3
Jack folgte James nach draußen und über den Rasen in den Garten, einen friedvollen Ort mit hohen Bäumen.
»Ich möchte immer noch nicht auf meinen Spaziergang nach dem Mittagessen verzichten.« James winkte ihn zu einem ausgetretenen Pfad, der um den Rasen herum verlief. Jack ging neben ihm. »Und jetzt erzähl mir alles.«
Jack gehorchte und berichtete alles, was er vorhin ausgelassen hatte, wobei James seine Aktivitäten während des Waterloo-Einsatzes am meisten interessierten. »Und das, dem Himmel sei Dank, war dann das Ende. Sobald Napoleon auf dem Weg nach St. Helena war, bestand keine Notwendigkeit mehr, dass einer von uns weiter in Frankreich blieb.«
»Also bist du hierher zurückgekehrt. Ich nehme an, dass du deine Erbschaftsangelegenheiten zufriedenstellend geregelt hast?«
Jack nickte.
»Es hat allerdings länger gedauert, als ich dachte, aber jetzt bin ich zufrieden mit dem neuen System, das wir ersonnen haben – es sollte es mir ermöglichen, von hier aus alles zu überwachen.« Er blickte sich in der vertrauten Umgebung um und bemerkte, wie sehr die Bäume und Büsche gewachsen waren. »Und jetzt kannst du mich auf den neusten Stand bringen.«
James lächelte und zählte Geburten, Todesfälle und Hochzeiten auf, teilte ihm mit, wer fortgezogen und neu hinzugekommen war.
»Und wie Griggs dir gewiss schon erzählt hat, sind all deine Pächter noch da. Avening ist fast noch genauso, wie du es verlassen hast, allerdings …«
Jack hörte ihm genau zu, prägte sich möglichst viel davon ein, denn alles, was James sagte, versorgte ihn mit wichtigen Informationen.
Schließlich jedoch verstummte James, allerdings ohne Jack zu verraten, was ihn am meisten interessierte. Innerlich seufzte er und bemerkte:
»Du hast ein wesentliches Ereignis vergessen – Lady Clarice. Wann kam sie her?«
James grinste und ging weiter. »Zwei Monate nach dem Tod deines Vaters. Es war im Grunde genommen sehr günstig.«
»Günstig?«
»Nun.« James verzog das Gesicht. »Dein Vater ist immer eine Stütze für das ganze Dorf gewesen. Sein Wort war Gesetz, nicht unbedingt nur im juristischen Sinn. Alle haben sich auf seinen Rat verlassen und mehr noch auf sein Urteil, seinen Schlichterspruch, wenn du so willst, bei größeren und kleineren Streitigkeiten. Die Leute hatten sich daran gewöhnt, sich auf ihn zu verlassen, aber dann war er plötzlich nicht mehr da – und du warst ebenfalls nicht erreichbar.«
Jack schaute ihn an.
»Aber du warst doch hier.«
James seufzte.
»Ich fürchte, mein lieber Junge, dass ein Lehrauftrag für das Balliol-College einen nicht notwendigerweise dazu befähigt, in die Fußstapfen deines Vaters zu treten. Zu dem Zeitpunkt, als Clarice eintraf, herrschte praktisch ein heilloses Durcheinander.«
Jack wunderte sich.
»Und sie hat alles wieder in Ordnung gebracht?«
»Ja. Im Gegensatz zu mir«, James lächelte selbstironisch, »ist sie dazu erzogen worden, in diese Rolle zu schlüpfen.«
Jacks Verwunderung nahm zu.
»Sie hat erwähnt, dass sie Meltons Tochter sei.« Was also tat sie hier?
»In der Tat. Melton, ihr Vater, war einer meiner Cousins. Mein Vater war der jüngere Bruder seines Vaters.«
Als James weiter nichts dazu sagte, schwieg auch Jack und wartete ab.
Schließlich lachte James leise.
»Also gut, obwohl es aus heutiger Sicht eine alte Geschichte ist. Clarice war Meltons viertes Kind von seiner ersten Frau, die einzige Tochter aus der Verbindung. Ihre Mutter Edith war eine beeindruckende Frau, eine echte Grande Dame.«
Vermutlich deshalb hatte Boudicca eine so starke Persönlichkeit.
»Edith ist an einem Fieber gestorben, als Clarice noch jung war. Vier oder fünf Jahre, genau erinnere ich mich nicht. Melton hat wieder geheiratet und mit seiner zweiten Frau einen Haufen Töchter gezeugt und schließlich einen vierten Sohn, viel weiß ich nicht über die Kinder. Nichtsdestotrotz wäre Clarice’ Leben vermutlich nach dem vorgezeichneten Muster verlaufen, schließlich mangelt es nie an Familien, die darauf aus sind, sich mit einem Marquis zu verbinden, wenn sie sich nicht im Alter von sechzehn Jahren in den Sohn eines Nachbarn verliebt hätte, der beim Militär war. Nicht unbedingt das, was Melton vorschwebte, aber der Bursche war Erbe eines recht ordentlichen Besitzes, daher erlaubte Melton Clarice, ihn zu ermutigen. Alles gut und schön, aber dann ging der junge Mann nach Spanien und starb dort in einem Gefecht. Clarice war am Boden zerstört. Statt in London bei Hof vorgestellt zu werden und ihr Debüt zu machen, verbrachte sie die nächsten Jahre ruhig und zurückgezogen auf Rosewood, Meltons Stammsitz.«
»Und was hat sie dann hierher geführt?«
»Ah, wir sind doch erst höchstens bei der Hälfte der Geschichte angekommen.« James machte eine Pause, ordnete seine Gedanken und fuhr dann fort: »Wie gesagt, es hat nie einen Mangel an Gentlemen gegeben, die an Meltons Vermögen interessiert waren. Clarice ist sechs Jahre älter als ihre nächstjüngere Schwester. Ein Schurke namens Jonathan Warwick hörte von Clarice. Er ging nach Rosewood und stellte ihr nach, war aber gerissen genug, seine wahren Absichten zu verschleiern.«
»Ich erinnere mich an Warwick.« Jack hörte die Härte, die sich in seine Stimme geschlichen hatte. »Wir haben uns vor langer Zeit getroffen, als ich in der Stadt lebte, ehe ich mich verpflichtet habe. Selbst damals wäre ›Schurke‹ noch eine freundliche Umschreibung gewesen.«
»Stimmt. Zu dem Zeitpunkt, als er sich an Clarice heranmachte, waren Warwicks Besitzungen bis unters Dach mit Hypotheken belastet, er wurde von allen Seiten mit Mahnungen überhäuft, aber er sah attraktiv aus und spielte den gut betuchten, durch und durch begehrenswerten Junggesellen. Und er wusste genau, wie er aus seinem hübschen Gesicht maximalen Profit schlagen konnte.«
Jack merkte sich, dass er, sollte er Warwick jemals wieder begegnen, seinem hübschen Gesicht ein neues Aussehen verpassen würde.
»Soweit ich gehört habe, trieb Warwick es mit Clarice so weit, dass er, als er Melton um Erlaubnis bat, sie zu heiraten, sofort hinausgeworfen wurde. Warwick gelang es, Clarice zu überreden, mit ihm durchzubrennen. Natürlich hatte Warwick nicht ernsthaft vor, diesen Plan in die Tat umzusetzen, denn er wollte keinesfalls seinen Zutritt zu den besten Kreisen aufs Spiel setzen. Deshalb hat er Melton eine Nachricht mit einer Forderung geschickt. Für Melton war es am einfachsten, ihm Geld zu bieten. Womit weder Warwick noch Melton rechneten, war, dass Clarice zufällig das Gespräch über diese Transaktion mit anhören würde. Meltons Schilderung zufolge stürmte sie herein, durchbohrte Warwick mit einem Blick und ohrfeigte ihn so heftig, dass er fast vom Stuhl fiel. Nachdem sie ihm in unmissverständlichen Worten ihre Meinung bezüglich seiner Abstammung mitgeteilt hatte, marschierte sie aus dem Zimmer. Melton war richtiggehend stolz auf sie.«
Jack runzelte die Stirn.
»Also kam sie hierher, um dem Klatsch zu entgehen?«
»Nein. Greif den Ereignissen nicht voraus, mein Junge.« James schnaubte abfällig. »Wie auch immer, kannst du dir vorstellen, dass sich Clarice aus Gerüchten etwas machen würde? Ich bin mir nicht sicher, dass viele es wagen würden, hinter ihrem Rücken über sie zu reden. Aber egal, dieser Zwischenfall mit Warwick hatte zur Folge, dass sie sich dafür entschied, dass es höchste Zeit sei, sich in der Hauptstadt einen Ehemann zu suchen. Sie war zwanzig, und es war an der Zeit, das Haus ihres Vaters zu verlassen. Ein beachtenswert vernünftiger Entschluss, dem Melton und seine zweite Frau aus vollstem Herzen zustimmten. Also machte sich Clarice mit der ihr eigenen gewohnten Zielstrebigkeit auf und zog in der nächsten Saison in den Kampf.«
Jack hatte keine Schwierigkeiten, sich das vorzustellen.
»Wie auch immer – und hier ziehe ich jetzt Schlüsse aus dem, was ich aus Briefen erfahren habe –, Clarice erwies sich als anspruchsvoll und schwer zufriedenzustellen. Nicht einer aus der Schar ihrer Bewunderer, die sich ihr zu Füßen warfen, fand Gnade vor ihren Augen. Schlimmer noch, nach zwei weiteren Saisons hatte sie sich den Ruf erworben, eine Eisprinzessin zu sein, bei der nicht zu erwarten war, dass sie je bei einem Mann dahinschmelzen würde.«
Jack blinzelte verwundert. Eisig war nicht gerade eine Eigenschaft, die er mit Boudicca in Verbindung gebracht hätte.
»Was uns zu ihrer dritten und letzten Saison führt, gleich zu Beginn, als Clarice und ihre Stiefmutter Moira in die Hauptstadt zurückgekehrt waren. Es hatte zwischen Moira und einem gewissen Viscount Emsworth einen Briefwechsel gegeben, von dem Clarice nichts wusste. Langer Rede kurzer Sinn: Emsworth besaß einen Titel und Ländereien, aber unzureichende Geldmittel, und er war zudem ehrgeizig, denn er war auf der Suche nach einer Braut mit einer großen Mitgift und besten Verbindungen.«
»Clarice erfüllte seine Anforderungen, nehme ich an.« Jack hörte seinen grimmigen Tonfall und fragte sich, warum er sich fühlte, als ob er Emsworth liebend gerne einen Faustschlag ins Gesicht verpassen würde.
»Haargenau. Emsworth hatte Melton geschrieben und um Clarice’ Hand gebeten. Er stellte es als eine für alle Seiten vorteilhafte Vernunftehe dar. Moira wollte zu der Zeit Clarice unbedingt verheiratet und aus dem Haus haben – ihre eigene älteste Tochter sollte im folgenden Jahr ihr Debüt machen. Clarice war Meltons Lieblingstochter, und sie hatte die größte Mitgift. Zudem verfügte sie über eigenes Vermögen, das sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Sie hat eine viel… beeindruckendere Ausstrahlung als ihre Halbschwestern. Genau genommen, wenn sie sich mit ihr im selben Zimmer aufhielten, rückten die anderen vollkommen in den Hintergrund. Man konnte Moiras Einstellung also in gewisser Weise nachvollziehen.«
James machte eine Pause, während sie sich umdrehten und wieder zurückgingen. Jack schwieg.
»Moira bedrängte also Melton, Emsworths Heiratsantrag anzunehmen. Melton wollte Clarice fragen, aber Moira überzeugte ihn davon, dass es besser sei, Emsworth mache Clarice während der Saison romantisch den Hof. Damit könne man Clarice eher dazu bringen, den Heiratsantrag anzunehmen. Melton gab nach. Allerdings knüpfte er seine Zustimmung zu der Verbindung an die Bedingung, dass Clarice einverstanden war.
Allerdings hatten Moira und Emsworth eine geheime Abmachung. Moira wusste ganz genau, dass Clarice Emsworths Antrag niemals annehmen würde, der Mann soll ein eingebildeter Tyrann sein. Aber Moira war nicht gewillt, zuzulassen, dass Clarice’ wählerische Art ihr und ihrer Tochter im Weg standen. Nun, Moira und Clarice trafen in der Stadt ein, und obwohl Emsworth Clarice gesteigerte Aufmerksamkeit entgegenbrachte, schien sie in keiner Weise beeindruckt. Daher nahmen Moira und Emsworth die Sache selbst in die Hand.«
»Wie das?« Jacks Frage klang knapp, eine unheilvolle Vorahnung schwang in ihr mit.
»So, wie du es es geahnt hast. Sie haben alles so arrangiert, dass Clarice und Emsworth von zwei der bedeutenderen Gastgeberinnen der Stadt in einer kompromittierenden Situation erwischt wurden. Ein Skandal drohte, aber Emsworth warf sich sogleich in die Bresche und tat das, was die Ehre von ihm verlangte: Er bot ihr den Schutz seines Namens an.«
»Wie reizend.«
Zu Jacks Überraschung grinste James angesichts dieser beißend sarkastischen Bemerkung.
»Im Grunde genommen nein. Moira und Emsworths dachten, sie hätten alles sauber unter Dach und Fach, aber sie hatten nicht mit Clarice gerechnet.«
Jack blinzelte. Seine Erfahrung mit der guten Gesellschaft hielt sich in Grenzen, aber sie reichte, um die Lage richtig und die Kräfte einzuschätzen, die gegen Clarice in Stellung gebracht worden waren.
»Sie hat sich geweigert?«
James Grinsen wurde breiter.
»Kategorisch. Sie hat die Intrige auf den ersten Blick durchschaut und weigerte sich schlicht und ergreifend, aber beharrlich, sich, wie sie es ausdrückte, gesellschaftlich erpressen zu lassen.«
Jack runzelte die Stirn.
»Aber es gab einen Skandal.« Das musste der Grund sein, weshalb Clarice jetzt hier lebte.
»Oh, allerdings!« James seufzte. »Der Skandal aller Skandale, wobei die meiste Schuld daran Moira trug. Sie war entschlossen, Clarice zu der Heirat zu zwingen, und ist vor nichts zurückgeschreckt, um ihr Ziel zu erreichen und den Druck zu erhöhen. Zu dem Zeitpunkt, als Melton in der Stadt eintraf und davon erfuhr, war Clarice’ Ruf bereits beschädigt – oder besser gesagt, ihr Ruf hing an einem seidenen Faden über dem Abgrund. Wenn sie sich einverstanden erklärte, Emsworth zu heiraten, wäre alles vergessen, du weißt ja, wie diese Geschichten laufen.«
Jack sagte nichts, aber er wusste natürlich Bescheid.
»Und hier kam leider nun Meltons weniger bewundernswerte Seite zum Vorschein. Für ihn war es unerlässlich, den Ruf der Familie zu wahren, ihn makellos zu halten. Obwohl er alles verstanden hatte, auch, dass er manipuliert worden war, bestand er darauf, dass nun, da die Sache so weit gediehen war, Clarice Emsworth heiraten müsse.«
Jack gab einen angewiderten Laut von sich.
James nickte. »Genau. Du kannst dir sicher gut vorstellen, was für ein Streit entbrannte, welche Szenen sich abspielten. Doch trotz all der Geschütze, die gegen sie in Stellung gebracht wurden, weigerte sich Clarice, nachzugeben. Sie wehrte sich standhaft gegen die Heirat mit Emsworth.« James machte eine Pause, dann fuhr er fort: »Wenn sie eine weniger Respekt einflößende Frau gewesen wäre, hätte man auch auf die eine oder andere unschöne Überredungsmethode zurückgegriffen, aber wenn Clarice sich auf einen Standpunkt stellte, zweifelte niemand daran, dass sie ihn bis ins Grab verteidigen würde. Daher …«
»Es kam zu einem Patt«, bemerkte Jack. Sein Spitzname für die Dame schien bemerkenswert passend.
»In gewisser Weise, aber die Lage konnte nicht ungelöst bleiben. Melton hat eine Entscheidung erzwungen, indem er damit drohte, Clarice aus seinen Häusern und von seinen Ländereien zu verbannen.«
Jack biss die Zähne zusammen. Die Vorstellung, dass eine junge Dame wie Clarice einfach so auf die Straße geworfen wurde, weckte mit Macht seine Beschützerinstinkte. Wofür hatte er eigentlich die vergangenen dreizehn Jahre gekämpft? Dass wohlsituierte Adelige ihre Töchter so behandeln durften?
Seine Desillusionierung mit der sogenannten guten Gesellschaft erreichte eine neue Dimension.
»Also hast du dich eingeschaltet und sie hergeholt?« Er schaute zum Pfarrhaus, als sie näher kamen.
»Nein, nicht direkt. Ihre drei älteren Brüder waren entsetzt über Meltons Beschluss. Sie schalteten sich ein und überredeten ihn, Clarice zu erlauben, sich aus der guten Gesellschaft zurückzuziehen und hier bei mir zu leben.« Um James’ Lippen zuckte es. »Innerhalb der Familie gelte ich als das schwarze Schaf, weil ich eine Kirchenlaufbahn gewählt habe, statt zu versuchen, Macht und Einfluss zu erringen. Die Erforschung von Militärstrategien wurde noch nie als adäquate Beschäftigung für einen Altwood angesehen. Auf der anderen Seite gibt es Zeiten, in denen die Familie wirklich dankbar ist, einen Kirchenmann in ihren Reihen zu haben. Und in meinem Fall führe ich hier ein so ruhiges und zurückgezogenes Leben, dass mein Haus die perfekte Lösung zu sein schien. Fast wie die Nonnenklöster früherer Zeiten, in die man die störrischen jungen Damen zu stecken pflegte, damit sie die Richtigkeit ihrer Entscheidungen noch einmal überdenken konnten.«
Langsam kehrte James’ Lächeln zurück. »Zur nicht geringen Überraschung aller war Clarice einverstanden.«
Jack warf James einen Blick von der Seite zu.
»Kanntest du sie? Kannte sie dich?«
»Ja, aber wir hatten uns nur ein paar Mal bei Familientreffen gesehen. Trotzdem und obwohl ich uns nicht unbedingt als verwandte Seelen bezeichnen würde, haben wir beide den jeweils anderen als angenehme Gesellschaft empfunden. Und wir kommen recht gut miteinander aus.«
Jack konnte sich das nicht vorstellen, nicht für sich.
»Du findest es nicht störend, so eine … junge Dame« – eine so streitlustige und schlachterprobte Kriegerkönigin – »ständig um dich zu haben?«
»Nein, überhaupt nicht. Clarice ist zwar nicht unbedingt ein zurückhaltender Mensch, aber es hat doch entschiedene Vorteile, wenn der Haushalt von einer derart kompetenten Frau geführt wird. Und wie ich bereits sagte, sie hat sich um all die Probleme und Fragen gekümmert, die in deines Vaters und deiner Abwesenheit auftraten und mir übertragen worden waren. Ihre Anwesenheit hier ist eine echte Wohltat, ein Segen.«
Jack verstand, was er meinte. James war oft geistesabwesend und konnte für längere Zeit derart in seiner Arbeit versinken, dass er von seiner Umgebung so gut wie nichts mitbekam, aber verärgert reagierte, wenn man ihn störte.
Sie kamen zu den Stufen, die zum Eingang führten. Jack blieb stehen.
»Also… nachdem sie ausreichend Heiratsanträge erhalten hatte – drei Versuche, alles furchtbare Fehlschläge, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen – hat Clarice sich hierher zurückgezogen und den romantischen Träumen junger Frauen mehr oder weniger den Rücken gekehrt.«
James stellte sich mit nachdenklicher Miene neben ihn, schaute am Haus hinauf, in dem das Objekt ihrer Unterhaltung zweifellos mit irgendetwas beschäftigt war.
»Meinst du?«
Jack schaute ihn an.
James starrte mit leerem Blick. »Weißt du, ich habe es immer andersherum betrachtet. Sie hat sich nicht von der Liebe abgewandt, sondern einer lieblosen Welt den Rücken gekehrt.«
Jack dachte einen Augenblick darüber nach, dann sah er zur Eingangstür.
»Vielleicht.« Ein weiterer Moment verstrich. »Ich mache mich besser auf den Rückweg zum Herrenhaus.«
James klopfte ihm auf die Schulter, dann trennten sie sich. Immer noch gedankenverloren schritt Jack die Auffahrt hinab.
Für Clarice verflog der Nachmittag zu rasch, an dem zahllose Aufgaben und Pflichten an sie herangetragen wurden. Mrs. Swithins, die Mutter des Hilfsgeistlichen, wollte mit ihr erneut über die Blumenausstattung für die Kirche sprechen. Später kam Jed Butler aus dem Dorfgasthaus vorbei, um zu hören, was sie von den geplanten Umbauten des Schankraumes hielt.
Es war beinahe vier Uhr, und die Schatten begannen sich zu einem dunstigen Lila zu verfärben, als sie sich einen leichten Schal um die Schultern legte und sich auf den Weg nach Avening Manor machte, um nach dem jungen Mann zu sehen.
Und wenn Warnefleet da war, wusste sie nicht, ob sie sich entschuldigen und ihren Irrtum eingestehen sollte, dass sie ihn für einen vergnügungssüchtigen uninteressierten Grundbesitzer gehalten hatte.
Und sie wusste immer noch nicht, welche Rolle er im Krieg gegen Napoleon gespielt hatte, aber sie kannte James’ Interesse an Militärangelegenheiten, um es zu erraten.
Warnefleet war eine Art Spion gewesen, aber nicht einer, der beobachtete und darüber berichtete, sondern jemand, der aktiv etwas unternahm – ein Agent, war das die richtige Bezeichnung?
Anhand seines Auftretens schätzte sie ihn jedenfalls so ein.
Die Ironie der Situation entging ihr nicht. Den einzigen Grund, den sie als Rechtfertigung für eine Vernachlässigung seiner Aufgaben gelten lassen würde, war, dass ein Mann seinem Land aufopferungsvoll in einer gefährlichen Mission diente. Für ihren Stand gab es nur eine Pflicht, die noch wichtiger war als die Verantwortung für die Menschen auf ihren Ländereien: die Pflicht dem eigenen Land gegenüber.
Sie war dazu erzogen worden, große Besitzungen zu verwalten und einen gewissen Verhaltenskodex zu wahren, der auf dem Grundsatz »Adel verpflichtet« basierte. Dahinter stand eine tief verwurzelte Wertschätzung gegenüber den vielen Menschen, die auf einem Besitz lebten und arbeiteten und für deren Wohlergehen sie verantwortlich waren.
Das Schicksal hatte vielleicht entschieden, dass sie nicht die Rolle übernehmen würde, die ihr gewissermaßen in die Wiege gelegt worden war, durch Heirat die Dame des Hauses zu werden, die Herrin eines großen Besitzes, aber die Umstände hatten sie hier mit einer ganz ähnlichen Rolle bedacht. In Avening sorgte sie einerseits für James und führte ihm den Haushalt und kümmerte sich andererseits um die Belange der Menschen im Dorf und auf den umliegenden Höfen.
Diese Aufgabe bereitete ihr Freude und erfüllte sie. Sie wurde gebraucht, und die Rolle, die sie übernommen hatte, entsprach ihren besonderen Fähigkeiten.
Sie hörte Vogelgezwitscher über sich, blieb stehen und sah zwei Schwalben, die hoch über ihr flogen, hinabstießen und wieder aufstiegen. Sie beobachtete einen Augenblick die blauschwarzen Striche vor dem hellen blauen Himmel, dann zog sie sich ihren Schal zurecht und ging weiter. Trotz der Situation, die sie hierher geführt hatte, war sie mehr als zufrieden.
Warnefleet. Als sie durch das Tor des Pfarrhauses ging, runzelte sie die Stirn. Würde er ihren Frieden stören? Ihr in die Quere kommen?
Sie folgte dem Weg zum Herrenhaus. Weshalb eigentlich? Er war vielleicht nicht der leichtsinnige Taugenichts, für den sie ihn gehalten hatte, aber er war letztlich doch nur ein Mann, mehr noch, ein Mann ohne Ehefrau. Wie die Dinge lagen, wäre er bestimmt nur zu froh, wenn sie sich weiter um die Angelegenheiten der Bevölkerung kümmerte.
Innerlich diesen Schluss bekräftigend, ging sie mit schnellen Schritten durch das Tor und die Auffahrt nach Avening Manor hinauf.
Sie hatte etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sie das Rattern von Kutschenrädern hörte. Sie hob den Blick. Dr. Willis tauchte vor ihr in seinem Einspänner auf. Lächelnd stellte sie sich an den Wegrand.
Willis brachte sein Pferd neben ihr zum Stehen und hob den Hut.
»Lady Clarice. Eben habe ich Ihren jungen Mann besucht.«
Sie lächelte freundlich.
»Es ist wohl kaum meiner, aber jung ist er gewiss.«
»Und ein Mann.« Willis’ graue Augen zwinkerten. »Was seinen Zustand angeht …« Jede Spur von Belustigung wich aus seinen Zügen, und eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. »Er ist immer noch nicht zu sich gekommen. Wir haben die üblichen Methoden ausprobiert, ihn aus der Bewusstlosigkeit zu wecken, aber nichts hat gewirkt. Wir haben es ihm so angenehm wie möglich gemacht, und Mrs. Connimore wird über ihn wachen. Ich habe Anweisung gegeben, mich sofort zu rufen, wenn es zu irgendeiner Veränderung kommt.«
»Welche Verletzungen hat er?«
Clarice hörte Willis zu, der von Brüchen und Prellungen sprach. Sie waren sich in den vergangenen sieben Jahren immer wieder an Krankenlagern und Sterbebetten begegnet und arbeiteten gut zusammen.
»Danke, meine Liebe.« Willis tippte sich an den Hut und nahm die Zügel wieder auf. »Es ist eine Erleichterung zu wissen, dass Sie in der Nähe sind. Warnefleet hat zwar auch Erfahrung mit Verletzungen, ja, er kann sicher mit unserem Patienten mitfühlen, aber ich kenne ihn nicht gut; Ihrem Urteil hingegen vertraue ich.«
Mit einem Nicken und einem erfreuten Lächeln schaute Clarice ihm nach, dann drehte sie sich um und ging weiter zum Herrenhaus.
Die Bemerkung, dass Warnefleet sich mit Verletzungen auskannte, ließ ihr keine Ruhe. Vermutlich hatte er Verwundungen in seiner Zeit als … Spion erlitten. Der gesunde Menschenverstand sagte ihr, dass solch eine Beschäftigung gefährlicher war als der an sich schon riskante Dienst eines Soldaten.
Aber was hatte Willis damit gemeint, dass Warnefleet mit dem Verletzten mitfühlte? Warnefleet hatte sich doch gegenwärtig nichts gebrochen. Er – seine körperliche Stärke – war ihr in keiner Weise beeinträchtigt vorgekommen, als er den verunglückten Phaeton angehoben oder er sie aufgefangen hatte.
Stirnrunzelnd erreichte sie den Vordereingang des Herrenhauses. Die Tür stand offen, wie es oft bei schönem Wetter der Fall war. Sie sparte sich die Mühe anzuklopfen, sondern trat ein. Auf der Rückseite der Eingangshalle entdeckte sie einen Lakaien, der ihr sagte, in welchem Zimmer der junge Herr untergebracht war.
Sie stieg die Treppe hoch. Das Herrenhaus war solide gebaut und gemütlich; sie hatte immer schon die bunten Wandteppiche neben der Treppe bewundert. Dieselben goldenen Farbtöne fanden sich in dem dreiteiligen Bogenfenster über dem Absatz. Die Sonne schien durch das bunt gefärbte Glas und malte liebevoll farbenfrohe Flecke auf das glänzend polierte Holz.
Das Geländer unter ihrer Hand war glatt. Sie erreichte das obere Treppenende, wandte sich nach rechts und eilte den Flur entlang.
»Wenn Sie mich fragen, Ihrem Londoner Quacksalber müsste man mal ins Gewissen reden.« Mrs. Connimores Stimme drang durch die halb offene Tür in der Mitte des Korridors. »Einfach zu sagen, alles würde sich mit der Zeit geben!«
»Aber das stimmt ja auch«, erwiderte Warnefleet beschwichtigend.
Clarice verlangsamte ihre Schritte.
»Ich versichere Ihnen, Pringle ist ein Fachmann für solche Verletzungen.« Warnefleet schlug einen überzeugten und geduldigen Ton gegenüber der zweifelnden Mrs. Connimore an. »Ein paar Monate Ruhe, keine übermäßigen Anstrengungen, und ich bin wieder ganz der Alte. Außerdem, welches andere Mittel sollte helfen? Es gibt schließlich keine Arznei, die wie ein Zaubertrunk sofortige Heilung bringt. Und was die Stelle betrifft, würde ich einen chirurgischen Eingriff nicht begrüßen.«
Connimores Antwort bestand aus einem abfälligen Schnauben. »Nun denn, dann werden wir wohl dafür sorgen müssen, dass Sie in den nächsten Monaten keine übermäßigen Anstrengungen auf sich nehmen.«
Clarice blinzelte verwirrt. Welcher Körperteil von Warnefleet war denn betroffen?
»Das können wir nur hoffen«, entgegnete Warnefleet, und in seiner Stimme schwang Belustigung mit.
Clarice hatte drei ältere und einen jüngeren Bruder; in Warnefleets Ton war etwas, das sie auf die Idee brachte … sie blies die Backen auf, schüttelte den Gedanken ab, hob das Kinn und ging weiter.
Sie blieb in der offenen Tür stehen. Dank des Läufers auf dem Boden des Korridors hatten weder Warnefleet noch Mrs. Connimore sie kommen hören. Beide beugten sich über die Gestalt im Bett. Warnefleet hatte seiner Haushälterin geholfen, den jungen Mann zu waschen, und sie waren nun damit beschäftigt, dem jungen Mann ein sauberes Nachthemd über den Kopf und den schlanken Oberkörper zu ziehen.
»So!« Mrs. Connimore richtete sich auf und griff nach der Decke, während Warnefleet den Kragen des Nachthemdes gerade zog und einen Schritt zurück machte. Mrs. Connimore deckte den jungen Mann sorgfältig zu und strich die Decke glatt. »So, besser geht es im Moment nicht. Wenn er jetzt nur noch aufwachen würde …«
Als Jack sich nicht länger auf den jungen Gentleman konzentrierte, spürte er die Gegenwart einer anderen Person. Nicht von irgendeiner Person, sondern von ihr. Es überraschte ihn nicht sonderlich, Boudicca zu sehen, die hochgewachsen und in königlicher Haltung auf der Türschwelle stand.
Sie fing seinen Blick auf und nickte. Mrs. Connimore bemerkte sie und knickste. Boudicca lächelte sie an und neigte den Kopf.
»Ich habe auf dem Weg Dr. Willis getroffen. Er hat mir erzählt, der junge Herr sei noch nicht wieder bei Bewusstsein.«
Jack fragte sich unwillkürlich, warum er kein Lächeln verdient hatte.
»Ja, das stimmt.« Connimore sah zum Bett und verzog das Gesicht. »Wir haben alles versucht – angesengte Federn, Ammoniakdämpfe – aber er ist noch immer nicht zu sich gekommen.«
Boudiccas Blick schoss zu Jack. Ihre nächste Frage galt ihm und Mrs. Connimore.
»War irgendetwas unter seinen Sachen, das uns verrät, wer er ist?«
Mrs. Connimore schaute zu Jack, Boudicca folgte ihrem Blick.
»Sein Rock ist von Shultz, und seine Stiefel stammen von Hoby.«
Boudicca runzelte die Stirn.
»Dann ist er aus gutem Hause.«
»Das scheint mir wahrscheinlich. Der Phaeton kommt aus der Werkstatt eines guten Kutschenbauer in Long Acre.« Nach einem Augenblick fragte Jack:
»Immer noch keine Idee, wer es sein könnte?«
Sie erwiderte seinen Blick und schüttelte den Kopf. »Nein, keine.« Sie blickte wieder den jungen Mann an, der unter der Decke lag. »Er sieht aber eindeutig jemandem ähnlich, den ich kenne. Ich weiß leider nur nicht wem.«
»Hören Sie auf, sich deswegen Sorgen zu machen.« Jack kam um das Bett herum, stellte sich neben sie und musterte ebenfalls den jungen Mann. Braunes Haar, braune Augenbrauen, klare Züge, eine gerade Nase und ein kantiges Kinn. Der vornehme Gesamteindruck war stummer Zeuge adeliger Vorfahren. »Wenn Sie es nicht forcieren, wird es Ihnen wieder einfallen.«
Sie sah ihn kurz an, dann wandte sie sich an Mrs. Connimore.
Jack blieb ruhig neben ihr stehen und wartete.
Boudicca tat so, als sei er nicht da. Sie erkundigte sich detailliert nach dem Besuch von Dr. Willis, und Mrs. Connimore antwortete. Es war fast so, als ob Boudicca ein Zenturio wäre und seine Haushälterin ein einfacher Soldat – nur, dass die Beziehung herzlicher war. Boudicca war verständnisvoll, freundlich und aufmunternd, während Mrs. Connimore unter anderem über ihre Sorgen bezüglich des Zustandes des jungen Mannes sprach.
Wider Willen war Jack beeindruckt. Nachdem er gehört hatte, welche Rolle Boudicca in der Umgebung übernommen hatte, hatte er geglaubt, sie würde hier auftauchen und versuchen, trotz seiner Anwesenheit die Zügel an sich zu reißen. Auch wenn er sich Mrs. Connimores Sorgen bewusst gewesen war, hatte er sie nicht dazu gebracht, sie zu äußern, und hatte sie daher auch nicht beschwichtigen können.
Boudicca gelang beides mühelos; sie war gelassen, ein Fels in der Brandung, verlässlich und unerschütterlich. Ohne dass es ausgesprochen werden musste, war klar, dass man sich an ihre Schulter anlehnen konnte. Nachdem sie und Mrs. Connimore ihr Gespräch beendet hatten, wirkte seine Haushälterin ermutigt, und Boudicca war, was den jungen Mann anging, voll im Bilde.
Trotzdem schuldete sie Jack noch eine Entschuldigung, und er war fest entschlossen, sie voll auszukosten. Er bezweifelte, dass Boudicca sich sonderlich oft entschuldigte.
Nachdem ihr schließlich nichts anderes mehr übrig blieb, wandte sie sich zu ihm um; er stand zwischen ihr und der Tür. Der Blick ihrer dunklen Augen bohrte sich in seinen – lag darin eine Warnung?
»Dürfte ich Sie kurz sprechen, Mylord?« Ihre Stimme klang entspannt und klar.
Er lächelte, machte einen Schritt nach hinten und winkte sie durch die Tür.
»Selbstverständlich, Lady Clarice.« Als sie an ihm vorbeifegte, murmelte er ihr etwas zu, das nur sie verstand: »Ich habe mich schon darauf gefreut, Ihre Überlegungen zu hören.«
Sie warf ihm einen scharfen Blick zu, mit dem man Eis hätte schneiden können. Dann marschierte sie den Flur entlang, er blieb dicht hinter ihr.
An der Treppe angekommen, blieb sie stehen. Er stellte sich neben sie und wollte gerade vorschlagen, dass sie sich in sein Arbeitszimmer begäben, da reckte sie das Kinn und schaute ihn an.
»Der Rosengarten.« Damit blickte sie wieder geradeaus und begann die Stufen hinabzusteigen. »Ich sollte einen Blick darauf werfen, wenn ich ohnehin gerade hier bin.«
Der Rosengarten seiner Mutter? Jack erinnerte sich nur an eine Wildnis. Es war der Lieblingsplatz seiner Mutter gewesen. Nach ihrem Tod hatte sein Vater angeordnet, dass der Fleck Erde unberührt gelassen werden sollte. Jack hatte diese Entscheidung nicht verstanden, aber alle hatten sich der Anweisung gefügt. Ein paar Jahre lang hatte der Rosengarten weiter üppig geblüht, eine lebhafte und wohlduftende Erinnerung an seine Mutter. Aber schließlich hatte die Vernachlässigung ihren Tribut gefordert, die Wege und die Torbögen in der den Garten umgebenden Steinmauer waren überwuchert, und niemand hatte sich dort mehr aufgehalten.
Abgelenkt von Erinnerungen und nicht sicher, was ihn erwartete, ging er dicht hinter Clarice, während sie durch den Morgensalon auf die Terrasse, die Stufen hinunter und über den Rasen zu dem nun wieder erkennbaren Torbogen schritt, durch den man in den Rosengarten gelangte.
Er wurde langsamer und blieb unter dem Torbogen stehen. Einen Augenblick lang glaubte er, in der Zeit zurückgereist zu sein.
Der Garten war genauso, wie er ihm als siebenjähriger Junge erschienen war, ein wogendes Meer aus Farben und Formen, er sah üppig wuchernde Rosenstöcke und leuchtend grüne Blätter, Stacheln und zarte rötliche Knospen.
Clarice ging weiter auf dem Weg in der Mitte, der zu der Laube am anderen Ende des Gartens führte, wo eine steinerne Bank an einem kleinen Teich mit Springbrunnen stand. Er folgte ihr langsam, während er von Erinnerungen bestürmt wurde.
Im Geiste sah er Bilder aus seiner Kindheit. Blondes Haar fiel ihm in die Augen, während er über die Wege rannte. Alle Pfade hier endeten an der Laube, wo seine Mutter auf ihn wartete. Sie lächelte fröhlich, wenn er zu ihr lief, um ihr zu berichten, welche Blüte die schönste war. Er erzählte ihr von der blutroten Rose, die er am liebsten mochte, oder von dem schweren, beinahe zu süßen Duft der tiefroten Rose, ihrer Lieblingsblume.
Ohne es sich bewusst vorzunehmen, suchte er nach ihr und fand sie, über und über mit prallen Knospen übersät.
Schließlich erreichte er das Ende des Gartenweges. Boudicca hatte sich nicht auf die Steinbank gesetzt, sondern stand am Teich. Sie betrachtete ruhig die Knospen an einem hohen Rosenbusch und wartete geduldig darauf, dass er zu ihr kam.
Er holte tief Luft und genoss die beinahe vergessenen Gerüche, die ihm in die Nase stiegen, wandte sich dann zögernd von der Vergangenheit ab und ihr zu.
»Waren Sie das?«
Sie blinzelte.
»Nicht ich persönlich, aber ich habe Warren, dem Gärtner, den Griggs eingestellt hat, nachdem Hedgemore gegangen ist, vorgeschlagen, den Garten wieder in Ordnung zu bringen.«
Jack fiel es nicht schwer, das richtig zu übersetzen: In Ordnung gebracht, das bedeutete, den höchsten Ansprüchen entsprechend wiederhergestellt – Lady Clarice’ Ansprüchen. Er blickte sich um. Warren hatte sie offenbar ebenfalls verstanden.
»Haben sie – Griggs und die anderen – Ihnen gesagt, warum der Garten so verwildert war?« Er richtete seinen Blick wieder auf ihr Gesicht.
Sie wurde nicht rot, so wie es vielen anderen ergangen wäre, sondern zog lediglich eine Braue hoch.
»Man hat mir berichtet, Ihr Vater habe angeordnet, den Garten verwildern zu lassen, aber er lebte ja nicht mehr und, ehrlich gesagt, ich habe nie einen Sinn darin gesehen, den Tod statt das Leben zu feiern.«
Er erwiderte ihren festen Blick. Sie wirkte ruhig und gelassen. Schließlich wusste sie, dass sie vielleicht zu weit gegangen war und er allen Grund hatte, sie wegen der Umgestaltung des Rosengartens scharf zurechtzuweisen. Er sah sich erneut um. Sie konnte nicht wissen, dass sie ihm etwas zurückgab, von dem er gar nicht gewusst hatte, wie sehr es ihm gefehlt hatte. Dass sie mit den Worten eines Erwachsenen genau das aussprach, was er als Kind gefühlt hatte, aber nicht hatte ausdrücken können.
»Es ist genauso wie in meiner Erinnerung.« Mehr brachte er im Moment nicht über die Lippen.
Er blickte sie wieder an. Zu seiner Überraschung war ihr zarte Röte in die Alabasterwangen gestiegen. Sie merkte es, ebenso wie seinen Blick, und machte eine Bewegung. Dann räumte sie ein:
»Ich habe ein Notizbuch Ihrer Mutter gefunden mit einer detailgenauen Skizze von der Anlage des Gartens. Ich dachte, es stört Sie nicht, wenn ich es zu Rate ziehe, um den Garten wieder in seinen ursprünglichen Zustand zu versetzen.«
Er musterte ihr Gesicht, dann schaute er sich noch einmal um. »Es stört mich nicht.«
Er spürte eine gewisse Erleichterung bei ihr. Ihre Steifheit wich, und sie entspannte sich ein wenig. Aber dann atmete sie tief durch, reckte die Schultern und sah ihm in die Augen. »Nun, ich glaube, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Mylord.«
Eine knappe Entschuldigung, die ihn sehr wirkungsvoll aus der Vergangenheit in die Gegenwart holte.
Er lächelte sie eindringlich an.
»Sie sehen, ich bin ganz Ohr, Mylady.«
Sie runzelte nicht die Stirn, doch ihr Blick wurde stechender. Einen Moment lang betrachtete sie ihn, als überlege sie, ihn darüber in Kenntnis zu setzen, dass Häme Unreife verriet. Dann hob sie das Kinn noch ein Stück und betrachtete ihn mit einem herausfordernd offenen Blick.
»Bei unserer ersten Begegnung habe ich Sie falsch eingeschätzt, Mylord. Bitte nehmen Sie meine Entschuldigung an.«
Clarice wartete, versuchte ihn mit schierer Gedankenkraft dazu zu bringen, zu nicken.
Stattdessen hob er seine Augenbrauen.
»Falsch eingeschätzt? Wie das, wenn ich so kühn sein darf zu fragen?«
Seine haselnussbraunen Augen waren auf sie gerichtet. Sie spürte, wie ihr Temperament sich regte. So kühn sein, ach ja? »Wie Sie sehr wohl wissen, hatte ich aus den Äußerungen der Leute hier geschlussfolgert, dass Ihnen Ihr Besitz hier gleichgültig ist und Sie vollauf mit den üblichen leeren Vergnügungen beschäftigt waren, wie sie Herren Ihres gesellschaftlichen Ranges bevorzugen. Diese Einschätzung war, wie es aussieht, nicht richtig.«
Seine Brauen hoben sich noch ein Stück.
»Ich dachte, es sei meine lange Abwesenheit, die Ihren Zorn erregte?«
Sie presste die Lippen aufeinander, dann nickte sie. »Allerdings. Aber ich begreife nun, dass diese Abwesenheit entschuldbar, nachvollziehbar war.«
»Vielleicht sogar lobenswert?«
Sie holte tief Luft, hielt sie an und nickte wieder.
»Das auch.«
Er lächelte, ganz der zufriedene Mann.
Sie atmete aus, war froh, die Sache hinter sich gebracht zu haben.
»Sie haben doch gewiss nichts Bestimmtes von den Leuten hier gehört, und Sie haben auch nicht gefragt, was man hier von mir dachte. Sie haben einfach voreilige Schlüsse gezogen.«
Sie riss die Augen auf und schaute ihn an; ihr stockte der Atem. Er trat näher, und einen kurzen Augenblick war ihr ein Blick auf den Mann hinter der charmanten Maske vergönnt – auf einen Mann, dessen Ehre sie in Zweifel gezogen hatte, wenigstens seiner Ansicht nach. Sie sah ihm ins Gesicht, musterte sein kantiges Kinn, seine Lippen – besonders natürlich die wandelbaren, im Moment klaren haselnussbraunen Augen, die hart wie Achat waren. Und verstand mühelos.
Er war einer der wenigen Männer, denen sie je begegnet war, der ihr das Gefühl vermittelte, … zierlich zu sein. Und ein Teil von ihr wusste, dass er nicht versuchte, wenigstens nicht mit Absicht, sie durch seine körperliche Überlegenheit einzuschüchtern.
Mit einem Mal schien es ihr leicht, ihre Fehler einzugestehen, ja, sogar ratsam. Sie erwiderte seinen Blick und nickte.
»Ja.«
Er kniff verwundert die Augen zusammen. Seine Brauen hoben sich erneut. Und als er sie dieses Mal anschaute, entdeckte sie in seinem Gesicht Überraschung, die gleich darauf von einer weniger vertrauenswürdigen Belustigung überlagert wurde und seinen haselnussbraunen Augen einen weichen, warmen Ausdruck verlieh. Seine Lippen entspannten sich, aber es gelang ihm nicht zu lächeln.
»Einfach nur ein Ja, ohne irgendwelche Ausflüchte?«
Sie kniff die Augen zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Dann blickte sie ihn vorwurfsvoll an, wobei sie versuchte, ihn nicht anzustarren.
»Sie sind wild entschlossen, alles so kompliziert wie möglich zu machen, ja?«
»Ich? Kompliziert? Alle Welt wird Ihnen versichern, dass ich der unkomplizierteste und umgänglichste Gentleman bin.«
Sie rümpfte die Nase.
»Was für Narren!«
»Es wäre jedenfalls unklug, was mich betrifft, ohne genauere Kenntnis weitere Schlüsse zu ziehen, meinen Sie nicht?«
Sie erwiderte seinen Blick, dann antwortete sie knapp:
»Das Offensichtliche zu übersehen wäre noch weniger klug.«
Belustigt zuckten seine Lippen. Bei jedem anderen wäre sie außer sich vor Zorn, bei ihm jedoch war sie fasziniert.
Dieser merkwürdige Gedanken holte sie jäh in die Wirklichkeit zurück.
Sie senkte die Arme. »Sie haben mir verziehen – das weiß ich.« Sie begann, sich abzuwenden. »Es besteht keine Notwendigkeit, das hier in die Länge zu ziehen …«
»Ich habe Ihnen nicht verziehen.« Jack machte einen Schritt auf sie zu und versperrte ihr den Weg. Hinter ihr war der Teich, sie saß in der Falle. Er betrachtete ihre Augen aus der Nähe; sie waren von einem so tiefen Dunkelbraun, dass man aus ihnen kaum etwas ablesen konnte. Sie hatte sie jedoch weit aufgerissen, und ihr Atem ging so schnell, dass er wusste, es war ihm gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln.
Spöttisch verzog er die Lippen und zwinkerte ihr zu.
»Wollen Sie mir nicht Ihren Willen zum Frieden bekunden? Das könnte mich umstimmen.« Ohne dass er verhindern konnte, senkte sich sein Blick auf ihre Lippen. »Das könnte mich beschwichtigen.«
Und meine Dämonen.
Er musste sich bezwingen, ihr nicht näher zu kommen, sie nicht weiter zu bedrängen … dann würde er ihren Körper an seinem spüren, verlockend, verführerisch …
Sie leckte sich die Lippen. Er beobachtete, wie die Spitze ihrer Zunge über die volle Unterlippe fuhr; etwas in ihm ballte sich zusammen, spannte sich an.
»Was meinen Sie?«
Es gelang ihr, durchzuatmen, um gleichmäßig sprechen zu können und ihren Worten einen Hauch ihrer gewohnten Hochnäsigkeit zu verleihen, das reichte aus, um seine weniger zivilisierten Instinkte zu entflammen.
»Einen Kuss.«
Er hatte gar nicht darüber nachdenken müssen. Das war, was er von ihr wollte, jetzt, hier in dem von ihr wiedererrichteten Garten seiner Mutter.
Sie blinzelte verwundert, aber er spürte, dass sie nicht schockiert war, und der Idee nicht abgeneigt… er musste tief Luft holen und sich zusammenreißen, um ihr genug Zeit zu lassen, zuzustimmen, bevor er sich nahm, was er wollte …
Ihre Augen kehrten zu seinen zurück. Sie betrachtete ihn, nicht misstrauisch, sondern eher abschätzend.
Er war nicht verwundert über ihre nicht gerade zimperliche Reaktion. Nach dem, was James ihm erzählt hatte, hatte er sich ausgerechnet, dass sie neunundzwanzig war. Sie war zweimal verlobt gewesen, hatte einmal von einem Gardeoffizier Abschied genommen, der in den Krieg zog, und einmal hatte sie kurz davor gestanden, durchzubrennen. Sie war von vielen Männern umworben worden. Er kannte die Männer und Frauen aus seinen Kreisen. Sie war nicht völlig unschuldig – das konnte sie nicht sein.
Und sie hatte sieben Jahre lang hier gelebt, auf dem Land vergraben, ganz allein. Es gab keinen Gentleman mit Stil und Klasse, mit dem sie sich auf eine Affäre eingelassen hätte. Sein Stil, seine Klasse, und er war jetzt zuhause. Um zu bleiben.
Fast war es, als könnte er sehen, wie diese Fakten ihr durch den Kopf schossen.
Er war nicht im Geringsten überrascht, als sie sagte:
»Im Gegenzug für einen Kuss – einen Kuss und sonst nichts – erklären Sie sich einverstanden, nie wieder zu erwähnen oder darauf anzuspielen, dass ich voreilig Schlüsse über Sie gezogen habe?«
Er hielt ihren Blick und nickte.
»Ja.«
Sie hob den Kopf, und ihre dunklen Augen blitzten.
»Nun gut – einen Kuss.«
Er lächelte, dann griff er nach ihr.