13

Am folgenden Morgen saß Clarice an dem kleinen Tisch vor dem Fenster ihrer Suite, trank ihren Tee und kaute ihren Toast und überlegte, ob sie ihren Bruder aufsuchen sollte.

Eigentlich müsste sie erst zu ihrer Modistin. Wenn sie sich auf dem Höhepunkt der Saison in der guten Gesellschaft bewegen wollte, brauchte sie ein oder zwei neue Kleider.

Sie blickte zur Uhr auf dem Kaminsims, vergewisserte sich, dass es fast zehn Uhr war. Sie war erst spät aufgestanden, lange nachdem Jack sie irgendwann im Morgengrauen in ihrem zerwühlten Bett zurückgelassen hatte.

Gestern waren sie von der Audienz beim Bischof hierher zurückgekehrt und hatten sich sogleich an die Arbeit gemacht, einen leichten Lunch zu sich genommen, während sie die Daten der drei Treffen aus der Anklage mit James’ Liste seiner Reisen und Gespräche verglichen. Sie hatten einen ersten Rückschlag erlitten, als sie entdecken mussten, dass die drei Daten tatsächlich mit den drei Besuchen von James in der Hauptstadt übereinstimmten, während derer er mehrere Soldaten und Offiziere befragt hatte.

Ihr war das Herz gesunken, aber Jack, der ihre Miene richtig deutete, hatte bemerkt, dass es wesentlich überraschender gewesen wäre, wenn sich die Anklage so leicht entkräften ließe.

Sie hatte spitz erwidert, sie hätte sich liebend gern überraschen lassen.

Danach beschäftigten sie sich mit den erwähnten Personen, sowohl mit den Zeugen als auch mit denjenigen, mit denen James gesprochen hatte. Es schien kein Zusammenhang zwischen ihnen und der Information zu bestehen, die James angeblich weitergegeben hatte.

»Wir werden es überprüfen müssen«, hatte Jack erklärt, »aber selbst wenn der Inhalt der Gespräche nicht mit der weitergegebenen Information übereinstimmt, würde uns das nicht weiterhelfen. James könnte auf andere Weise Wissen darüber erlangt haben, vielleicht durch andere Gespräche.«

»Aber es muss doch eine logische Grundlage für die Annahme geben, dass James tatsächlich über die Information verfügt hat, oder?«

Jack hatte genickt.

»Stimmt. Also untersuchen wir beide Aspekte  – die Zeugen und die Informationen. Wir werden die einzelnen Fakten in Erfahrung bringen müssen, die angeblich weitergegeben wurden. Bislang hat Humphries das nicht verraten, das wird der wesentliche Punkt sein, den Jacks Verteidigung unter die Lupe nehmen muss.«

Sie hatten bis zum Abendessen gebraucht, bis sie entschieden hatten, wie sie genau die Vorwürfe anfechten wollten; erst galt es, alle notwendigen Punkte zur Verteidigung aufzulisten und dann jede Möglichkeit für Gegenbeweise in Erwägung zu ziehen. Jack mahnte, dass sie mehr als einen Gegenbeweis brauchen würden, um die Anschuldigungen restlos zu entkräften.

Um acht Uhr waren sie nach unten gegangen, um im Speisesaal des Hotels zu essen, in einer Atmosphäre, wie man sie sonst am ehesten in den erlesensten Herrenclubs vorfand. Ruhige Unterhaltungen und völlige Blindheit den anderen Anwesenden gegenüber war das ungeschriebene Gesetz. Selbst Jack, der anfangs Bedenken gehabt hatte, unnötig die Aufmerksamkeit auf ihre Verbindung zu lenken, musste zugeben, dass hier keine Gefahr bestand.

Sie kehrten in Clarice’ Suite zurück, begutachteten ihre Arbeit noch einmal kritisch und einigten sich darauf, dass Jack sich zunächst darauf konzentrieren würde, die Zeugen zu suchen und mit ihnen zu sprechen. In der Zwischenzeit würde Clarice ihre Familie unterrichten, sie davon überzeugen, sich hinter James zu stellen und ihn zu unterstützen. Sie sollten ihr sagen, welche ihrer Beziehungen sich vielleicht als nützlich erweisen würde, um auf den Bischof Einfluss zu nehmen, den Kurier zu ermitteln und James’ Aufenthalte hier zu überprüfen. Auf die eine oder andere Weise würden sie Humphries die Information entlocken, die sie benötigten.

Nachdem das beschlossen war, hatte Jack sich erhoben, in der Absicht zu gehen. Rasch hatte sie ihm deutlich klargemacht, dass sie erwartete, dass er blieb und das Bett mit ihr teilte. Schließlich musste seine Verwundung kuriert werden. Um bei ihrer Mission erfolgreich zu sein, war es ihre Pflicht, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, damit Jacks Verstand so gut wie möglich funktionierte. Sie wollte nicht, dass er weiterhin Kopfschmerzen hatte.

Er hatte gelacht und ihr ins Ohr geflüstert, dass er zwar tatsächlich vorhabe, sie zu verlassen und durch das Foyer an dem Empfangschef vorbei zur Hoteltür hinauszumarschieren, er aber durch die Seitentür und über die Hintertreppe in ihr Zimmer zurückkommen werde.

Sie ließ ihn ziehen und wartete ungeduldig.

Wie versprochen kehrte er eine Viertelstunde später zurück. Sie hatte ihn an der Hand gefasst und mit in ihr Bett genommen.

Sie war sich ziemlich sicher, bedachte man, was alles zwischen ihnen geschehen war zwischen gestern Abend und heute Morgen, dass, wenn ihn ein Körperteil schmerzte, es sicher nicht sein Kopf war.

Mit amüsiert zuckenden Lippen stellte sie ihre Teetasse ab und nahm sich einen Augenblick Zeit, das seltsame Gefühl zu genießen, dass sie erfolgreich seine Schmerzen gelindert hatte, dass sie in der Lage war, sich um ihn zu kümmern … und die Wohltaten, die er ihr im Gegenzug als Ausdruck seiner Dankbarkeit erwiesen hatte.

Seine erfahrenen und viel zu wissenden Aufmerksamkeiten.

Ein Klopfen an der Tür holte sie in die Gegenwart zurück und zwang sie, das alberne Lächeln aus ihrem Gesicht zu tilgen. Sie rief dem Zimmermädchen zu, es solle hereinkommen, und begab sich in ihr Schlafzimmer, während das Frühstück abgeräumt wurde.

Sie setzte sich vor den Frisiertisch mit dem Spiegel und brachte ihr Haar in Ordnung.

Ihr Bruder Melton oder ihre Modistin?

Die Uhr auf dem Kaminsims im Salon schlug zehn Mal.

Elegante Herren verließen ihre Betten nur höchst selten vor Mittag, besonders während der Saison; somit war es witzlos, Melton so früh am Tag zu stören.

Nachdem sie ihr Dilemma also gelöst hatte, griff sie nach ihrem Hut.

 

Celestine war seit neun Jahren ihre Modistin. Anfangs ein Neuankömmling in der Bruton Street hatte sich die junge Frau mit der Zeit einen Namen gemacht und war inzwischen eine Größe in der Modeszene Londons, sodass sie nun außer Clarice die Angehörigen der obersten Gesellschaftsschicht zu ihren Kunden zählte.

Nur die Crème de la Crème der guten Gesellschaft; niemand sonst konnte sich auch nur die unscheinbarste der Kreationen der Modemacherin leisten.

In ihren skandalträchtigeren Tagen hatte es Zeiten gegeben, in denen Clarice zu der unmodisch frühen Stunde um neun Uhr morgens in den Salon geschlüpft war, um die verächtlichen Blicke ihrer Standesgenossinnen zu meiden. Jetzt stand sie hinter einer Abtrennung in einer Ecke des Salons und ließ sich von einer der Assistentinnen der Modistin in ein ziemlich gewagtes Kleid aus Seide in ihrem Lieblingspflaumenton helfen, während sie sich ins Gedächtnis rief, dass diese Tage längst hinter ihr lagen.

Es war beinahe elf Uhr, und die eleganten Damen mit ihren Töchtern im Schlepptau zogen sich gewiss gerade die Handschuhe an, um gleich zu ihrem ersten morgendlichen Ausflug aufzubrechen, zu einem Morgentee, einem mondänen Besuchstag oder in die Bruton Street. Trotz der Jahre, die sie fort gewesen war, waren ihr die Gezeiten des Tagesablaufs der eleganten Welt in Fleisch und Blut übergegangen, und sie wusste, ohne nachdenken zu müssen, welche Beschäftigungen wann anstanden, als wäre sie selbst immer noch eine elegante Dame von Welt.

Aber das war sie nicht mehr, und daher konnte sie tun und lassen, was ihr gefiel.

Sie hob den Kopf, strich die Seide über ihren Hüften glatt und stand aufrecht, während die Assistentin das Korsett schnürte. Dann drehte sie sich halb um und schritt vor dem bodenlangen Spiegel auf und ab, begutachtete, wie die Rockfalten fielen und die Seide sich an ihre Figur schmiegte.

Stellte sich vor, wie Jack wohl reagieren würde.

Ihre Lippen verzogen sich. Gerade wollte sie die Assistentin bitten, Celestine zu holen, als sich die Eingangstür zum Salon öffnete und  – wie es sich anhörte  – eine ganze Horde geschwätziger Damen hereinkamen. Clarice hörte Celestine die Neuankömmlinge kühl begrüßen, Lady Grimwalde und die ältere Mrs. Raleigh, zwei alte Drachen mit besten Beziehungen, die beständig im Wettstreit standen um den Titel der bestinformierten Klatschbase der guten Gesellschaft.

»Ich sage Ihnen, Henrietta, es ist wahr!« Lady Grimwalde machte eine Pause und holte leicht pfeifend Luft. »Man stelle sich nur vor!« Hinter der Abtrennung konnte sich Clarice das Funkeln in den schwarzen Knopfaugen Ihrer Ladyschaft lebhaft vorstellen. »Was für ein Abstieg für diese grässliche Frau, einen Verräter in ihrer Familie zu haben.«

Plötzlich legte sich Kälte wie ein Tuch über Clarice’ Schultern.

»Ich finde es wirklich schwer zu glauben, Amabelle.« Mrs. Raleighs ruhigere Stimme klang milde tadelnd. »Es sind schließlich die Altwoods. Man sollte sich ganz sicher sein, ehe man solche Geschichten in Umlauf bringt.«

»In der Tat, Henrietta, aber du kannst dich darauf verlassen, dass ich keinem Irrtum erlegen bin. Offenbar hat der Bischof von London die Angelegenheit bereits an die offiziellen Stellen weitergeleitet.«

Clarice wartete nicht, bis sie mehr gehört hatte. Sie wusste genau, wie man Skandale im Keim erstickte, genau das hatte sie vor sieben Jahren versäumt. Sie ging schwungvoll um die Abtrennung herum.

»Celestine? Könnten Sie bitte …«

Sie stand wenige Meter entfernt von Amabelle Raleigh und Henrietta Grimwalde. Nichts an Clarice’ Auftreten oder ihrer Miene verriet, dass sie den Klatsch mit angehört hatte. Sie stand entspannt da, die Arme anmutig ausgestreckt, als wartete sie darauf, dass Celestine, die wie erstarrt zwischen den gegnerischen Parteien stand, den Fall des Stoffes bewunderte. Beide, Lady Grimwalde und Mrs. Raleigh, glotzten Clarice an, vermutlich vor allem wegen des gewagten Schnitts des Kleides mit dem tiefen Dekolleté, und es dauerte eine spannungsgeladene Weile, bis sie sie wiedererkannten.

Dann rissen sie Mund und Augen auf. Zufrieden sah sie zu Celestine. »Ich denke, dieses Kleid ist genau das Richtige.« Sie wirbelte herum, sodass ihr verdutztes Publikum auch den noch tiefer ausgeschnittenen Rücken sehen konnte. Sie bildete sich ein, sie hätte ein leises Keuchen gehört. »Finden Sie nicht?«

Celestine erwies sich der Herausforderung gewachsen.

»Es steht Ihnen parfaitement. Und weil Sie gerade da sind, möchte ich bitten, dass Sie auch das Kleid aus waldgrünem Satin anprobieren.« Sie trat vor und deutete auf die Stelle hinter der Abtrennung.

Clarice machte Anstalten, sich zurückzuziehen, blieb aber im letzten Moment stehen und schaute wieder die beiden Harpyjen an. »Vielleicht interessiert es Sie, dass bezüglich der Angelegenheit, die Sie eben so angeregt diskutiert haben, ich gestern erst beim Bischof von London vorgesprochen habe. Seine Absichten stehen in seltsamem Widerspruch zu dem, was Sie ihm unterstellen.« Sie machte eine Pause, erwiderte ihre erstaunten Blicke und fügte in eisig hochmütigem Ton hinzu: »Vielleicht sollten Sie berücksichtigen, auch wenn Sie sicher Experten auf dem Gebiet sind, wenn es um Skandale geht, kenne ich mich besser aus als die meisten.«

Mit dieser Schlussbemerkung verschwand sie wieder hinter der Abtrennung.

Celestine folgte ihr.

»Chérie, es tut mir so leid.«

»Das muss es nicht. Es ist sehr nützlich, dass ich so früh von den Gerüchten erfahren habe.« Mit einer Handbewegung gab Clarice der Assistentin zu verstehen, sie möge sich mit dem Aufschnüren des Kleides beeilen. »Ich nehme das hier auf jeden Fall. Bitte schicken Sie es ins Benedict’s. Ich komme morgen früh wieder, um zu sehen, was Sie sonst noch haben.«

Celestine seufzte.

»Es tat mir nicht wegen der beiden Damen leid.«

Im Spiegel schaute Clarice Celestine an.

»Weswegen sonst?«

»Nun, dass ich den waldgrünen Satin erwähnt habe.« Celestine stellte sich anders hin, um in den Verkaufsraum zu schauen. »Die beiden sind gegangen, aber es sind noch sechs weitere Damen hier, die alles gesehen und mit angehört haben. Wenn Sie dieses Gerücht im Keim ersticken wollen, müssen Sie jetzt den grünen Satin probieren, nicht wahr?«

Jetzt war es Clarice, die seufzte.

»Ja, Sie haben recht.« Sie senkte die Schultern, ließ sie kurz kreisen und hob sie dann wieder. Die pflaumenfarbene Seide glitt an ihr herab und sammelte sich zu ihren Füßen. Zweifellos interessant; wenigstens war sie der Ansicht, Jack würde es ebenso sehen. »Bringen Sie den waldgrünen Satin, aber dann muss ich wirklich gehen.«

 

Wie es gewöhnlich bei jedem Kleid der Fall war, das Celestine einem persönlich empfahl, stand ihr der waldgrüne Satin ganz ausgezeichnet. Daher konnte die Zeit, die sie dafür benötigte, es anzuprobieren, wirklich nicht als Verlust gewertet werden.

Aber sie hatte die Wahrheit gesagt: Sie wusste alles, was es über Klatsch und Tratsch in der guten Gesellschaft zu wissen gab. Zwar war es ihr vielleicht gelungen, zwei der schlimmsten Vertreterinnen ihrer Zunft vorübergehend zum Schweigen gebracht zu haben, aber damit war die Sache noch lange nicht erledigt. Wenn Grimwalde und Raleigh die Neuigkeiten bereits gehört hatten, dann wussten auch andere davon. Die Lage zwang sie zu sofortigem und entschiedenem Handeln.

Und zudem legte Grimwaldes Schadenfreude über den Niedergang »dieser grässlichen Frau« die Vermutung nahe, dass ihre Stiefmutter Moira in den letzten Jahren nicht liebenswerter geworden war oder größeres Ansehen gewonnen hätte.

Die Verteidigung der Familienehre konnte ebenso Clarice zufallen. Sie musste auf jeden Fall ihren Teil dazu beitragen und sich in der guten Gesellschaft bewegen, was wiederum hieß, dass ihre neuen Kleider so wesentlich waren wie eine Rüstung auf dem Schlachtfeld. Nichtsdestotrotz verließ sie so schnell wie möglich unauffällig den Modesalon und ging die Stufen zur Straße hinunter.

Keine Ausflüchte, keinen Aufschub mehr. Selbst wenn Melton noch im Bett lag, würde sie einfach die Anweisung geben, ihn aufzuscheuchen, und dafür Sorge tragen, dass er ihr zuhörte.

Sie hoffte, dass er nicht unter den Nachwirkungen einer ausschweifenden Nacht in der Stadt litt.

Eine der Assistentinnen war vor ihr die Eingangstreppe hinabgelaufen, um ihr die Tür aufzuhalten. Mit einem geistesabwesenden Lächeln trat Clarice auf den Gehsteig. Sie blieb einen Augenblick stehen, bis ihre Augen sich an das grelle Sonnenlicht gewöhnt hatten.

»Da bist du ja, Liebchen. Wir warten schon auf dich.«

Sie blinzelte und hätte einen Schritt zurück gemacht, wenn nicht die Tür direkt in ihrem Rücken gewesen wäre. Vor ihr standen zwei große Männer, der eine rechts, der andere links, und schnitten ihr sehr wirkungsvoll den Weg ab. Ihre Kleider kennzeichneten sie als Arbeiter. Was hatten sie auf der Bruton Street zu suchen?

Warum, um alles in der Welt, warteten sie auf sie?

»Ich fürchte, da ist Ihnen ein Irrtum unterlaufen.«

Einer der Männer lächelte und öffnete den Mund …

»Clarice?«

Sie wandte den Kopf und sah Jack von der nächsten Straßenecke aus auf sich zukommen. Seine Augen waren auf die beiden Männer gerichtet, und er wirkte nicht erfreut.

Sie lächelte ihn beschwichtigend an und winkte ihm zu. Dann drehte sie sich wieder zu den Männern um und sah, wie sie einen Blick wechselten. Derjenige, der mit ihr hatte sprechen wollen, berührte den Schirm seiner Mütze.

»Sie haben recht, Miss. Sieht nach einem Irrtum aus. Verzeihen Sie bitte.«

Der andere fasste sich ebenfalls an die Mütze und eilte an ihr vorbei. Die beiden entfernten sich in die entgegengesetzte Richtung und bogen um die Straßenecke.

Sie hob die Brauen, dann wandte sie sich um, um Jack zu begrüßen.

Mit finsterer Miene fragte er:

»Wer, zum Teufel, war das?«

»Ich habe keine Ahnung. Sie haben auf jemanden gewartet und haben mich verwechselt …« Als sie ihre eigenen Worte hörte, erkannte sie, wie unwahrscheinlich das war … Sie schaute zu Jack hoch.

Er blickte sie ungläubig an, und auch ein wenig gönnerhaft.

»Egal, dafür haben wir jetzt keine Zeit.« Sie fasste ihn am Arm und zog ihn mit sich. »Ich nehme an, du hast meine Nachricht erhalten.« Sie hatte beim Portier eine Nachricht mit ihrem Aufenthaltsort hinterlassen, für den Fall, dass Jack mit ihr sprechen musste. »Unglücklicherweise ist die Sache schon aus dem Ruder gelaufen. Die Neuigkeit von den Vorwürfen gegen James ist bekannt geworden, und die ersten Gerüchte verbreiten sich bereits.« Sie holte tief Luft und reckte entschlossen ihr Kinn. »Ich muss gehen und mit meinem Bruder sprechen.«

Jack blickte sie an, nahm ihr fast trotzig gerecktes Kinn wahr und schluckte die beißenden Worte herunter, die ihm auf der Zunge lagen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, ihr eine Standpauke über Gefahren zu halten, die selbst in den elegantesten Straßen lauerten. Er konnte sie auch nachher noch über die beiden Männer befragen und sich bei Deverell erkundigen, ob Frauen auf offener Straße zu entführen in den letzten Jahren ein weit verbreitetes Problem in London geworden war. Jetzt hingegen …

»Ich komme mit dir.«

Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu.

Er konnte die Einwände fast hören, die ihr durch den Kopf gingen. Wenn sie sich zu weigern versuchte, würde er darauf bestehen, aber es wäre ihm viel lieber, wenn sie seine Unterstützung annehmen würde, vorzugsweise in der Manier, in der er es ihr angeboten hatte  – als ihr zukünftiger Ehemann  –, obgleich er sich ziemlich sicher war, dass sie seine Absichten derzeit noch nicht durchschaute. Forsch schritten sie in Richtung Mayfair aus, dem Herz der eleganten Welt. Je weiter sie kamen, ohne dass sie Einspruch erhob, desto wahrscheinlicher war es, dass sie einverstanden war.

»Wo lebt dein Bruder?«

»In Melton House in der Grosvenor Street.«

Sie überquerten den Berkeley Square und bogen in die Mount Street ein. Wortlos ging Clarice zum Carlos Place weiter.

»Also, was für Gerüchte hast du gehört? Wo und von wem?«

Sie sagte es ihm. Mit leicht gerunzelter Stirn berichtete sie ihm auch von ihrem Verdacht bezüglich ihrer Stiefmutter. »Moira wurde als so etwas wie ein Emporkömmling angesehen, als sie Papa geheiratet hat, aber wenn ich zurückdenke, fallen mir keine Feindseligkeiten ihr gegenüber ein, nicht solange ich hier war.«

Er blickte sie von der Seite an.

»Die Leute, die deiner Stiefmutter gerne die kalte Schulter gezeigt hätten, haben das vielleicht nicht in deiner Gegenwart getan.«

Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich.

»Du hast natürlich recht. Ich frage mich, was da vor sich geht, wie Moira zurechtgekommen ist, nachdem ich fort war.«

»Nicht sonderlich gut, dem Vernehmen nach.«

Sie erreichten die Grosvenor Street, und sie deutete auf ein großes Stadthaus auf der anderen Straßenseite, ein Stück zurückgesetzt vom Platz.

»Das da ist es.« Sie blieb stehen, dann holte sie tief Luft. »Komm mit.«

Er fasste sie am Ellbogen. Gemeinsam überquerten sie die Straße und stiegen die Stufen zur Eingangstür hinauf. Er ließ sie los und zog an der Türglocke. Irgendwo im Haus hörten sie ein Läuten.

Clarice stand vor der Tür ihres Vaterhauses, allerdings war ihr Vater tot und an seiner Stelle regierte nun ihr ältester Bruder Alton. Hinter ihr stand Jack, nicht unbedingt entspannt, aber elegant, größer und stärker als sie, fähig wie auch willens, ihr beizustehen, sollte sie Hilfe brauchen.

Dieses Wissen war ihr ein großer Trost, was sie überraschte. Ja, es beunruhigte sie sogar ein wenig. Sie hatte nie zu denen gehört, die sich auf andere verließen, und hatte vor langer Zeit schon gelernt, dass es besser war, keine Zeugen zu haben, falls etwas schieflief. Es hatte ihr nie gefallen, wenn andere ihre Schwächen bemerkten. Doch mit Jack … irgendwie war Jack anders.

Er war ihr sehr ähnlich. Sie vertraute ihm, dass er wusste, wie er reagieren musste.

Es kam ihr sehr merkwürdig vor, mit einem Gentleman wie Jack auf der Türschwelle ihres Vaterhauses zu stehen.

Schwere Schritte näherten sich, dann hörten sie, wie ein schwerer Riegel zurückgezogen wurde.

Langsam öffnete die Tür sich.

»Ja, bitte?«

Hocherhobenen Hauptes blickte Clarice in das Gesicht des Butlers ihres Vaters und sah, wie seine anfangs noch hochnäsige Miene ehrlicher, herzlicher Freude Platz machte, wie sie sich auch auf ihren Zügen widerspiegeln musste.

»Lady Clarice! Mylady  – kommen Sie herein!« Der alte Edwards bemühte sich, sich schwungvoll zu verbeugen. Er lächelte breit, als sie über die Türschwelle in die schwarz-weiß geflieste Halle trat. »Es tut meinen alten Augen so gut, Sie wiederzusehen, Mylady.«

»Danke, Edwards. Das hier ist Lord Warnefleet.« Sie wartete, während Edwards sich auch vor Jack verneigte. »Ist Alton da?«

»Allerdings, Mylady, und er wird überglücklich sein, Sie nach all diesen Jahren wiederzusehen. Er befindet sich in der Bibliothek.«

Clarice verbarg ihr Erstaunen, als sie sich zum Korridor auf der linken Seite der breiten Treppe wandte. Alton zu dieser Stunde in der Bibliothek? Dass er überhaupt dort war. Hier hatte sich eindeutig etwas verändert.

Sie hatte seit sieben Jahren keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt, nicht seit sie von der Familie nach Avening verbannt worden war. Im Lauf der Jahre hatte sie es sich angewöhnt, sich von ihrer Familie fernzuhalten, ja, sogar von ihren Brüdern. Auch wenn sie den Kontakt vermutlich hätte wieder aufnehmen können, nachdem ihr Vater gestorben war und sein Urteilsspruch nicht länger galt, ihren Namen nicht zu erwähnen. Aber nach fünf Jahren ohne jeglichen Kontakt hatte sie sich daran irgendwie gewöhnt.

Vermutlich war es ihren Brüdern nicht anders ergangen, denn sie hatten ihr nie geschrieben oder sie in Avening besucht, auch nach dem Tod ihres Vaters nicht. Während ihrer Besuche in der Stadt hatte sie daher auch keine Anstrengungen unternommen, den Kontakt wieder aufzunehmen, und da sie Gesellschaftssalons und Ballsäle mied, hatte sie sie nie bei einer Veranstaltung getroffen.

Sie blieb vor der Bibliothekstür stehen und stellte erstaunt fest, dass sie keine Aufregung, sondern leise Verwunderung und Neugier verspürte. Alton, stets gut gelaunt, hatte immer schon einen Hang zur Frivolität gehabt, zu Leichtfertigkeit. Sein Mund war beständig zu einem unbekümmerten Lächeln verzogen, das recht zutreffend seine Sicht auf die Welt wiedergab. Und er war vermutlich der ernsthafteste ihrer Brüder. Die drei Söhne ihres Vaters aus erster Ehe waren von Geburt an bevorzugt und verwöhnt worden. Zwar waren sie alle mit guter Gesundheit gesegnet und hatten ein ausgeglichenes Wesen, aber wohin das alles führen würde, war vorhersehbar gewesen.

Edwards war vorausgegangen. Sie gestattete ihm, die Tür zu öffnen und sie anzukündigen. Es hätte Edwards gekränkt, wenn sie ihn fortgewinkt hätte. In dem Augenblick, da er verkündete: »Lady Clarice, Mylord, und Lord Warnefleet«, trat sie schwungvoll in das Zimmer.

Und sah Alton hinter dem riesigen Schreibtisch sitzen, er war hagerer geworden. Langsam hob er den Kopf, den er, anscheinend aus Verzweiflung, in die Hände gestützt hatte. Seine Miene spiegelte Benommenheit und Unverständnis wider. Flüchtig glitt sein Blick zu Jack.

Clarice blinzelte, und sieben Jahre lösten sich in Luft auf. »Gütiger Himmel, Alton! Du bist doch nicht zu dieser frühen Stunde betrunken?«

Sie hätte es nicht für möglich gehalten, aber sein schon viel zu blasses Gesicht wurde noch ein wenig bleicher.

»Nein! Natürlich nicht! Hab keinen Tropfen angerührt, nicht seit gestern. Ich schwöre …« Seine Worte verklangen. Einen Augenblick starrte er sie an, dann sprang er auf und lief um den Schreibtisch herum. »Clary! Gütiger Himmel, es tut so gut, dich zu sehen!«

Damit riss er sie in eine heftige Umarmung, drückte sie so fest an sich, als sei sie sein Rettungsanker, und Clarice war ratlos und verwirrt. Sie erwiderte die Umarmung, wenn auch schwächer, und tätschelte Alton die Schulter.

»Ich bin … wieder zurück, für den Moment.«

Alton ließ sie los, machte einen Schritt zurück, fasste sie an den Händen und betrachtete sie entzückt lächelnd. Seine dunklen Augen, nicht ganz so dunkel wie ihre, leuchteten vor überschäumendem Glück und, was ebenso eindeutig zu erkennen war, vor unendlicher Erleichterung.

Ehe sie sprechen konnte, wandte sich Alton, immer noch breit lächelnd, an Edwards.

»Das ist ein Grund zum Feiern, Edwards! Bringen Sie uns etwas  – nicht Champagner«  – er schaute zu Clarice  – »dafür ist es zu früh, nicht wahr? Wie wäre es mit etwas Ratafia oder Mandelmilch? Oder mögen die Damen nicht immer Sherry? Ich kenne mich mit so etwas nicht aus.«

Er war wie ein Kind, voller Eifer und von dem Wunsch beseelt, sie willkommen zu heißen und sie zu beeindrucken.

»Vielleicht Tee und Kuchen, Mylord?«, schlug Edwards vor.

Wie ein hoffnungsvoller junger Hund blickte Alton Clarice fragend an.

»Danke, Edwards. Tee und Kuchen sind genau das Richtige.« Sie hatte plötzlich eine Ahnung, dass sie die Stärkung gut gebrauchen konnte. Was ging hier vor sich?

»Oh, und Edwards?« Alton blickte den Butler an. »Es besteht keine Notwendigkeit, Ihre Ladyschaft darüber zu informieren, dass Lady Clarice hier ist.«

»Nein, gewiss nicht, Mylord.« Zwischen Herrn und Diener fand irgendeine geheimnisvolle Kommunikation statt, dann verneigte Edwards sich vor Clarice. »Mylady, lassen Sie mich Sie auch im Namen der Dienerschaft herzlich willkommen heißen und zum Ausdruck bringen, wie froh wir alle sind, Sie wieder unter diesem Dach zu sehen.«

Clarice neigte den Kopf.

»Danke, Edwards. Bitte richten Sie allen Grüße aus, die mich noch von früher kennen.«

Sie warteten, bis Edwards sich zurückgezogen hatte. Als er die Tür schloss, stellte Clarice ihrem Bruder Jack vor.

»Lord Warnefleet war so freundlich, mich in die Stadt zu begleiten. Er ist ein enger Freund von James.«

Offensichtlich froh, jeden zu empfangen, der seiner Schwester eine Freundlichkeit erwiesen hatte, ergriff Alton Jacks Hand, wandte sich aber fast sofort wieder seiner Schwester zu.

»Dein Zimmer steht bereit, genau wie früher. Niemand hat es bewohnt, seit du gegangen bist. Roger hat mit angehört, wie Hilda und Mildred darüber gesprochen haben, sich Sachen zu nehmen, darum hat er die Tür abgesperrt. Wir haben den Schlüssel versteckt, daher nehme ich an, es wird vielleicht ein wenig verstaubt sein, aber Mrs. Hendry wird überglücklich sein, dich wieder zu Hause zu haben, also …«

»Alton.« Clarice wartete, bis er ihr in die Augen sah. »Ich wohne im Benedict’s, so wie ich das immer tue.«

Er blinzelte, dann sah er sie leicht gekränkt an.

»Wie du es immer tust?« Er betrachtete ihr Gesicht. »Kommst du denn oft in die Stadt?«

Sein Ton weckte ihren Argwohn.

»Ich bin wenigstens zweimal im Jahr in London. Ich lebe zwar auf dem Lande, aber ich brauche trotzdem Kleider. Aber das habe ich dir doch geschrieben. Du hast nie auf meine Briefe geantwortet, und keiner von euch ist jemals zu Besuch gekommen, nach Avening …«

»Ich habe nie einen Brief von dir erhalten, nicht seit du gegangen bist.« Der hohle Ton in Altons Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er die Wahrheit sprach. »Ich wusste nicht, dass du in die Stadt kamst, und Roger und Nigel ebenso wenig.«

Clarice runzelte die Stirn, und ein Anflug von Abscheu mischte sich in ihre Stimme.

»Papa, nehme ich an. Ich hatte mich schon gefragt… aber ich habe noch einmal geschrieben, nachdem er gestorben war.« Alton schüttelte den Kopf. »Den hast du auch nicht bekommen?«

»Wir hatten keine Ahnung, dass du überhaupt in der Stadt warst. Wir dachten, du hast dich auf dem Land vergraben und dir ein neues Leben aufgebaut, uns vergessen. Du warst so wütend und enttäuscht, als du gegangen bist.«

Sie strich ihm über den Arm und ging dann an ihm vorbei zu einem Stuhl.

»Nicht auf euch drei. Ich wusste ja, wie Papa war, vergiss das nicht. Ich habe euch nie die Schuld gegeben.«

Sie ließ sich auf dem Stuhl nieder, lehnte sich zurück und sah zu Alton auf, der sich zu ihr umgedreht hatte. Jack beobachtete, wie ihr Blick über die Züge ihres Bruders wanderte. »Aber ihr seid nie nach Avening gekommen, um mich zu besuchen.«

Alton winkte ab.

»Als du nicht auf unsere Briefe geantwortet hast …« Er brach ab, sah Clarice an, die den Kopf schüttelte. »Du hast sie nie erhalten?«

»Ich nehme an, du hast sie auf dem Tablett in der Eingangshalle liegen lassen, damit Papa sie frankiert.«

Alton fluchte tonlos, fuhr zum Schreibtisch herum und warf sich in seinen Stuhl.

»Ich dachte nicht, der alte Bock würde so weit gehen. Er hat sich geweigert, dass irgendjemand deinen Namen erwähnt, aber er hat nie etwas davon gesagt, dass wir dir nicht schreiben dürfen.«

»Er hat sich nicht die Mühe gemacht, es zu sagen, er hat es einfach getan.«

Alton stützte sich auf seine Ellbogen und blickte quer durch das Zimmer. Jack nahm gelassen auf dem anderen Stuhl vor dem Schreibtisch Platz und sah, was er bis dahin vermisst hatte: Flüchtig blitzte etwas in der grüblerischen Miene des Bruders auf, was ihn an Clarice’ Unbeugsamkeit erinnerte. Nach einem Augenblick blickte Alton Clarice an.

»Ich habe erneut geschrieben, nachdem er gestorben war.«

Bruder und Schwester blickten einander lange an, dann hob Clarice die Brauen.

»Verstehe.«

Jack nahm an, dass jemand anderes  – er tippte auf ihre Stiefmutter  – dafür gesorgt hatte, dass der Kontakt zwischen den Geschwistern unterbrochen blieb. Die Frage, die sich daraufhin sofort aufdrängte, lautete: Warum?

Dieselbe Frage stand in Clarice’ dunklen Augen. Er wurde immer besser darin, ihre Miene zu deuten, ihre Gefühle wahrzunehmen und ihre Gedanken zu erraten. Seit sie in die Bibliothek gekommen war, hatte sie … versucht, ihr inneres Gleichgewicht zu finden, denn solch einen Empfang hatte sie nicht erwartet. Er begann zu begreifen, dass sie zumindest mit einer kühlen Begrüßung gerechnet hatte, sogar von ihren Brüdern, und er bekam eine Vorstellung davon, wie tief die Wunde war, die ihr zugefügt worden war.

Aber wie er erkannte auch sie, wie weit ihre Erwartungen von der Wahrheit entfernt waren.

»Alton«, sie fing den Blick ihres Bruders auf, »ich bin heute hergekommen, um dich wegen James um Hilfe zu bitten, in einer Angelegenheit, die die ganze Familie betrifft. Aber bevor wir das besprechen, denke ich, erzählst du mir besser haarklein, was hier vor sich geht.«

Alton erwiderte ihren Blick. Er seufzte tief, rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Dann ließ er die Hände sinken, lehnte sich zurück und schaute Clarice an.

»Darum bin ich ja so froh, dich zu sehen. Was hier geschieht, ist ganz einfach: Moira hat das Sagen. Sie hält alle Fäden in der Hand, und wir alle sind ihre Marionetten, tanzen nach ihrer Pfeife.«

Clarice zog die Brauen zusammen. Ehe sie ihre nächste Frage stellen konnte, klopfte es an der Tür und Edwards trat mit einem Tablett ein, gefolgt von der Haushälterin, die eine Teekanne brachte. Sie mussten warten, während Clarice Mrs. Hendry begrüßte, lächelnd das Willkommen der Haushälterin entgegennahm und sanft, aber entschieden alle Hoffnungen im Keim erstickte, dass sie in Melton House bleiben würde. Als sich schließlich die Tür hinter dem Butler und der Haushälterin geschlossen hatte, wurde Alton sich wieder Jacks Anwesenheit bewusst.

Er räusperte sich.

»Vielleicht sollten wir diese Diskussion aufschieben, bis Lord Warnefleet uns verlassen hat.«

Jack fing Clarice’ warnenden Blick auf, ehe sie erklärte: »Lord Warnefleet geht nicht, wenigstens nicht ohne mich.« Altons Stirnrunzeln ignorierend sprach sie weiter, während sie ihnen Tee einschenkte. »Ich habe dir ja schon gesagt, er ist ein enger Freund von James. Er ist auch ein enger Freund von mir. Jack weiß alles über unsere Familie. Seine Unterstützung ist von entscheidender Bedeutung, für James, und auch für die Altwoods. Wenn er nicht jetzt mit anhört, was du zu sagen hast, dann werde ich es ihm nachher berichten. Also hör auf, dich zu zieren, und erklär mir, was los ist.« Sie reichte Alton seine Tasse; Jack beugte sich vor und nahm sich seine.

Clarice setzte sich mit ihrer Teetasse in der Hand wieder hin und richtete ihren inquisitorischen Blick auf ihren Bruder. »Du bist jetzt Melton  – du bist Inhaber des Marquisats. Dir gehört das Haus hier und die anderen Häuser. Was hat Moira dabei mitzureden?«

Alton sah erst Jack und dann Clarice an.

»Um es kurz zu machen, sie hat uns völlig in der Hand.«

Clarice warf ihm einen ungeduldigen Blick zu und drängte ihn, weiterzusprechen.

»Ich bin vierunddreißig, Roger ist dreiunddreißig und Nigel einunddreißig.« Alton hielt eine Hand in die Höhe, als Clarice den Mund öffnete, um ihm zu sagen, dass sie das bereits wusste. »Noch vor Papas Tod hatten wir alle drei jeweils die Frau gefunden, die wir heiraten wollten. Alles ganz ehrlich und perfekt. Aber… Moira wusste es natürlich. Sie sagte uns, es gebe keinen Grund zur Eile, dass genug Zeit sei, berücksichtige man, wer wir seien, um öffentlich zu machen, auf wen unsere Wahl gefallen sei, dass wir uns doch Zeit lassen sollten und uns vergewissern, dass wir uns richtig entschieden hätten …« Eine leise Röte stieg Alton in die blassen Wangen. »Wenn ich so zurückblicke, kann ich erkennen, dass sie unsere Unsicherheit und Unerfahrenheit ausgenutzt hat, aber … eines kam zum anderen, und wir schoben es immer wieder auf, die Sache Papa gegenüber zu erwähnen. Und dann ist er gestorben, bevor irgendetwas erklärt worden war oder offiziell bekannt gegeben war.«

»Aber dann warst du doch das Oberhaupt der Familie. Du brauchtest niemandes Einwilligung.«

Altons Lippen verzogen sich verächtlich.

»Das ist leider genau der Punkt, an dem es hakt. Nach Papas Tod hat Moira alles an sich gerissen. Jetzt brauche ich ihre Einwilligung, und die wird sie mir nicht einfach so ohne Weiteres gewähren. Und auch nicht, vermute ich, irgendwann in näherer Zukunft.«

Clarice betrachtete sein Gesicht und fragte mit ruhiger Stimme:

»Was hat sie denn in der Hand?«

»Unsere Vergangenheit natürlich.« Alton blickte Clarice flüchtig an, dann betrachtete er eingehend den Inhalt seiner Tasse. »Du weißt doch, wie wir waren… wie Papa war. Wir wurden praktisch dazu aufgefordert, uns mit jedem weiblichen Wesen zu vergnügen, das uns gefiel, besonders auf Rosewood.«

Ihre Stimme klang neutral, als Clarice antwortete:

»Du sprichst von Hausangestellten, Wäscherinnen und Milchmädchen, nehme ich an?«

Alton nickte, ohne aufzusehen.

»Es war immer so leicht, und selbst wenn das Unvermeidliche geschah, wie es natürlich uns allen drei passiert ist, hat Papa nie viel Aufhebens gemacht, sondern hat einfach dafür gesorgt, dass das Mädchen versorgt ist und das Kind bei einer der Familien auf dem Gut aufwächst. Du weißt ja, wie das gehandhabt wird.« Mit schmalen Lippen schnitt er eine Grimasse. »Was aber keiner von uns wusste, noch nicht einmal Papa, möchte ich wetten, war, dass Moira nicht nur von jedem Zwischenfall wusste, sondern Listen geführt hat. Mehr noch, als wir  – Roger, Nigel und ich  – in die Stadt kamen, hat sie auch hier unser Treiben verfolgt, wie auch immer sie das bewerkstelligt hat.« Alton sah auf und schaute Clarice an. »Sie hat von jedem von uns eine Liste, auf der jedes Abenteuer, jede Affäre verzeichnet ist.«

Er holte tief Luft und machte eine hilflose Handbewegung. »Bei jedem von uns gibt es mindestens eine Liaison, die, wenn sie bekannt würde, …unsere Heiratspläne in Gefahr bringen würde.«

Clarice erwiderte seinen Blick und sagte leise:

»Wir bewegen uns nun einmal in eher begrenzten Kreisen …«

Altons Lippen zuckten; er nickte.

»Genau. Du weißt, was daraus werden kann.«

Jack runzelte die Stirn. Als weder Clarice noch Alton weitersprachen, fragte er:

»Also benutzt Moira die Information, um was zu tun? Geld aus dem Besitz abzuziehen?«

Ein großer Diamant funkelte in Altons Halstuch, ein kleinerer Edelstein zierte den schweren Siegelring aus Gold an seiner rechten Hand. Sein Rock stammte von Schultz, sein Hemd war aus feinstem Leinen. Er war makellos  – und sichtlich erlesen  – gekleidet.

Altons Miene hellte sich auf, und er lachte, aber es klang nicht fröhlich.

»Oh nein. Das ist nicht, was sie bezweckt. Genau genommen ist sie diejenige, die uns ermutigt, mehr auszugeben. Sie will, dass wir so reich wirken, wie wir sind. Sie genießt ihre Rolle als Marquise von Melton. Sie gibt weiterhin als Gastgeberin rauschende Feste. Wir müssen immer der Gipfel der Eleganz sein.« Alton schwieg kurz, und die Bitterkeit seines Tones spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. »Nein, ihr geht es nicht ums Geld, sondern um Kontrolle  – über uns.« Er schaute Jack an. »Die Macht, uns zwingen zu können, nach ihrer Pfeife zu tanzen.«

Nach einem Augenblick sah Alton zu seiner Schwester. »Moira hat auch versucht, dich zu kontrollieren, aber das ist nach hinten losgegangen; trotzdem ist sie dich losgeworden. Bei uns dreien war sie vorsichtiger. Als wir nach Papas Tod endlich begriffen, was gespielt wurde, waren wir schon gefangen. Und, was noch schlimmer ist, wir haben ihr selbst das Werkzeug dafür geliefert, indem wir sie in unsere Heiratsabsichten eingeweiht haben. Es bereitet ihr unselige Freude, dass sie weiß, dass sie uns wie Marionetten lenken kann und unsere Zukunft und unser zukünftiges Glück von ihren Launen abhängt.«

Clarice sagte nichts, und ihre Abneigung ihrer Stiefmutter gegenüber war beinahe greifbar.

»Was hast du dagegen unternommen?« Als Alton sie anschaute und verständnislos blinzelte, formulierte sie es anders: »Hat einer vor euch sie jemals herausgefordert, ihre Entschlossenheit auf die Probe gestellt, oder habt ihr einfach ihre Drohungen hingenommen?«

Altons kummervoller Gesichtsausdruck, der vorübergehend verschwunden war, kehrte zurück.

»Roger hat es versucht. Er hat gesagt, er wolle es Alice sagen  – Alice Combertville, Carlisles Tochter  – und sich ihrer Gnade ausliefern. Das hat er auch getan. Zuerst sah es so aus, als habe er damit Erfolg. Alice war außer sich vor Wut über Moiras hinterhältiges Spiel und hat beteuert, es mache ihr nichts aus … aber dann, zwei Tage später, hat Roger eine Nachricht von ihr erhalten, in der sie die Beziehung für beendet erklärt hat. Er hat versucht, mit Alice zu sprechen, herauszufinden, warum sie ihre Meinung geändert hat, um sie zu überzeugen…« Alton sah aus, als sei ihm übel. »Das war letzten November. Es ist ihm immer noch nicht gelungen, mit ihr zu reden.«

»Versucht er es immer noch?«

»Ja! Was sonst kann er denn tun? Es treibt ihn schier in den Wahnsinn. Sie tanzt in letzter Zeit häufiger mit Throgmorton und Dawlish. Er hat Angst, sie könnte den Antrag von einem der beiden annehmen. Dann wäre alles aus und vorbei.«

Clarice schaute Alton eindringlich an, dann erklärte sie schlicht:

»Sag Roger, dass er mit Alice reden muss, selbst wenn er sie dazu entführen muss. Er muss sie fragen, was Moira ihr gesagt hat.«

Alton runzelte die Stirn.

»Es war nicht Moira, sondern Roger, der ihr alles gestanden hat.«

Clarice machte einen abfälligen Laut und stellte ihre Teetasse ab.

»Richte Roger aus, ich biete ihm eine Wette an. Nachdem er mit Alice gesprochen hat, ist sie garantiert erbost zu Moira gegangen und hat sie zur Rede gestellt. Aber Moira hat irgendetwas gegen ihn in der Hand gehabt, sie hat sich irgendetwas Furchtbares ausgedacht, über das Alice nicht hinwegsehen konnte. Darum, das wette ich, hat sie ihre Meinung geändert und mit Roger gebrochen.« Der Blick, den sie Alton zuwarf, war eine Mischung aus Erbitterung und Zuneigung. »Ihr lasst euch wirklich zu leicht manipulieren.«

Sie lehnte sich zurück.

»Und was ist mit Nigel?«

»Er und Emily Hollingworth, nun, ich denke, man kann sagen, dass er in typischer Nigel-Manier sich erst einmal fügt und hofft, dass sich alles von allein klärt. Also dass entweder ich oder Roger einen Weg finden, Moria zu umgehen.« Alton verzog das Gesicht. »Emily ist auch erst zwanzig. Sie haben noch Zeit.«

Clarice hob die Brauen.

»Aber du nicht?«

Alton hob den Kopf und sah ihr ins Gesicht.

»Nein.« Er machte erneut eine hilflose Handbewegung. »Damit habe ich mich gerade herumgeschlagen, als du hereinkamst.« Er atmete zitternd ein. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.«

»Wer?«, fragte Clarice.

»Sarah Haverling, die älteste Tochter vom alten Conniston.«

Clarice schürzte die Lippen, dann nickte sie langsam.

»Eine ausgezeichnete Wahl.« Sie blickte Alton an. »Du bist dir mit ihr einig, aber du hast noch nicht offiziell um sie angehalten, richtig?«

»Ich habe so etwas ihrem Vater gegenüber noch nicht einmal angedeutet.«

»Gehe ich recht in der Annahme, dass etwas geschehen ist, was für Druck in der Sache sorgt?«

»Ja. Sarah ist dreiundzwanzig, beinahe vierundzwanzig. Das wird ihre letzte Saison sein. Wir sprechen schon ein Jahr vom Heiraten, aber angesichts dessen, was Moira wie ein Damoklesschwert über mein Haupt hält …« Hilflosigkeit ließ die Falten in Altons Gesicht stärker hervortreten. »Ihr Vater und ihre Stiefmutter ermutigen sie zu heiraten, was kaum überraschend ist. Sie haben Farleigh und Bicknell vorgeschlagen, die beide von ihr hingerissen zu sein scheinen. Wenn einer ihr einen Antrag macht … wenn ich dann nicht dagegenhalten kann, wird Sarah genötigt werden, ihn zu nehmen.«

Jack, der Clarice beobachtete, sah, wie sie sich versteifte. Sarah Haverlings unmittelbare Zukunft erinnerte stark an Clarice’ Vergangenheit.

»Das Schlimmste jedoch«, fuhr Alton fort, und seine Stimme war leiser, sein Blick wieder auf seine verkrampften Hände gesenkt, »ist, dass Sarah nicht verstehen kann, warum ich nicht mit ihrem Vater sprechen will. Sie ist von keinem der beiden anderen angetan, und sie sind auch älter. Sie wendet sich mir zu, und ich muss immer neue Ausflüchte erfinden …« Seine Stimme wankte; er holte noch einmal tief Luft. »Ich habe seit Tagen nicht geschlafen. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich noch tun soll.«

Ein Moment verging, dann fragte Clarice leise:

»Was hat Moira gegen dich in der Hand?« Als Alton sie anschaute, erwiderte sie seinen Blick. »Wenn du es mir nicht sagst, dann kann ich dir auch keinen Rat geben.«

Alton starrte sie einen Augenblick lang an, dann sah er wieder zu Jack.

»Mach dir wegen Jack keine Sorgen.« Clarice’ Ton war nüchtern. »Seine Diskretion ist sichergestellt, und du wirst vermutlich bei ihm mehr Mitgefühl ernten als bei mir.«

Alton lächelte nicht und blickte Clarice an.

»Ich hatte eine Affäre mit Sarahs Stiefmutter Claire.«

Clarice hob die Brauen.

»Wie überaus unklug. Aber ich gehe doch davon aus, dass das vor Sarah war, oder?«

Alton wirkte ärgerlich.

»Es ist viele Jahre her. Sarah war noch im Schulalter.«

»Ah ja. In dem Fall rate ich dir, ihr alles zu gestehen. Wenn Claire sich in den letzten sieben Jahren nicht grundlegend geändert hat, bezweifle ich sehr, dass sie dir Schwierigkeiten machen wird.«

Alton richtete seinen Blick auf Clarice, und Jack konnte auf einmal eine ausgeprägtere Ähnlichkeit erkennen.

»Ich kann es ihr nicht einfach gestehen. Nachdem Roger es versucht hatte, sich gegen sie aufzulehnen, hat Moira mir gesagt, wenn ich um Sarah anhielte, dann werde sie nicht mit Sarah sprechen, sondern mit Conniston selbst. Wir wissen vielleicht alle, dass Claire seit Jahren Liebhaber hat, aber Moira wird Conniston versichern, dass, wenn er mir erlaubt, Sarah zu heiraten, sie dafür sorgen wird, dass sich die Geschichte wie ein Lauffeuer verbreitet, dass Conniston seine Tochter einem Mann zur Frau gibt, der ihm selbst früher Hörner aufgesetzt hat.«

Clarice sah Alton an und verzog das Gesicht.

»Oh.«

Das, überlegte Jack, war eine sehr hübsche Zusammenfassung. Er begann ein echtes Interesse daran zu entwickeln, Clarice’ alte Erzfeindin kennenzulernen, die mittlerweile, wie es den Anschein hatte, auch die Erzfeindin ihrer Brüder geworden war. Er war neugierig darauf, was für eine Sorte Frau so unverfroren Menschen von Clarice’ oder Altons Kaliber derart übel mitspielen konnte. Trotz Altons Zustand konnte Jack den eisernen Willen und die Arroganz erkennen und wusste, dass Alton normalerweise kein Schwächling war. Seine innere Stärke war vielleicht noch nicht so ausgeprägt wie bei Clarice, aber wie es aussah, arbeitete Moira daran.

Seiner Ansicht nach konnte sich das als durchaus gefährlich erweisen, und zwar vor allem für Moira. Die Frau musste blind sein, um nicht zu begreifen, mit was für Menschen sie es zu tun hatte.

Er hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als die Bibliothekstür aufgestoßen wurde.

Sie blickten alle in dieselbe Richtung. Eine blondhaarige Harpyie stand auf der Schwelle, und ihre blauen Augen schleuderten Blitze und ihr umfangreicher Busen hob und senkte sich in unkontrollierter Wut.

»Alton!« Die Stimme war schrill, kippte fast. »Wie kannst du es wagen, dieses…« Die Augen der Erscheinung richteten sich zornglühend auf Clarice. »Dieses Weibsbild hier zu empfangen, im Hause deines Vaters?«