6

»Was, zum Teufel, haben Sie vor?«

Jack saß hinter seinem Schreibtisch und beobachtete, wie Boudicca vor ihm auf und ab marschierte. Ihre Arme hatte sie unter ihrem köstlichen Busen verschränkt, während ihre Miene einen warnenden Ausdruck angenommen hatte. Der Versuch, sie mit Zuckerwerk und Wein zu beschwichtigen, war wohl gründlich fehlgeschlagen.

Sie waren noch nicht dazu gekommen, Lunch zu essen. Nach der unweigerlich steifen Vorstellungsrunde hatte er Percy von Howlett nach oben bringen lassen, damit er auspacken und sich erholen konnte, ehe er sich zu ihnen in den Speisesalon gesellen würde.

Boudicca war nicht beeindruckt. »Das kann man doch auf den ersten Blick erkennen. Er ist ein Milchbubi, noch feucht hinter den Ohren und gutgläubig ohne Ende. Sie können doch nicht allen Ernstes mit dem Gedanken spielen, ihm Avening Manor und, sofern ich Ihre Vereinbarung mit James richtig verstanden habe, den ganzen Rest zu vermachen.« Sie blieb stehen und starrte ihn an. »Außerdem kann er schwerlich mehr als zehn Jahre jünger sein als Sie.«

»Acht. Aber darum geht es nicht. Percy kann heiraten und Söhne zeugen, die ihn beerben.« Ihr vorwurfsvoller Blick wich blankem Erstaunen, dann sah sie mit einem Mal nachdenklich aus. Er beeilte sich, ihr zu antworten, ehe sie die Frage, die sich ihr aufdrängte, stellen konnte. »Ich möchte nicht heiraten, daher hielt ich es für klug, Percy herzuholen und seine Ausbildung in die Hand zu nehmen, damit er rechtzeitig lernt, was nötig ist, um ein Anwesen wie Avening Manor zu leiten. Bis Griggs und ich mit ihm fertig sein werden, wird er ein strahlendes Beispiel für einen umsichtigen und klugen Gutsherrn sein.«

Boudicca schnaubte abfällig. Sie wandte sich ab, aber er hörte sie halblaut sagen:

»Er könnte Griggs den Rest geben.«

Das war natürlich nicht auszuschließen … aber er hatte noch jemanden, der ihm helfen könnte und sicherlich die Bürde übernehmen würde, Percy zurechtzustutzen.

Er beobachtete sie, ging im Geiste die verschiedenen Möglichkeiten durch, wie er ihre Unterstützung gewinnen konnte. »Genau genommen«  – er erwiderte ihren Blick, als sie ihn ansah  – »dachte ich eigentlich, es würde Sie freuen, selbst wenn Sie an Percy etwas auszusetzen haben, dass ich ihn hergeholt habe. Wie die Dinge stehen, wird er sehr wahrscheinlich irgendwann einmal meinen Besitz erben. Angesichts der Ausmaße, die das alles hier angenommen hat, wird er lernen müssen, wie er ihn führt, wenn die Zügel in seine Hände übergehen.«

Sie betrachtete ihn eine Weile nachdenklich, er konnte den Ausdruck in ihren Augen nicht deuten. Dann schnaubte sie abfällig und schaute aus dem Fenster.

Als er sie am gestrigen Tag von ihr getrennt hatte, war er zum Haus zurückgekehrt und hatte die Angelegenheit mit Edward, dem Lakaien, Mrs. Connimore und Howlett diskutiert. Er hatte sich einverstanden erklärt, dass Edward bleiben durfte  – unter den bisher geltenden Bedingungen. Nachdem das geregelt war, hatte er heute Morgen Swithins kommen lassen, James’ Hilfsgeistlichen. Der Mann war, wie Boudicca schon angedeutet hatte, ein freundlicher umgänglicher Mann. Nach reiflicher Überlegung hatte er Swithins seine Entscheidung über den Blumenschmuck-Turnus mitgeteilt, die zusammen mit den Ankündigungen für die Gemeinde nach der Sonntagsmesse verlesen werden sollte. Es würde nicht schaden, wenn Swithins sich öffentlich mit Jack zeigte, vor allem um den Ehrgeiz seiner Mutter in die Schranken zu weisen.

Eine an Wallace geschickte Nachricht und eine halbe Stunde mit Jed Butler im Schankraum hatten die restlichen offenen Fragen zu einem befriedigenden Abschluss gebracht. Jack war heimgekehrt, um auf Boudicca zu warten, während er ein leises Gefühl der Befriedigung, ja, fast des Triumphes verspürte, das er zu großen Teilen Clarice zu verdanken hatte. Ihr Rat hatte ihm den Weg in die Dorfgemeinschaft geebnet, seine Stellung gefestigt, die ihm von Geburt an zustand.

Er betrachtete sie, wie sie vor dem Fenster stand, den Kopf gereckt, den Rücken gerade.

Es klopfte an der Tür, die sich sogleich öffnete. Howlett schaute herein.

»Mr. Warnefleet ist nach unten gekommen, Mylord. Ich habe ihn in den Speisesalon gebracht. Griggs ist ebenfalls dort.«

»Ausgezeichnet.« Jack erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und bot Boudicca den Arm. »Sollen wir?«

Sie sah ihn kurz mit einem zweifelnden Blick an. Dann setzte sie ihre gewohnte Miene auf und legte ihm die Hand auf den Ärmel. Er führte sie aus dem Zimmer, hocherhobenen Hauptes schritt sie neben ihm.

Sobald sie außer Howletts Hörweite waren, sagte sie halblaut: »Sie waren Spion im Feindesland, sieben Jahre nach dem Tod ihres Vaters, ohne sich groß Sorgen um Ihre Nachfolge zu machen. Dann aber kehren Sie nach England zurück und beschließen binnen weniger Monate, dass Sie sich Ihren Erben heranziehen müssen. Warum?« Sie schaute ihn scharf von der Seite an. »Es ist doch höchst unwahrscheinlich, dass Sie ausgerechnet jetzt sterben. Also, was ist in den paar Monaten geschehen, dass Sie überzeugt sind, dass Sie nie einen eigenen Sohn haben werden?«

Er konnte nicht verhindern, dass seine Kiefermuskeln sich verspannten. So unverschämt ihre Frage im Grunde genommen war, antwortete er ihr trotzdem:

»Die Saison.«

Ihr Blick blieb auf sein Profil gerichtet.

»Sie wollen mir nicht allen Ernstes weismachen, dass ein paar Monate gereicht haben, Sie gegen die gesamte weibliche Bevölkerung einzunehmen?«

»Nicht gegen die ganze weibliche Bevölkerung, nur gegen die Heiratsfähigen.« Sie näherten sich dem Speisesalon. »Sie haben sich doch in der guten Gesellschaft bewegt, haben die jungen Damen auf dem Heiratsmarkt gesehen. Sagen Sie mir, wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie eine davon heiraten?«

Sie runzelte die Stirn, schaute wieder geradeaus. Und sagte nichts weiter.

Jack unterdrückte ein Raubtierlächeln und führte sie in das Speisezimmer. Er bemerkte, wie Griggs’ Miene weicher wurde, als er Boudicca sah, bemerkte, wie sie Percy gnädig zunickte, während sie mit Hilfe von Jack neben ihm Platz nahm.

Danach ging er zum Kopf des Tisches. Als er sich setzte und Griggs und Percy es ihm nachtaten, war nicht zu übersehen, dass Clarice’ Gegenwart die Atmosphäre im Zimmer veränderte. Sie mochte nicht viel von Percy halten, aber sie ließ sich ihre Meinung durch nichts anmerken und verwickelte ihn sogleich in eine Unterhaltung über die üblichen Themen, die ihn nicht überforderten und dazu führten, dass er sich entspannte. Was Griggs anbetraf, so war klar, dass er sie einfach für wunderbar hielt.

Sie reichten die Speisen weiter. Von der Verpflichtung befreit, das Gespräch bei Tisch in Gang zu halten, lehnte Jack sich zurück und hörte zu und erkannte dankbar, wie viele Themen Clarice’ Fragen abdeckten. Unglaublich geschickt ließ sie sie in das gewohnte gesellschaftliche Geplauder einfließen. Obwohl es so aussah, als gäbe sie im Gegenzug Informationen über die lokale Bevölkerung preis, verriet Percy, beruhigt durch Clarice’ Interesse und die Gelassenheit in ihren dunklen Augen, mit erstaunlicher Bereitwilligkeit am meisten.

»Ich muss zugeben, ich bin überrascht«, erklärte sie schließlich, »dass Sie sich so rasch auf Avening Manor eingefunden haben. Es ist April, und die Saison ist in vollem Gang …« Ihre dunklen Brauen hoben sich fragend. »Oder war der Ausflug aufs Land das kleinere Übel?«

Die Frage hatte sich Jack auch schon gestellt. Er hatte Percy seine Einladung über seinen Notar in der Stadt zukommen lassen, an dem Tag, als er London verlassen hatte, und damit gerechnet, Percy in ein paar Monaten zu Gesicht zu bekommen.

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete, wie Percy, der keine Anzeichen von Unbehagen zeigte, seine offene und ehrliche Miene beibehielt. Nachdem er sich kurz seine Worte zurechtgelegt hatte, erwiderte er:

»Ich muss zugeben, Lord Warnefleets Brief hat mich in einem günstigen Augenblick erreicht. Nicht dass ich in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt hätte, aber das Leben in der Stadt ist doch unerwartet teuer. Sich mit beschränkten Mitteln zu amüsieren ist nicht leicht, es sei denn, man hat Glück beim Kartenspiel, aber das trifft auf mich leider nicht zu.«

»Sind die Spielhöllen von Pall Mall immer noch der letzte Schrei?« Clarice stellte die Frage, als ob eine Dame das selbstverständlich wüsste und es kein Fauxpas sei, in Anwesenheit der Tochter eines Marquis zuzugeben, dass man solche Etablissements frequentierte.

Jack gelang es, sich angesichts dieses geschickten Schachzuges ein verwundertes Blinzeln zu verkneifen. Griggs wusste natürlich nichts von den Spielhöllen von Pall Mall.

Percy wand sich ein wenig. Clarice tat so, als merkte sie es nicht, war augenscheinlich ganz damit beschäftigt, sich eine Dattel auszusuchen. Schließlich erklärte Percy:

»Ich bin dort ein- oder zweimal gewesen, aber… ich habe festgestellt, dass Glücksspiel nichts für mich ist.«

Clarice blickte Percy mit, wie Jack fand, ein wenig mehr Billigung an.

»Die Spieler gewinnen nie, nicht auf lange Sicht. Sie freuen sich also darauf, mehr über das Gut zu erfahren?«

Percy sah zu Jack, sichtlich verunsichert.

»Vielleicht«, schlug Jack vor, »würden Sie gerne heute Nachmittag ausreiten und sich umsehen, dann …« Er schwieg verwirrt von dem niedergeschlagenen Ausdruck, der auf Percys rundes Gesicht trat.

»Äh …« Percy machte eine Pause, dann platzte er heraus: »Ich fürchte, ich reite nicht.«

Clarice blinzelte langsam.

»Sie reiten nicht?«

Es war offenkundig, dass Percy soeben verloren hatte, wie wenig Boden er auch bei ihr gutgemacht hatte. Jack verspürte ein Aufflackern von Mitgefühl. Freundlich erwiderte er:

»Das können Sie aber lernen. Crawler, mein Oberstallmeister, wird es Ihnen liebend gerne beibringen.«

Griggs räusperte sich.

»In der Zwischenzeit könnte ich Ihnen Karten vom Gut zeigen. Sie könnten sich mit dem Besitz auf diese Weise schon einmal vertraut machen.«

»Eine ausgezeichnete Idee.« Jack lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte ermutigend. »Warum nehmen Sie Percy nicht ins Verwaltungsbüro mit und geben ihm eine kurze Einführung, erzählen ihm das Wichtigste über die Äcker und Bauernhöfe. Lady Clarice und ich haben noch etwas Geschäftliches zu erledigen. Wir treffen uns nachher mit Jones.«

»Ach ja.« Griggs nickte und stand auf.

Percy schob seinen Stuhl nach hinten und erhob sich ebenfalls. »Ah …« Sein Blick glitt zu Clarice und dann wieder zu Jack.

Jack lächelte.

»Gehen Sie nur mit Griggs. Ich spreche beim Dinner mit Ihnen.«

Percy musterte ihn einen Augenblick, dann verneigte er sich. »Danke.« Er drehte sich um und machte eine überaus perfekte Verbeugung vor ihr. »Lady Clarice.«

Sie ließ sich so weit erweichen, ihm ein gnädiges Nicken zukommen zu lassen.

Percy flüchtete.

Sobald sich die Tür hinter ihm und Griggs geschlossen hatte, schaute Clarice Jack an.

»Er wird es nie schaffen.«

Jack lächelte nur.

»Zu Jones. Wie gehen wir vor?«

Clarice betrachtete ihn einen Moment, fragte sich, ob sie es wagen sollte, ihm weiter wegen Percy zuzusetzen, ob sie ihm mit mehr Nachdruck erklären sollte, dass er lieber heiratete, statt alles Percy zu hinterlassen  – ehrlich gesagt, ein netter Kerl, aber ohne das notwendige Rückgrat. Sie beschloss, das Thema fürs Erste auf sich beruhen zu lassen, schließlich war es nicht so drängend, und wandte ihre Gedanken seiner Frage zu.

»Jones mag mich nicht, mag es nicht, mit mir zu verhandeln.« Sie sah Jack an, nahm die schlichte Eleganz wahr, mit der er sich kleidete: Ein weißes Leinenhemd bedeckte seine muskulöse Brust, das makellose Halstuch hatte er zu einem klassischen Knoten gebunden, ein gut geschnittener Rock schmiegte sich um seine breiten Schultern, die langen, kräftigen Beine steckten in Wildlederhosen und die polierten Stiefel glänzten. Sein Aussehen entsprach dem, was er war: ein wohlhabender Landedelmann. Ihre Lippen zuckten.

»Er war vermutlich entzückt, Sie zu Hause anzutreffen.«

»Das war er.«

»Nun, wenn Ihr Ziel ist, von ihm den höchsten Preis zu bekommen …?« Sie hob fragend ihre Brauen.

Jack nickte.

»Ja.«

Sie lächelte.

»Dann schlage ich vor…«

Sie verbrachten die nächsten zwanzig Minuten damit, ihre Taktik zu entwickeln und zu schärfen. Die freudige Spannung, die sie dabei ergriff, hatte nichts mit Jones’ bevorstehendem Besuch zu tun, und sie entschied, dass es unter den gegebenen Umständen klug wäre, wenigstens bis sie über Jones triumphiert hatten, Vorsicht walten zu lassen. Sie entschuldigte sich bei Jack und ging, um nach dem immer noch bewusstlosen jungen Mann zu sehen.

 

»Mr. Jones.« Jack erhob sich aus dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch und bot dem Besucher die Hand.

Jones trat näher, um sie zu ergreifen, während seine Augen siegesgewiss funkelten.

»Mylord. Ich gehe davon aus, dass die anderen Obstbauern von meinem Angebot durchaus angetan waren?«

»Allerdings.« Jack dirigierte Jones zu dem Stuhl, den er vor seinen Schreibtisch gestellt hatte. »Es steht außer Frage, dass Ihr Angebot äußerst vorteilhaft ist.«

»Ein sehr großzügiges Angebot, aber die Qualität der Apfelernte von Avening sucht auch ihresgleichen.«

Jack lächelte, er hatte die Maske des freundlichen Gentleman aufgesetzt.

»Genau. Es ist nicht Ihr Angebot, das Anlass zur Sorge gegeben hat.«

»Sorge?« Jones richtete sich in seinem Stuhl auf. »Welche Sorge denn?«

Jack spielte mit einer Schreibfeder, den Blick fest auf die Feder gerichtet, während er sie vor- und zurückschnippen ließ. Er runzelte die Stirn.

»Die Bauern im Tal sind es gewohnt, an die Händler von Gloucester zu liefern. Die meisten sind der Idee abgeneigt, daran etwas zu ändern.«

»Was? Noch nicht einmal für einen Schilling über dem Marktpreis?«

»Natürlich, wenn Sie sich damit begnügen würden, die Hälfte der Ernte zu nehmen, wäre es einfacher.«

»Hm.« Jones runzelte die Stirn, als müsse er nachdenken. Jack war sich völlig sicher, dass das gespielt war. »Ich glaube nicht, dass, wenn ich einen Schilling zusätzlich biete, die Hälfte der Ernte fair wäre … nein.« Jones richtete sich auf und reckte tapfer das Kinn. »Ich fürchte, Mylord, entweder die gesamte Ernte oder gar nichts.«

»Verstehe.« Jack klopfte mit der trockenen Feder auf seine Schreibunterlage, dann sah er Jones an. »Ich persönlich wäre bereit, das Geschäft mit Ihnen abzuwickeln  – wie Sie schon sagen, es ist schließlich Geschäft. Unsere Schwierigkeit besteht darin, die anderen zu überzeugen. Ich frage mich …« Er brach ab, als sei ihm eine Idee gekommen, schaute zur Tür und wieder zurück zu Jones. »Es gibt jemanden, dessen Meinung die anderen Obstbauern umstimmen könnte. Wenn wir sie überzeugen können, dann sind Ihnen die vollen achthundert Scheffel unserer Apfelernte sicher. Zufällig ist diejenige heute Nachmittag hier. Wenn ich sie bitte, sich zu uns zu gesellen, wären Sie dann bereit, mit mir zusammenzuarbeiten, um sie umzustimmen?«

Jones’ erwartungsfreudiges Lächeln erinnerte an ein Frettchen. »Nur herein, nur herein. Ich verspreche Ihnen, wir werden uns einig.«

Jack lächelte, erhob sich und zog an der Klingelschnur. »Hätten Sie gerne eine kleine Erfrischung?« Er deutete in Richtung des Tischchens mit den Getränken.

Jones’ Augen leuchteten.

»Danke, Mylord. Das ist überaus freundlich.«

Jack schenkte ihm ein Glas Brandy ein und sich selbst einen kleinen Schluck. Er reichte Jones das Glas, dann, als er Howletts Schritte näher kommen hörte, ging er zur Tür.

Nachdem er seine Anweisung erhalten hatte, zog Howlett sich zurück. Jack drehte sich wieder um. Jones saß entspannt da und genoss seinen Brandy.

Sich ein erwartungsvolles Grinsen verkneifend, kehrte Jack zu seinem Stuhl zurück.

Eine Minute später öffnete sich die Tür. Jack schaute auf. Clarice betrat das Zimmer. Jones’ Stuhl stand an einer Stelle, von wo aus er sie nicht sehen konnte.

Jack lächelte unschuldsvoll verbindlich.

»Da sind Sie ja, meine Liebe.« Er erhob sich nicht, sondern winkte Jones. »Mr. Jones.« Er sah ihn an. »Ich glaube, Sie haben bereits Lady Clarice’ Bekanntschaft gemacht.«

Jones warf alle guten Manieren über Bord und fuhr herum, während Clarice in königlicher Manier näher kam. Jones musste den Blick ein Stück heben, um ihr Gesicht zu sehen. Er starrte sie an, versuchte einzuatmen und verschluckte sich an seinem Brandy.

Clarice blieb neben seinem Stuhl stehen und betrachtete die zuckende, krampfhaft hustende Gestalt ohne Mitgefühl. Als er aufgehört hatte, zu keuchen, sagte sie:

»Guten Tag, Jones.«

Wenn Jack irgendwelche Zweifel gehegt hatte, wie Jones’ vorherige Zusammentreffen mit Boudicca abgelaufen waren und wer daraus als Sieger hervorgegangen war, zerstreute Jones’ Reaktion sie. Entsetzen war noch das mildeste Gefühl, das sich auf seine Züge malte.

Verständlich. Mit einem Nicken, das die Überheblichkeit eines Prinzen im Keim erstickt hätte, schwebte Clarice vorwärts, wie sie es besprochen hatten, und kam um den Schreibtisch herum. Sie blieb neben seinem Stuhl stehen, legte eine schlanke Hand auf die geschnitzte Rückenlehne, während sie den unglücklichen Jones betrachtete.

Jack konnte nicht länger ihr Gesicht sehen, ihre Gegenwart jedoch spüren. Er spürte eisige Kälte so deutlich, dass er richtiggehend dankbar war, dass sie nicht auf ihn gerichtet war. Er hatte sie nie zuvor so erlebt, in voller Kriegsbemalung sozusagen. Obwohl er mit einigen der mächtigsten Grandes Dames persönlich bekannt war, konnte keine von ihnen Boudicca das Wasser reichen.

Es war eine alte Macht, die sie benutzte; eine eindeutig weibliche Macht, die in ihr aufzuwallen und durch sie zu fließen schien. Es war keine Macht, die irgendein Mann, der seine fünf Sinne beieinanderhatte, leichtfertig herausforderte.

»Ich nehme an, Mr. Jones«, Clarice kam um seinen Stuhl herum, ihr Ton kalt war und wenig ermutigend, »dass Sie mit Ihrem gewohnten Vorschlag gekommen sind?«

Jones schluckte heldenhaft, und es gelang ihm zu sagen:

»Einen Schilling über dem Marktpreis dieses Jahr.«

Clarice’ Brauen hoben sich.

»Einen Schilling?« Sie ließ sich anmutig zu Jacks linker Seite in den Stuhl sinken, sodass sie Jones gegenübersaß.

Jede Bewegung, jede Geste seit ihrem Eintreten waren sorgsam geplant und zielten darauf ab, bei Jones den Eindruck zu erwecken, dass sie und Jack sich nahestanden.

»Meine Liebe.« Jack beugte sich vor, ganz der lässig-charmante Gentleman. Clarice richtete ihre dunklen Augen auf ihn. Er lächelte entspannt, beinahe zu vertraulich. »Mr. Jones’ Angebot ist wirklich sehr gut, ich denke, ich und die anderen Bauern wären gut beraten, ernsthaft darüber nachzudenken.«

Clarice ließ ihren Blick über sein Gesicht wandern, dann drehte sie den Kopf und musterte Jones.

»Nachdenken, vielleicht, aber es ist nun einmal Tradition, dass die Avening-Ernte nach Gloucester geht.«

»Vielleicht, meine Liebe«, erwiderte Jack, »aber es sind neue Zeiten angebrochen, und Traditionen können sich nicht auf ewig halten.«

»Allerdings, Mylady.« Jones lehnte sich vor und schaute sie an. »Es ist so, wie Seine Lordschaft sagt. Wir müssen nach vorn schauen, neue Wagnisse eingehen, neue Geschäftsabschlüsse tätigen. Das ist nun einmal der Weg in die Zukunft.«

Die nächsten zehn Minuten saß Clarice da und hörte ihnen zu, wie sie sie bearbeiteten und umzustimmen versuchten. Jones wurde immer verzweifelter, und genau das wollten sie erreichen. Was Jack anging, seine Rolle müheloser Freundlichkeit war genau berechnet und geriet nie ins Wanken. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie wie Jones geglaubt, dass er zwar nicht direkt schwach, aber leicht zu lenken war.

Während sie ihr ein Argument nach dem anderen vortrugen, gestattete sie sich eine langsam entstehende Falte zwischen den Brauen.

»Es ist nur so, als ob wir, wenn wir uns von den Händlern aus Gloucester abwenden, fast so etwas wie eine Sünde begehen, sie verraten, als ob …«

Ihr Tonfall verriet, dass sie allmählich nachgab und sich am Ende doch überreden ließ, wenn es ihnen gelänge, ihre Zweifel zu zerstreuen. Jones beugte sich so weit vor, dass er fast aus seinem Stuhl gefallen wäre.

»Aber, aber, Mylady  – es ist doch ein Geschäft, verstehen Sie? Man sollte beim Geschäftemachen niemals zulassen, dass das Herz den Verstand regiert.«

Sie schaute ihn mit zusammengezogenen Brauen an.

»Vielleicht«, Jack warf Jones einen auffordernden Blick zu, »wenn es irgendeine Form von Ausgleich gäbe, um den Bauern zu helfen, ihre Skrupel zu überwinden …« Er wirkte, als fühlte er sich ein wenig unbehaglich. »Um ganz offen zu sprechen, man müsste einen Anreiz schaffen, damit sie den Händlern aus Gloucester den Rücken kehren und mit Ihnen den Vertrag schließen.«

»Anreiz? Aber…« Jones’ Augen weiteten sich, und er lehnte sich zurück. »Was ist mit dem Schilling extra für jeden Scheffel?«

Clarice schaute ihn unbewegt an.

»Aber das ist der Preis, den Sie anbieten. Das ist kein zusätzlicher Anreiz. Nichts, um die Schwierigkeit dessen zu würdigen, was Sie von den Leuten hier verlangen. Nichts, um ihr moralisches Dilemma zu lösen.«

Jones’ Miene verriet deutlich, dass ihm noch nie zuvor ein moralisches Dilemma untergekommen war, wenigstens nicht beim Geschäftemachen.

»Ah …« Er öffnete und schloss den Mund, dann schaute er Jack an. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«

»Ach, kommen Sie, Jones.« Jack wirkte leicht verärgert, ein schwacher Mann, der mit einem strauchelnden Mitverschwörer geschlagen war. »Sie haben doch gesagt, Sie seien erpicht darauf, das Geschäft abzuschließen  – und das hier ist Ihre Chance. Ein Zeichen Ihrer Wertschätzung, als Anerkennung für die Apfelbauern von Avening, dass sie Ihnen ihre Ernte verkaufen, und achthundert Scheffel Äpfel der höchsten Qualität gehören Ihnen.«

Jack riss die Augen weit auf, drängte Jones, den Augenblick zu nutzen und den Köder zu schlucken.

Aber plötzlich blinzelte Jones.

»Achthundert?« Er sah zu Clarice. »Ich dachte, es seien letztes Mal über eintausend Scheffel gewesen?«

»Die Erntemenge schwankt beträchtlich von Jahr zu Jahr.«

Unbeeindruckt schaute Clarice zu Jack. »Soweit ich es überblicke, sind achthundert Scheffel die Menge, die wir heute verbindlich zusagen können.«

Ihr Tonfall war kühl, distanziert und wenig ermutigend. Jones spielte eindeutig mit dem Gedanken, ihr weitere Fragen zu stellen, aber nachdem er ihre hochnäsige, unnachgiebige Miene betrachtet hatte, sank er wieder auf seinen Stuhl.

Ein Augenblick verstrich. Jones blickte stirnrunzelnd in sein fast leeres Glas.

Clarice setzte sich anders hin, um auf die Uhr auf dem Kaminsims zu sehen, dann drehte sie sich zu Jones um.

»Mr. Jones, wenn Sie nichts weiter hinzuzufügen haben, es gibt da eine Reihe von Dingen, die meine Aufmerksamkeit erfordern …«

»Nein, nein! Bitte …« Er sah zu Clarice, dann zu Jack. »Ich habe nur nachgedacht, was ich tun kann …« Er schluckte. »Als Anreiz.«

Es war eine Vorstellung, die er nur schwer verdauen konnte. Clarice blieb sitzen, klopfte aber leicht mit den Fingernägeln auf die hölzerne Armlehne.

Jones blickte von ihren Fingern zu Jack. »Wie viele Apfelbauern sind es?«

Jack verzog das Gesicht.

»Das weiß ich nicht genau.«

»Siebzehn.« Clarice richtete ihren Blick auf Jones. »Warum?«

»Ich habe nur überlegt. Sagen wir zwei Pfund für jeden Bauern als … als Anerkennung, dass sie ihre Ernte an mich verkaufen?«

»Drei Pfund«, verlangte Clarice.

Jones starrte sie an. Sie konnten sehen, wie er rasch in seinem Kopf die Zahlen überschlug.

»Drei Pfund für jeden Bauern plus ein Schilling pro Scheffel über dem Marktpreis und Sie erhalten achthundert Scheffel Avening-Äpfel.« Clarice erwiderte Jones’ Blick, dann hob sie arrogant eine Braue. »Ist das ein Geschäft, Mr. Jones?«

Jones schluckte, dann nickte er.

»Abgemacht.«

»Ausgezeichnet.« Jack lehnte sich in seinem Stuhl zurück, ein verbindliches Lächeln auf dem Gesicht. »Hier  – ich habe meinen Verwalter einen Vertrag für das Geschäft aufsetzen lassen. Sie müssen nur die Zahlen einsetzen und hier unterschreiben …«

Clarice behielt ihre hochnäsige Distanz bei, als Jack Jones den Vertrag unterzeichnen ließ. Sie hatten keine Ahnung gehabt, ob sie Jones auf zusätzliche Zusagen würden festnageln können; die Befriedigung des Erfolges schmeckte süß.

Als alles ordnungsgemäß unterzeichnet war, erhob Jones sich. Er starrte auf das Dokument, als könne er nicht ganz begreifen, wie es so weit hatte kommen können.

»Nun, Jones, nach der nächsten Ernte werden wir Ihnen achthundert Scheffel zu Ihrem Geschäft in Bristol liefern.« Jack klopfte ihm auf die Schulter und drehte ihn zur Tür um. Jones wehrte sich nicht. »Sobald Sie mir die Anzahlung für die Vertragsprämie geschickt haben, ist alles wasserdicht. Meinen Glückwunsch!«

Jack bot ihm seine Hand. Jones schien aus seiner Erstarrung zu erwachen. Er griff nach Jacks Hand, und seine Miene klärte sich.

»Danke, Mylord.« Jones lächelte, während er ihm die Hand schüttelte. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«

Jones drehte sich zum Schreibtisch um und verneigte sich. »Lady Clarice.«

Selbst vom anderen Ende des Zimmers aus konnte Clarice die Selbstzufriedenheit in Jones’ Augen erkennen. Er dachte, er habe sie am Ende doch geschlagen. Königlich neigte sie das Haupt.

»Bis zum nächsten Mal, Jones.«

Sein Lächeln wankte einen Moment lang, dann aber wurde es wieder breiter. Er wandte sich zur Tür, die Jack ihm aufhielt. Mit einem beinahe fröhlichen Nicken ging er.

Jack brachte Jones bis in die Eingangshalle und überließ es Howlett, ihn hinauszugeleiten. Als er in das Arbeitszimmer zurückkehrte, fand er Clarice immer noch in ihrem Stuhl neben dem Schreibtisch thronend. Er schloss die Tür und durchquerte das Zimmer. Er blieb vor ihr stehen und streckte ihr die Hände hin.

Sie schaute auf, legte beide Hände in seine und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen. Sie standen dicht voreinander. Ihre Blicke trafen sich, verfingen sich.

»Der Sieg ist unser.« Das Lächeln, das seine Lippen kräuselte, hatte nichts mit Charme zu tun, aber das war Absicht.

Ihre Lippen verzogen sich, ihr typisches schwer fassbares aufreizend-zaghaftes Lächeln.

Er ließ ihre Finger los und fuhr mit den Händen ihre Unterarme hoch, griff nach ihr …

Sie hörten beide die hastig nahenden Schritte vor der Tür, eine Sekunde, bevor es klopfte.

Jack verkniff sich einen Fluch und stellte sich rasch ans andere Ende des Schreibtischs, während Clarice sich gegen ihren Stuhl lehnte.

»Herein!«

Eines der Zimmermädchen für das obere Stockwerk steckte den Kopf durch die Tür.

»Mrs. Connimore hat mich geschickt, Mylord. Sie sagt, ich soll Ihnen und Lady Clarice ausrichten, dass der junge Herr sich rührt. Sie dachte, Sie wollten vielleicht dabei sein, falls er wieder zu sich kommt.«

»Ja, natürlich.« Clarice stieß sich von dem Stuhl ab und ging zur Tür.

Sich ein frustriertes und enttäuschtes Seufzen verkneifend, fluchte Jack leise und folgte ihr.

 

Griggs schaute aus dem Verwalterbüro heraus, um ihm eine Frage zu stellen. Jack holte Clarice ein, als sie das Krankenzimmer betrat und zum Fußende des Bettes ging. Der junge Mann lag genauso reglos da wie in den vergangenen Tagen. Seine Augen waren geschlossen; sein Gesicht ließ jegliche Lebendigkeit vermissen.

Mrs. Connimore seufzte tief.

»Er war rastlos, begann sich zu rühren  – einen Moment lang dachte ich, er könnte mich hören, dann aber war er gleich darauf wieder weg.«

Jack schaute zu Clarice. Sie betrachtete das bleiche Gesicht des jungen Mannes mit gerunzelter Stirn. Er schaute wieder zu Mrs. Connimore.

»Wenigstens zeigt das, dass er nicht die ganze Zeit tief bewusstlos ist. Bei manchen Verletzungen entscheidet der Körper, was er braucht, zum Beispiel Schlaf, und gestattet nichts anderes. Seine Bewusstlosigkeit mag zum Besten für ihn sein  – wenigstens können so seine Knochen in Ruhe heilen.«

Mrs. Connimore nahm seine Worte mit einem Nicken zur Kenntnis. Clarice schien sie kaum zu hören.

Jack beugte sich vor, um ihr Gesicht besser sehen zu können, sie schaute auf und sah ihm in die Augen.

»Was ist? Haben Sie ihn wiedererkannt?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, und sie sahen wieder zu dem jungen Mann. Clarice deutete auf ihn.

»Je mehr er an Gewicht verliert, je hagerer sein Gesicht wird, desto sicherer bin ich mir, dass ich wissen sollte, aus welcher Familie er stammt. Aber ich komme einfach nicht darauf.«

Sie starrten beide den jungen Mann wieder an, dann berührte Jack sie am Arm.

»Hier zu stehen und Ihr Gedächtnis zu etwas zu zwingen, wird nichts bringen. Kommen Sie, ich bringe Sie zurück zum Pfarrhaus.«

Sie seufzte und wandte sich ab. Er geleitete sie die Treppe hinab, wartete, während sie ihren Hut von dem Tischchen in der Eingangshalle nahm und ihn sich ohne große Umstände aufsetzte. Dann öffnete er ihr die Haustür und folgte ihr.

Zusammen traten sie auf den kiesbestreuten Vorhof. Statt die Auffahrt hinabzugehen, fasste Jack sie am Arm und zeigte zu den üppig grünen Rasenflächen, die zum Fluss hin abfielen. »Lassen Sie uns dort entlanggehen.« Er blickte zum Himmel, ein strahlendes Blau, ungestört von Wolken; wenigstens das Wetter spielte mit. »Der Weg ist netter, besonders an einem Tag wie heute.«

Clarice erklärte sich mit einem Nicken einverstanden. Sie schien abgelenkt, dachte wahrscheinlich immer noch über den bewusstlosen jungen Mann nach.

Die Hände in seinen Taschen schlenderte er neben ihr her, als sie über den Rasen zu dem Weg entlang des Flussufers gingen. Jack wollte ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. »Vor mehr als dreizehn Jahren war ich das letzte Mal länger zu Hause.« Er schaute sie an. »Ist es immer noch gesellschaftlich eher ruhig hier oder hat die Ankunft der Tochter eines Marquis in diesem verschlafenen Kaff zu hektischer Betriebsamkeit und Bällen und Abendgesellschaften geführt?«

Sie hob den Blick, schaute nach vorn, wo der Bach zwischen grünen Ufern gurgelte und plätscherte; ihre Lippen waren zu einem selbstironischen Lächeln verzogen.

»Anfangs. Aber«, sie blickte flüchtig zu ihm, »in Wahrheit war ich bei der guten Gesellschaft hier restlos in Ungnade gefallen. Das Letzte, was ich wollte, waren Bälle und Abendgesellschaften, bei denen ich allen irgendwie in Frage kommenden Männern im Umkreis von zwanzig Meilen vorgestellt werden würde. Natürlich«, ihre Stimme klang zynisch resigniert, »ließ sich nichts dagegen unternehmen, aber sobald der erste Glanz des Neuen verblasst war und ich keinerlei Ambitionen zeigte, der Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaft hier zu werden, und klar war, dass meine Interessen auf ganz anderen Gebieten lagen, ließ der Trubel allmählich nach, und die Normalität kehrte wieder zurück. Ich wurde im Großen und Ganzen nicht weiter behelligt, damit ich mich meinen Aufgaben widmen konnte.«

»Insbesondere meinen Besitz zu führen. Ich weiß, ich weiß.« Er fing ihren Blick auf, als sie ihn anschaute, und lächelte, um seinen Worten den Stachel zu nehmen. »Sie waren hier und ich nicht.« Sie gingen eine Weile schweigend weiter, dann fügte er in weniger leichtfertigem Ton hinzu: »Dafür bin ich wirklich dankbar.«

Der flüchtige Blick, den sie ihm mit einer hochgezogenen Braue zuwarf, verriet ihm, dass sie wusste, dass er dazu auch allen Grund hatte.

»Widerstrebend gestehen Sie es ein, aber Sie meinen es ehrlich, nicht wahr?«

Ironisch senkte er den Kopf.

»Ja.«

Sie bogen auf den schmalen Weg, der dem sich verästelnden Bach folgte. Er würde sie durch die Felder und Wiesen des Herrschaftssitzes führen, unter der Brücke hindurch, über die die Straße verlief, und dann weiter zu den Feldern, die an das Pfarrhaus grenzten.

Er musterte ihr Profil. Wie sollte er in Erfahrung bringen, was er wissen wollte?

»Und nach dem ersten Ansturm, da haben Sie hier ruhig und zurückgezogen gelebt?«

»Ich bezweifle, dass sich viel in den Jahren geändert hat. Die Gesellschaft auf dem Land bleibt friedvoll und anspruchslos.«

»Vielleicht, aber ich kann es schwer glauben, dass die Gentlemen hier derart auf den Kopf gefallen sein sollen. Sicher kommen sie doch, um ihre Aufwartung zu machen, oder?«

Ihre Augen wurden schmal.

»Das tun sie unseligerweise tatsächlich. Zu oft. Man sollte doch meinen, nach sieben Jahren hätten sie begriffen,…«

Ihre Worte verklangen. Als sie nicht weitersprach, beendete er den Satz für sie:

»Dass Sie nicht die Absicht hegen, irgendeinen von ihnen zu heiraten?«

»Genau.« Ihre Augen blitzten vor Empörung; ihr Ton war brüsk.

Er lächelte unbeschwert, seine Miene verriet milde Belustigung. Er beglückwünschte sich, ihr die Antwort auf seine wichtigste Frage entlockt zu haben.

»Sie werden Nachsicht mit ihnen haben müssen  – es sind schließlich bloß Männer.«

Ihr leises Schnauben sagte mehr als Worte. Sein Lächeln vertiefte sich.

Also hatte sie gegenwärtig keinen Verehrer und verspürte auch nicht den Wunsch nach einem. Und wenn er sich ein Urteil erlauben durfte, so war sie grundsätzlich nicht sonderlich von Herren angetan, jedenfalls nicht von denen, die nach ihrer Hand strebten. Berücksichtigte man ihre Vergangenheit, überraschte ihn das nicht. Keiner Dame ihres Schlages, mit besten Verbindungen, reich und zu allem Überfluss auch noch attraktiv, gelang es, im überreifen Alter von neunundzwanzig noch unverheiratet zu sein, ohne dass zuvor drastische Entscheidungen bezüglich der Institution Ehe getroffen worden waren. Aber er hatte sicher sein wollen, und nun war er es.

Allerdings, auch wenn eine Ehe für sie nicht infrage kam, konnte sie in der Gegend einen Liebhaber haben, der sie in einem ähnlichen Licht wie er sah und alle paar Tage herübergeritten kam, um sich mit ihr zu treffen.

Er warf ihr einen Blick zu, erinnerte sich wieder, wie sie ihn geküsst hatte. Hungrig, wenn nicht sogar ausgehungert. Sogar wenn sie tatsächlich einen Liebhaber gehabt hatte und man ihre Reaktion auf ihn bedachte, musste er das überhaupt wissen?

»Da wir gerade von der guten Gesellschaft und ihrer Besessenheit mit dem Thema Heirat sprechen, was ist geschehen, dass Sie aus der Stadt weggegangen sind?«

Die Frage, in ihrem gewohnt ruhigen Tonfall gestellt, riss Jack aus seinen Gedanken. Er blinzelte und blickte geradewegs in ein Paar dunkler Augen, die einen gehörigen Teil Gerissenheit enthielten und eine Fähigkeit, hinter die Fassade zu blicken, die seiner vielleicht sogar ähnelte.

»Sie hatten bestimmt einen Zusammenstoß mit den Matronen und ihren Schützlingen.« Clarice hob die Brauen, Herausforderung und leise Belustigung im Blick. »Ich gebe zu, ich finde es schwer, mir vorzustellen, dass sie so gründliche Arbeit geleistet haben.«

Trotz seiner äußeren Gelassenheit blieb der Verstand hinter seinen haselnussbraunen Augen scharf, während er ihre Beobachtung beiseiteschob.

»Ich war einfach bereit, meine Zelte dort abzubrechen und weiterzuziehen.« Er schaute nach vorn und fuhr fort: »Was dort angeboten wurde, war einfach nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Und wie es angeboten wurde«, seine Kiefermuskeln verkrampften sich, »brachte das Fass zum Überlaufen.«

»Verstehe.« Sie sagte das eher unwillkürlich, aber sie begriff. Nach drei Saisons, ganz zu schweigen aufgrund der Kreise, denen sie von Geburt an angehört hatte, wusste sie genau, wie es in der guten Gesellschaft zuging und was er erlebt haben musste. Die Matronen hatten sich bei ihm wahrscheinlich verkalkuliert. Er war jedenfalls entschieden gegen, wie er es bezeichnet hatte, den heiratsfähigen Anteil der weiblichen Bevölkerung eingenommen und schien diese Einstellung für unwiderruflich zu halten. Nicht nur, dass er sich auf dem Lande aufhielt, während die Saison in vollem Gange war, er hatte auch nach Percy geschickt und wollte ihn zu seinem Erben machen.

Sie fand seine Entscheidung nicht nur interessant und in höchstem Maße erhellend, sondern sie war in gewisser Weise auch erleichtert. Sie verspürte nicht den Wunsch, sich mit einem Gentleman wie ihm einzulassen, jemandem mit seinem Status, der auf der Suche nach einer Braut war. Nicht noch einmal. Nie wieder.

Wie auch immer, abgesehen von allen Gedanken an eine Ehe  – und wie erfreulich, dass sie beide damit abgeschlossen hatten  – blieb die faszinierende Frage bestehen, warum sie so auf ihn reagierte. Sie war sich nicht sicher, was so eine Reaktion beinhaltete und ob es klug war, ihr nachzugeben, aber besagte Reaktion reichte aus, dass sie sich zu fragen begann, wo das alles hinführen würde.

Mit ihnen. Mit ihr und dem Lord von Avening Manor.

Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu. Er ging mit lässiger Anmut neben ihr, seinen Blick auf den Bach gerichtet. Sie nutzte die Gelegenheit und musterte ihn ausgiebig. Seine Stärke war so durchdringend, dass er nichts tun musste, sich nicht auf besondere Weise bewegen musste, um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken; sie war einfach da.

Wenn sie ihm so nahe wie jetzt war, nur wenige Schritte von ihm entfernt, war sie sich seiner körperlichen Nähe sehr bewusst. Und zwar seiner männlich körperlichen Nähe, die ihre weiblichen Sinne reizte wie eine Hand, die mit äußerster Behutsamkeit eine Katze streichelte. Eine hauchzarte Berührung, eher eine Andeutung von Zärtlichkeit.

Unter seinem Einfluss gerieten ihre Sinne in Aufruhr und wollten mehr.

Viel mehr.

Und damit wagte sie sich auf unerforschtes Gebiet. Sie wusste, was Herren gewöhnlich unter »mehr« verstanden. Was sie hingegen nicht wusste, war, was sie sich wünschte, denn sie hatte nie zuvor mehr gewollt, von niemandem. Nie zuvor waren ihre Sinne derart angesprochen, ihr Verlangen so unaufhaltsam geweckt worden.

Er hatte Erfolg, wo alle anderen versagt hatten. Bis jetzt hatte sie nicht gewusst, dass es immer noch möglich war. Wie die Mehrheit der guten Gesellschaft hatte sie sich gefragt, ob sie nach drei, alles andere als befriedigenden »Verlobungen« eine dieser Frauen geworden war, die nie wieder an den körperlichen Aspekten einer Beziehung interessiert sein würde.

Aber jetzt war sie interessiert, seinetwegen. Und irgendwo in ihrem Hinterkopf hatte sich die beunruhigende Erkenntnis festgesetzt, dass die Anziehung, die sie spürte, nicht einzig ihrer Bewunderung für sein Äußeres entsprang.

Sie hatte den heutigen Tag genossen, es genossen, sich mit ihm zusammenzutun, um Jones in die Zange zu nehmen und das beste Angebot für die Obstbauern der Gegend zu erzielen, die sich auf sie verließen und ihnen vertrauten, die Richtung vorzugeben. Eine erfolgreich abgeschlossene Aufgabe, fraglos, aber es war nicht der Sieg, der sie beflügelt hatte; sie hatte das Planen und die Ausführung viel mehr genossen, als wenn sie allein mit Jones hätte fertig werden müssen. Sie hatte nie zuvor mit jemanden auf diese Weise zusammengearbeitet, ganz zu schweigen von der Freude, die sie dabei empfunden hatte, mit jemandem eine Aufgabe in Angriff zu nehmen, der wie sie dachte, ihre Ideen verstand und ihren Gedankengängen so mühelos folgen konnte.

Ihren gemeinsamen Triumph genoss sie auf mehr als nur auf einer Ebene.

Eine Schande, dass Mrs. Connimore sie ausgerechnet in dem Augenblick hatte holen lassen.

Der Gedanke erinnerte sie an Jacks Verletzung, die er geneigt schien, als unwichtig abzutun oder ihr wenigstens nicht viel Bedeutung beizumessen. Sie sah ihn wieder an. Wenn sie nicht zufällig das mit seiner Verletzung mit angehört hätte, hätte sie geschworen, er sei in bester Verfassung, gesund und munter. Selbst jetzt noch konnte sie die Vorstellung, dass er unter einer unheilbaren Erkrankung litt, die tödlich ausgehen würde, ehe er heiraten und einen Erben zeugen konnte, was wiederum Percys Anwesenheit erklären würde, nur als blanken Unsinn abtun.

Was sie mit der Frage zurückließ, ob seine Verwundung doch nicht so schwerwiegend war  – das hatte er wenigstens Mrs. Connimore gegenüber angedeutet  – und ob sie nicht irgendetwas mit seiner Entschlossenheit zu tun haben könnte, Percy als seinen Nachfolger zu wählen … und möglicherweise lehnte er auch deshalb eine Ehe ab.

Er blieb stehen. Aus ihren Gedanken gerissen, ging auch sie nicht weiter und schaute ihn an. Er hatte sich umgedreht, um den Bach zu betrachten. Sie folgte seinem Blick und stellte fest, dass sie neben dem tiefen Teich im Wäldchen standen, das die Ländereien des Herrensitzes von der Straße und der Brücke trennte. Die Bäume waren gerade erst ergrünt, ihr frisches Blattwerk bildete einen sehr wirksamen Sichtschutz. Das Sonnenlicht fiel durch sie und malte ein Fleckenmuster auf den braunen Erdboden um sie herum und auf den Weg.

Lautes Vogelzwitschern und das Flattern von Flügeln drang durch die Baumkronen. Das Plätschern des Baches ging an der Stelle in ein Seufzen über, wo er in den tiefen Teich mündete und ruhiger weiterfloss.

»Das hier war mein Lieblingsort als Kind. Ich bin hierhergekommen, um zu angeln, wann immer ich konnte.«

»Allein?«

»Meistens.« Jack blickte zum anderen Ufer, wo die Bäume und Büsche bis zum Wasserrand wuchsen. »Das Dorf ist ein gutes Stück entfernt, und in der Nähe gibt es keinen Bauernhof. Um herzukommen, hätten die Burschen aus dem Dorf über Avening-Land gehen müssen, aber sie hatten Angst vor unserem Jagdaufseher Cruikshanks.«

Neben ihm schaute Boudicca auf die glatte Oberfläche des Teiches.

»Hier ist nur noch selten jemand.« Sie sah zu ihm auf und begegnete seinem Blick. »Ich gehe hier oft entlang. Es ist ein so lieblicher Ort, meistens ist man ungestört.«

Das war genau der Grund, weswegen er sie hergebracht hatte. Er hob die Brauen.

»Sie angeln?«

Ihre Brauen hoben sich noch ein Stück, wirkten noch hochnäsiger.

»Nicht hier, aber ich angele tatsächlich von Zeit zu Zeit.«

Er blinzelte.

»Eine weitere Beschäftigung, die nicht auf der Liste erforderlicher Fähigkeiten für die Tochter eines Marquis steht.«

Sie lachte und drehte sich wieder um.

»Ich habe drei ältere Brüder. Als wir noch Kinder waren, sind sie so oft wie möglich mit ihren Angelruten verschwunden.«

»Und ihre kleine Schwester ist ihnen gefolgt?«

Sie neigte den Kopf.

»Wann immer ich konnte, was häufiger war, als meine Stiefmutter sich gewünscht hätte. Allerdings war sie einer der Hauptgründe, warum ich überhaupt entkommen wollte.«

»Sie sind nicht gut mit ihr ausgekommen?«

»Nein, aber nicht nur deswegen bin ich Angeln gegangen. Zu ihrer Entrüstung war ich nie sonderlich daran interessiert, eine ›echte kleine Dame‹ zu sein.« Sie drehte sich zu ihm, sah ihm in die Augen. »Und ich war nie klein. Nachdem ich mir ständig anhören musste, dass Angeln nur etwas für Jungen sei, wurde ich nur umso entschlossener, daran Spaß zu haben.«

Jack lächelte. Er fand es nicht schwer, sich eine wesentlich jüngere Boudicca vorzustellen, die entschlossen ihren eigenen Weg durchs Leben ging. Ihm fiel wieder ein, was James ihm über sie erzählt hatte. Es war leicht zu erkennen, dass der Wunsch, selbst über alles zu bestimmen, bei ihr schon früh recht ausgeprägt gewesen war.

Sie ging langsam den Weg entlang, nicht so forsch wie vorher. Er folgte ihr lautlos. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Blätterdach und auf ihr Haar; es schimmerte herrlich und brachte den blutroten Granatton in ihrem vollen Chignon zum Leuchten.

Es juckte ihn in den Fingern, seine Hand unter die seidige Haarpracht zu schieben. Er sehnte sich danach, die herausfordernd entblößte zarte Haut in ihrem Nacken zu streicheln, als sie auf den Weg vor sich schaute.

Er beschleunigte seinen Schritt, fasste sie am Ellbogen und drehte sie herum, sodass sie stehen blieb und ihn ansah. Dann zog er sie in seine Arme.

Sie blinzelte und riss die Augen weit auf, als sie begriff, was er vorhatte. Er unterdrückte ein siegesgewisses, allzu hungriges Lächeln.

»Wir haben unseren Sieg über Jones noch nicht gefeiert.«

Sie wich nicht zurück, verspannte sich noch nicht einmal; er spürte kein Zurückzucken, keinen Widerstand in ihr. Ihre Augen waren suchend auf seine gerichtet, dann hob sie die Brauen. »Nein, das haben wir nicht.«

Ihre Stimme war einen Hauch atemlos, aber es war kein Zögern darin  – kein Zurückweichen  – in ihren wunderschönen Augen. Ihr offener Blick fachte sein Verlangen an; sie wartete, ruhig, gelassen auf das, was er tun würde …

»Ich denke, das sollten wir aber.« Er beugte den Kopf.

Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen.

»Ja.«