Und jetzt kam sie zu ihm, tat es ihm gleich und drängte ihn weiter. Benutzte ihren Körper, um ihn zu verführen und in ihren Bann zu ziehen.

Er konnte nicht denken, nur reagieren. Er tat, was sich richtig anfühlte, was ihn und sie befriedigte.

Er fasste sie um die Mitte, drehte sie um, sodass sie mit dem Rücken zu ihm stand, zog sie wieder an sich. Sie versteifte sich kurz, dann schmiegte sie sich an ihn, streckte die Arme nach hinten aus und legte sie ihm auf die kräftigen Schenkel, streichelte ihn. Keck benutzte sie ihre Hüften, um sich gegen ihn zu drücken, sich an ihm zu reiben, mit dem Po sein steifes Glied zu liebkosen.

Sie war groß genug; er legte ihr einen Arm um die Mitte, schloss eine Hand um ihre Hüfte und hob sie an, hörte sie nach Luft schnappen, als die Spitze seines Gliedes zwischen ihre Oberschenkel glitt. Beinahe sofort fand er ihren Eingang, heiß und willkommen heißend. Er drang in sie ein, füllte sie aus. Die sengende Hitze ihrer glatten Scheide schloss sich übermächtig um ihn. Er beugte sich vor, sodass sein Gesicht neben ihrem war, und konnte ein befriedigtes Stöhnen nicht zurückhalten.

Ein antwortendes Aufflackern von Lust durchlief sie; sie bog sich ihm entgegen, keuchte. Er zog sie das letzte Stück nach unten, war ganz von ihr umfangen.

Sie versuchte sofort, sich zu bewegen, zu winden, um diese für sie neue Stellung auszuprobieren. Ihm stockte der Atem, und er schloss die Arme fester um sie, eine Hand auf ihrem Bauch, um sie festzuhalten und ihm einen besseren Zugang zu gewähren. Dann zog er sich ein wenig zurück, nur um machtvoll wieder in sie hineinzustoßen.

Clarice seufzte zitternd. Den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen, genoss sie die überwältigenden Gefühle, die er ihr so bereitete. Wieder und wieder stieß er in sie, zog sich zurück, kehrte wieder, bis sie glaubte, gleich schreien zu müssen. Aber sie hatte letzte Nacht genug gelernt, um zu wissen, dass er wusste, was er tat, dass sie so letztendlich unbeschreibliche Lust empfinden und schließlich Erfüllung finden würde, die alles überstieg, was sie in ihrer Unerfahrenheit für möglich gehalten hatte. Daher fügte sie sich und folgte seiner Führung. Sie ritt auf der Welle der Lust, die er erschuf, fühlte, wie sie immer mehr anschwoll.

Höher und höher, weiter. Tiefer, nach und nach schneller werdend.

Bis die Hitze sie durchraste, unter ihrer Haut mit Flammenzungen leckte, bis das Feuer in ihnen brannte, und trotzdem stieg die Welle noch höher. Mit jedem Eindringen, jeder Bewegung seiner Hüften an ihren, jedem Hinein- und Hinausgleiten.

Er nahm seine Hand von ihrer Hüfte, legte sie ihr auf eine Brust und begann sie besitzergreifend zu kneten. Seine raue Hand, seine kräftigen Finger auf sich zu spüren lenkte ihre Lust in eine neue Richtung. Dann fand er ihre Brustwarze und liebkoste sie. Zog daran, streichelte sie neckend, ehe er plötzlich leicht zukniff.

Genau in dem Moment, als er noch tiefer in sie stieß.

Gefühle, so grell wie ein Blitz, durchzuckten sie. Sie keuchte, der Laut hallte laut im stillen Zimmer wider. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie sich ihr Atem anhörte, ihrer flach und abgehackt, seiner laut und angestrengt. Er neigte den Kopf, und seine Lippen streiften die empfindliche Haut an ihrem Hals.

Dann schloss er seine Finger wieder, fest und fester; er kniff und zupfte im Rhythmus der Bewegungen seiner Hüften. Die Hand auf ihrem Bauch spannte sich, und sie wurde noch ein Stück angehoben, ihre Hüften nach vorn gedrückt. Er drang jetzt tiefer und härter und noch tiefer in sie ein.

Ihre Sinne barsten in einer grellen Explosion der Seligkeit.

Wie gesponnenes Glas rasten scharfe Empfindungen durch ihre Nervenbahnen, bis sie dachte, dass sie gleich zerspringen würde. Ihre Haut brannte, war so empfindlich. Ihr ganzer Körper erwachte flammend zum Leben. Ihre Gefühle waren wie in einem Kaleidoskop der Lust gefangen, bis es auseinanderbrach.

Bis die Erfüllung sie erfasste, ihre Realität bersten ließ und die Ekstase sie ausfüllte. Ihr Körper zuckte, verkrampfte sich, während er ein letztes Mal in sie stieß.

Sie fühlte seine Wärme in sich, die Hitze seines rauen Atems an ihrem Hals. Seine Hände hielten sie fest, sein Körper war wie ein lebendiger Käfig um sie herum. Er bewegte den Kopf und küsste sie auf die Schulter, zärtlich und zugleich voller Leidenschaft.

Ihre Lippen verzogen sich zu einem leisen Lächeln, als sie sich gegen ihn sinken ließ, in den Himmel seiner Arme.

 

Sie konnte nachher nicht sicher sagen, wie sie es zum Ruhebett geschafft hatten, aber als sie die Augen wieder öffnete, lagen sie nebeneinander. Ihre Wange ruhte auf den starken Muskeln seiner Brust. Seine Haut war warm, so wie der Rest seines Körpers. Sie konnte seine Haut fast überall spüren.

Er lag auf dem Rücken und sie halb auf ihm, er hatte die Arme um sie geschlungen. Ihre Hüften lagen zwischen seinen gespreizten Schenkeln, umrahmt von seinen langen Beinen.

Den Kopf zu heben erforderte mehr Kraft, als sie aufbringen konnte; daher drehte sie sich ein wenig zur Seite und spähte in sein Gesicht.

Ein Arm lag über seinen Augen, aber er spürte ihren Blick und schaute sie mit halb geöffneten Lidern an. Er betrachtete sie einen Moment, dann senkte er den Arm.

»Ich habe uns hierher gebracht  – beweg dich nicht.«

Sie lächelte und bettete ihren Kopf wieder an seiner bequemen Schulter. Sie genoss diese ruhigen Augenblicke danach, wenn sie noch von der köstlichen Wärme umfangen war, sie friedlich und still beieinanderlagen und sich frei fühlten, ohne das sein zu müssen, wozu wie die Welt sie gemacht hatte  – Lord und Lady. In diesen Momenten waren sie einfach sie selber. Er und sie und es gab keine gesellschaftlichen Regeln … und in gewisser Weise auch keine Schutzschilde.

Die Idee reizte sie, machte sie darauf aufmerksam, wie verbunden sie sich mit ihm fühlte, wie offen sie miteinander umgingen. Ohne Einschränkung. Sie empfand nicht aufgrund der körperlichen Intimität so, das war nur eine der Auswirkungen und nicht der wahre Grund. Der wahre Grund, weshalb sie sich so anders mit ihm fühlte, anders mit ihm umging, war vielschichtiger.

Oder vielleicht war es auch ganz einfach.

Er verstand sie, oder wenigstens hatte sie den Eindruck, und sie verstand ihn.

Deswegen war er der einzige Mann ihres Standes, bei dem sie in Erwägung zog, ihn um Rat zu fragen. Der einzige, dessen Rat ihrer Meinung nach wertvoll sein könnte.

Ihre Haut kühlte sich ab; eine leise Brise kam durchs offene Fenster und strich mit kalten Fingern über ihren Körper. Sie unterdrückte einen Schauer; sie wollte nicht, dass seine Arme sich wieder fester um sie schlossen, nicht jetzt.

Sie setzte sich auf. Den Blick, den er ihr zuwarf, nicht weiter beachtend, griff sie hinter sich und zog ihren Schal hervor. Sie schüttelte ihn aus, legte ihn sich um die Schultern und schwang die Beine aus dem Bett.

Ohne zurückzuschauen, ging sie zu den Fenstern. Während die Hitze von ihrer Haut schwand, erschien ihr die Nachtluft weniger kühl. Sie blieb am Fensterrahmen stehen und schaute nach draußen. Die Nacht war ein Gemisch aus Schatten und schwachem Mondschein, leisem Rascheln in der Ferne und dem Säuseln des Windes.

Wenn sie ihn um Rat fragte, würde er erwarten, dass sie ihn auch annahm?

Schätzte sie seine Ansicht so sehr, dass sie sich mit ihm anlegen würde?

Wollte sie wissen, was er dachte?

Sie drehte sich um und schaute ihn an, fing im Dämmerlicht seinen Blick auf.

»Ich mache mir Sorgen um James.«