11
Jack stieg die Stufen hoch und beglückwünschte sich, dass er sich für das Maiden & Sword entschieden hatte. Der Gasthof war nicht nur sauber und gemütlich, er wurde auch gewöhnlich von der guten Gesellschaft übersehen, weil er auf der Londoner Seite der Hauptpoststation in der Stadt Reading lag. Es waren heute Nacht keine Mitglieder der Aristokratie oder aus anderen höheren Gesellschaftsschichten anwesend. Ein paar gut situierte Kaufleute, Geschäftsleute und ihre Ehefrauen, eine Kundschaft, die zweifellos für die Qualität des Gasthofes sprach, aber niemand, der ihn oder Clarice kennen dürfte.
Er öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und trat ins Dunkle. Er blickte sich um. Clarice hatte alle Kerzen gelöscht und die Vorhänge vor dem Fenster nicht zurückgeschoben. Alles, was er sehen konnte, war ihre Gestalt unter der Decke auf der Fensterseite des Bettes. Sie hatte die Bettvorhänge nicht zugezogen. Er schloss die Tür, und damit verschwand auch das schwache Licht aus dem Flur. Leise ging er zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.
Blasses Mondlicht fiel herein, sodass er etwas erkennen konnte. Er setzte sich auf den Lehnstuhl und zog sich die Stiefel aus. Dann entkleidete er sich ohne Eile, hängte seinen Rock in den Schrank und legte Hemd und Weste über einen hochlehnigen Stuhl.
Nackt ging er zum Bett, hob die Decke an und schlüpfte darunter. Sobald sich die Matratze unter seinem Gewicht senkte, rollte Clarice sich zu ihm herum.
Er hatte damit gerechnet, sie aber nicht.
Sie unterdrückte einen Schrei. Klugerweise verkniff er sich ein Lachen, als er sie geschickt an sich zog, sodass ihre Gesichter einander zugewandt waren und ihre Nasen sich fast berührten.
Sie sah ihm in die Augen. Im selben Augenblick fiel ihm auf, dass sie auch nackt war. Warme seidige Haut und lange Glieder, frauliche Rundungen.
Ihr Blick senkte sich auf seine Lippen; er schaute auf ihre.
Sie berührte ihn, während er seine Arme um sie legte. Wer wen küsste, ließ sich nicht sagen.
Was folgte, war ihr gewohntes Gerangel um sinnliche Überlegenheit. Während sie sich küssten, gab sie schließlich nach und ließ zu, dass er ihren Mund erkundete. Aber gleichzeitig drückte sie ihn mit den Händen auf den Schultern auf die Matratze.
Er achtete nicht auf das, was sie tat, gehorchte und rollte sich auf den Rücken.
Ausgestreckt daliegend schaute er zu, wie sie sich im schwachen Mondschein über ihn schob, sich auf ihn setzte und sich auf ihn senkte, ihn mit ihrer Hitze umfing.
Dann ritt sie ihn, trieb sie beide langsam, aber unaufhaltsam weiter, härter und fester bis kurz vor den Höhepunkt.
Er fasste sie um die Hüfte, rollte sich mit ihr herum, sodass sie unter ihm lag. Spreizte ihre Beine noch weiter, bedeutete ihr, sie um seine zu schlingen, und drückte sie in die weiche Matratze und drang tief in sie ein. Alles war so vertraut.
Er beugte den Kopf, fand ihre Lippen und küsste sie, schob seine Zunge in ihren Mund im selben Rhythmus wie sich sein Körper mit ihrem vereinte, im selben erotischen Herzschlag.
Clarice konnte nicht denken, nur reagieren und den Moment genießen. Die Gefühle überwältigten sie, und sie geriet in diesen vertrauten, tröstlichen und gleichzeitig befreienden, halb unbewussten Zustand. Die Hitze durchfuhr sie, eine köstliche Flamme. Er streckte machtvoll seinen Körper, als er sie bedeckte, in Besitz nahm und sie miteinander im schützenden Kokon der Apfelblütenvorhänge dem uralten Tanz folgten, gefangen in einer Welt aus Leidenschaft und Verlangen.
Heiße Leidenschaft, wildes Verlangen.
Auf sein Drängen hin legte sie ihm die Beine um die Hüften, spürte seine Hand auf ihrem Hintern, mit der er sie anders hinschob. Und schnappte keuchend nach Luft, als er sich tiefer in ihren willigen Körper stieß, in ihre Hitze, in das Feuer, das heller und heller brannte, während er es anfachte, sie streichelte, bis nichts mehr zählte als die lodernden Flammen und der Drang nach Erlösung, das Sehnen nach Erfüllung.
Die herrlich verzweifelte Zerstörungskraft, die sie beide übermannen würde.
Sie kam mit Macht.
Einen langen Augenblick umklammerten sie einander, hielten sich auf dem Gipfel, darin gefangen und vom reinen Glück überwältigt, dann ließen sie sich in das beseligende Vergessen fallen.
Er brach unter ihr zusammen. Ihre Arme und Beine fühlten sich wie aus Gelee an, aber sie hielt ihn weiter umschlungen, streichelte langsam die langen Muskeln auf seinem Rücken. Sie lauschte seinem donnernden Herzschlag, der sich allmählich beruhigte. Spürte seinen Herzschlag in sich. Spürte ihren eigenen unter ihrer Haut, in ihren Fingerspitzen langsamer werden.
Schließlich rührte er sich und hob sie von sich. Er schob einen Arm unter sie und zog sie an sich, bettete sie an seine Seite.
Sie ließ es geschehen, legte ihren Kopf auf seine Brust und murmelte:
»So habe ich mir das nicht gedacht.«
Sie hatte vorgehabt, die Kontrolle zu behalten, ihren Körper dazu benutzen, um ihn zu überwältigen, zuzusehen, wie sie ihn befriedigte. Sie war immer noch verwundert und fasziniert, dass sie dazu in der Lage war.
Er entspannte sich, sank tiefer ins Bett.
»Du wirst nicht immer bekommen, was du haben willst.«
Ihre Lider waren zu schwer, um sie zu heben, ihn anzusehen und auf seinen Ton angemessen zu antworten, der andeutete, dass er gewusst hatte, was sie vorhatte, er aber nicht in der Stimmung gewesen war, ihr diesen Gefallen zu tun.
Wenn sie die Kraft besäße, hätte sie ihn wegen dieser Arroganz zur Rede gestellt, aber sie war zu gesättigt und zu matt dazu.
Im Moment beschäftigte sie am meisten der Gedanke, wie er ihre Affäre in London fortsetzen wollte. Darüber hatte sie nachgedacht, während sie im Dunkeln im Bett gelegen und darauf gewartet hatte, dass er zu ihr kam. Im Gegensatz zu ihren Erwartungen hatte sie es nicht eilig, ihre Beziehung zu beenden, noch nicht. Es gab noch eine Menge, was sie lernen musste, und eine Menge, was er sie lehren konnte. Er war vielleicht ein arroganter Lord, aber er war durchaus auch nützlich.
Sie regte sich und hob den Kopf, damit sie ihn ansehen konnte. Eine schwere Locke, hellbraun mit goldfarbenen Strähnen durchzogen, war ihm in die Stirn gerutscht. Sie strich sie zur Seite, gerade als er den Kopf wandte, um sie anzusehen. Mit ihrem Handrücken traf sie unglücklich seine Schläfe.
Selbst in dem unzureichenden Licht sah sie ihn zusammenzucken. Spürte, dass ihn Schmerz durchfuhr.
»Was ist los?« Sie hörte die Sorge in ihrer Stimme, erkannte, dass sie ihn als unverwundbar betrachtete, obwohl sie natürlich wusste, dass er es nicht war. Er war auch nur aus Fleisch und Blut, und Fleisch und Blut konnte so leicht sterben.
Halb rechnete sie damit, dass er »Ach, nichts« antworten würde, aber nach einem Moment des Zögerns entspannte er sich und ließ sich in die Kissen sinken.
»Eine Verletzung, die ich mir vor nicht allzu langer Zeit zugezogen habe.«
»Vor nicht allzu langer Zeit?« Sie wollte sich aufsetzen, um ihn besser untersuchen zu können; aber sein Arm schloss sich fester um sie und verhinderte das. Sie betrachtete ihn mit finster zusammengezogenen Brauen. »Wie lange ist es her?«
»Ein paar Wochen.«
Sie blinzelte kurz.
»Ach, das also ist die Verletzung.«
Als sie nicht weitersprach, zog er die Brauen hoch.
»Als ich das erste Mal ins Herrenhaus kam, um nach Anthony zu sehen, hast du dich mit Mrs. Connimore über eine nicht ausgeheilte Verwundung unterhalten.«
Er schwieg eine Weile; an seiner Miene konnte sie ablesen, dass er sich in Erinnerung rief, was genau er damals zu seiner Haushälterin gesagt hatte.
»Verstehe.« Er blickte sie wieder an, studierte ihr Gesicht. »Was für eine Verletzung, dachtest du, habe ich?«
Sein Tonfall war neugierig, verwundert und argwöhnisch. Sie war versucht, zu sagen, sie habe nicht weiter darüber nachgedacht, der Ausdruck in seinen Augen jedoch verriet ihr, dass er sich nicht täuschen lassen würde, sogar, dass er zu vermuten begann, was sie gedacht hatte. Sie hob eine Schulter. »Ich habe drei ältere Brüder. Und dann hast du Percy kommen lassen …«
Sie brach ab, als sein Mund sich zu einem breiten Grinsen verzog. Sein Brustkorb begann, unter ihr zu beben. Sie betrachtete ihn aus schmalen Augen. »Und dann hast du erklärt, du würdest keine Kinder bekommen. Was, zum Teufel, denkst du, habe ich gedacht?«
Er warf den Kopf zurück und lachte, gab sich allerdings Mühe, nicht zu viel Lärm zu machen.
Sie wartete ungeduldig.
Er bemerkte es, und seine Belustigung schwächte sich ab, bis er nur noch schmunzelte. Grinsend erklärte er:
»Keine bekommen werden, nicht keine haben können.« Unter der Decke stieß er sie an. »Ich hätte gedacht, dass dieser feine Unterschied dir inzwischen auch aufgefallen wäre.«
»Ich würde sagen, dem wäre auch so, wenn ich über die Sache weiter nachgedacht hätte.« Trotz ihres hochnäsigen Tonfalles war das die Wahrheit. Er war so unverhohlen männlich und kraftstrotzend, dass sie völlig vergessen hatte, dass er angeblich eine Verletzung hatte.
»Wie geht es dir? Was genau ist es? Tut es sehr weh?«
Er schnitt eine Grimasse. Sie erkannte in seinen Zügen, dass es die übliche Reaktion eines Mannes auf die besorgte Nachfrage einer Frau war.
»Es tut manchmal weh, aber in letzter Zeit nicht mehr sehr. Ich habe einen üblen Schlag auf den Kopf abgekriegt.«
Einen Schlag auf den Kopf, der Wochen später noch schmerzte? »Was, um alles in der Welt, hast du getan, um so einen Hieb abzubekommen?«
Er blickte ihr in die Augen, dann zog er sie wieder an sich und erzählte es ihr zu ihrer nicht geringen Überraschung. Sie hörte zu, abwechselnd fasziniert, entsetzt und erstaunt. Sie machte keine Bemerkung, als er ihr beschrieb, wie er von dem französischen Spion hereingelegt und übertölpelt worden war, den in Schach zu halten eigentlich seine Aufgabe gewesen war. Obwohl er diesen Vorfall unverkennbar als Versagen betrachtete, das ihn immer noch ärgerte, hatte er sich damit abgefunden und quälte sich nicht länger deswegen. Weder grübelte er über seinen Fehler, noch versuchte er, Entschuldigungen dafür zu finden. Sie hatte genug Erfahrung mit den Unwägbarkeiten des Lebens, um die Reife in dieser Haltung zu würdigen.
Als er schließlich schwieg, runzelte sie die Stirn.
»Also hast du dich aus dem Dienst zurückgezogen, stehst der Regierung aber nach wie vor zur Verfügung?«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, wir sind eher einer wichtigen Sache verpflichtet. Diejenigen von uns, die in unserem Spezialgebiet eingesetzt waren, sind besser geeignet, besser dafür ausgebildet, auf gewisse Situationen zu reagieren. Und in diesem jüngsten Fall haben wir einem Freund geholfen, sozusagen einem ehemaligen Kameraden im Dienst fürs Vaterland.«
»Also gehe ich recht in der Annahme, dass die Kontakte, mit denen du in London reden willst, ebendiese ehemaligen Kameraden und dein ehemaliger Vorgesetzter sind?«
»Genau.« Er unterdrückte ein Gähnen, sank tiefer ins Bett. »Ich werde mit denen aus der Truppe reden, die noch in der Stadt sind.« Seine Stimme klang schläfrig. »Und ja, sie werden uns helfen.«
Seine Müdigkeit war ansteckend; ihre Lider fühlten sich immer schwerer an. Sie schmiegte sich an ihn, er strich ihr über den Kopf und ließ seine Finger zärtlich durch ihr Haar gleiten.
Frieden hüllte sie ein, warm, ruhig und anspruchslos. Sie hatte noch nie zuvor ein Bett geteilt, aber ihm so nah zu sein fühlte sich richtig an. Sie fühlte sich unerwartet sicher und geborgen.
Seine sichere Überzeugung, dass seine Freunde ihnen helfen würden, sich für James zusammentun würden, beruhigte sie. Tief im Innern war sie immer noch schockiert, dass James des Hochverrats angeklagt werden könnte. Aber noch faszinierender fand sie, dass sie durch seine Geschichte eine neue Seite von ihm kennengelernt hatte – wie seine Freunde ihn sahen, dass er ein Mitglied einer solchen Gruppe war, loyale Verteidiger selbst in Friedenszeiten, die diejenigen, die mit der Aufgabe der Landesverteidigung betraut waren, nicht zögerten, zu Hilfe zu rufen.
Ihre ursprüngliche Einschätzung von ihm als einem liederlichen Tunichtgut fiel ihr wieder ein. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Wie sehr sie sich geirrt hatte.
Je mehr sie über ihn erfuhr, desto stärker wuchs ihre Anerkennung für ihn. Mein Gott, sie war auf bestem Wege, für ihn Bewunderung zu empfinden. Es gab nur wenige andere Männer, denen sie das zubilligte. Genau genommen, überlegte sie, während ihr Verstand von Schlaf umnebelt wurde, fiel ihr niemand ein.
Sie spürte, wie die Reste der Wachsamkeit sie verließen, als sie langsam in den Schlaf glitt. Sie lauschte seinem ruhigen, gleichmäßigen Atem. Sein Herz schlug unter ihrer Wange, ein gedämpftes verlässliches Klopfen, regelmäßig und fest. Seine Arme hielten sie sicher, aber engten sie nicht ein. Sie spendeten Trost, boten Schutz, aber beschnitten ihre Freiheit nicht.
Schlaf lockte, und sie überließ sie ihm, entspannte sich in seinen Armen.
Warm, zufrieden und sicher. Mann und Frau mit ihm zu spielen war nicht schlecht.
Der verirrte Gedanke riss sie wieder aus dem entspannten Einschlafen; sie wunderte sich, aber dann lächelte sie nur und ließ die Überlegung weiterziehen, schlief ein.
Zum ersten Mal in seinem Leben wachte Jack im Morgengrauen mit einer Frau in seinen Armen auf.
Er hatte freilich mit vielen Frauen geschlafen, aber nie zuvor hatte er mit einer von ihnen die ganze Nacht das Bett geteilt.
Aber mit ihr … seiner Kriegerkönigin war in so vieler Hinsicht alles anders. Aufzuwachen und sie an seiner Seite zu spüren, warm, weich und so unendlich weiblich. Ihre Rundungen schmiegten sich herausfordernd an ihn, waren die schönste Belohnung für einen Krieger.
Er dachte nicht nach, als er ihr zart über den Arm strich, über den Busen und dann über die Hüfte und die langen Beine.
Er musste nicht nachdenken, um sie zu bewundern, zu verehren. Sie zärtlich zu erregen, ihren Körper zu wecken, so empfänglich und leidenschaftlich. Wie eine Blume die Blütenblätter der Sonne öffnet, wandte sie sich ihm unter seiner Berührung zu, ihr Verstand noch vom Schlaf umfangen, seufzte leise, während er sie aufweckte.
Sinnlich, heimlich aber beinahe ehrfürchtig liebkoste er sie.
Als er sich über sie schob und sich zwischen ihre Schenkel legte, zuckten ihre Augenlider und öffnete sich einen Spaltbreit.
Sie öffneten sich ganz, als er in sie eindrang. Sie schaute ihn an, und ihre Augen weiteten sich, als er sich ganz in sie versenkte. Ihre Lippen formten ein O, entspannten sich und verzogen sich zu einem Lächeln. Ihre Lider senkten sich wieder, verhüllten ihre dunklen Augen, in denen nun die Leidenschaft glomm.
Leidenschaft, die er geweckt hatte.
Er beugte sich vor, küsste sie auf die Lippen und liebte sie, während die Morgendämmerung den Himmel mit einem zarten Rot überzog und sanftes goldenes Licht in ihr Zimmer und auf ihr Bett fiel, wo sie sich, umgeben von Apfelblüten aus Baumwolle, der Leidenschaft überließen.
Es gab keinen Grund zur Eile. Eine köstlich langsame Reise durch eine Landschaft, die sie beide inzwischen gut kannten, wo sie immer wieder verweilten, auch wenn sie schon schwerer atmeten, während sie einander genossen und der Erfüllung zustrebten.
Einer Erfüllung, an der sie nicht zweifelten, die sich in den sich wiederholenden Bewegungen ihrer Körper offenbarte. Sie merkten nicht mehr viel von ihrer Umwelt, waren ganz auf einander konzentriert und ineinander versunken.
Es war eine Vereinigung von Körper und Verstand. Und als sie gemeinsam den Gipfel erklommen, sich der Ekstase überließen, verschmolzen auch ihre Seelen.
Später lagen sie da, in den Armen des anderen. Keiner sagte etwas. Beide nahmen die Macht und Stärke dessen wahr, was zwischen ihnen entstand und wuchs, wussten, dass der andere es ebenfalls spürte, aber es war noch zu neu, als dass es einer von ihnen hätte benennen können.
Er drehte den Kopf, hauchte einen Kuss auf ihre Schulter, spürte einen Moment später ihre Hand auf seinem Kopf; sie raufte ihm zärtlich die Haare.
Und er war zufrieden. Für den Moment.
Aber sein endgültiges Ziel, das er erreichen wollte und brauchte, für das er kämpfen wollte und musste, war nun bezeichnend klar. Er wollte für den Rest seines Lebens jeden Morgen genau so aufwachen, mit ihr.
Am frühen Nachmittag trafen sie in London ein. Da Clarice die Kutsche zur weiteren Nutzung behalten würde, gab Jack dem Kutscher die Anweisung, zuerst zum Montrose Place zu fahren.
In Gedanken ganz mit der vor ihnen liegenden Aufgabe beschäftigt, die Vorwürfe gegen James zu entkräften, hatte Clarice kaum auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt geachtet, an denen sie vorübergefahren waren. Aber als die Kutsche vor Haus Nummer 12 am Montrose Place stehen blieb, unterbrach sie ihre Auflistung der Fakten, die sie bereits kannten, um das Haus zu betrachten.
»Das hier ist euer Club?«
»Der Bastion-Club.« Jack öffnete die Tür und stieg aus. Er hatte ihr erklärt, dass es sich um einen privaten Club handelte, den er und seine sechs ehemaligen Kameraden als persönliche Festung gegen den Ansturm heiratswütiger Mütter der guten Gesellschaft und ihrer Mitstreiter gegründet hatten. »Warte hier. Ich werde meine Tasche bei Gasthorpe lassen – er ist unser Majordomus – und bin gleich wieder zurück.«
Ein Lakai war bereits aus dem Haus gekommen und holte gerade Jacks Reisetasche aus dem Kutschkasten. Clarice nickte, ohne den Blick von der Fassade des Clubgebäudes abzuwenden, als suchte sie nach Schwachstellen. Jack schob den Gedanken beiseite und folgte dem Lakaien die Eingangsstufen hoch.
Gasthorpe erwartete ihn an der Tür. Jack bat ihn, sich um sein Gepäck zu kümmern, und unterrichtete ihn, dass er unbestimmte Zeit hierbleiben wolle.
»Wir sind entzückt, Sie wieder bei uns zu haben, Mylord. Alles wird für Sie wie stets bereit sein. Wenn Sie noch irgendetwas benötigen, lassen Sie es mich bitte wissen.«
Jack lächelte sein gewohnt einnehmendes Lächeln. Er wollte sich gerade abwenden, als ihm noch etwas einfiel.
»Wer ist gegenwärtig außer mir hier? Crowhurst?«
»Ich bedaure, Ihnen mitteilen zu müssen, dass der Earl gestern nach Cornwall aufgebrochen ist. Aber letzte Woche ist Viscount Paignton zu uns zurückgekehrt. Ich glaube, er plant, ein paar Wochen zu bleiben. Und der Marquis ist auch in der Stadt; er schaut oft für einen Abend herein.«
Jack bedankte sich, grüßte zum Abschied und drehte sich um. Also war Deverell hier und Christian Allardyce, Marquis of Dearne, wäre ebenfalls zur Hand, wenn nötig. Ausgezeichnete Unterstützung, sollte er sie brauchen, und er würde sie auf jeden Fall einweihen; ihre Verbindungen und Beziehungen würden ihm dienlich sein.
Er lächelte immer noch, als er bei der Kutsche ankam. Clarice lehnte sich zurück, musterte sein Gesicht, als er einstieg und ihr gegenüber Platz nahm.
»Du siehst irgendwie … erwartungsvoll aus.«
Sein Lächeln vertiefte sich.
»Ich habe nur Witterung aufgenommen.«
Sie schnaubte und blickte aus dem Fenster, als die Kutsche sich mit einem Ruck wieder in Bewegung setzte. Jack bemerkte, dass sie nun die Fassaden der Gebäude anschaute und nicht länger mit James’ Schwierigkeiten befasst war. Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Brauen.
»Wohin fahren wir jetzt?«, wollte er wissen.
»Ich habe dem Kutscher die Adresse genannt.« Nach einem Augenblick fiel ihr auf, dass sie damit seine Frage nicht beantwortet hatte, und sah ihn an. »Zu Benedict’s Hotel in der Brook Street.«
Jack blinzelte verwundert. Er hatte angenommen, als sie erwähnte, sie wolle im Hotel wohnen, dass sie vom Grillons gesprochen hatte, einer Bastion von Anstand und Würde. Er hätte es nicht wagen dürfen, sie dort zu besuchen. Das Benedict’s hingegen war etwas ganz anderes. Was er gehört hatte, handelte es sich um ein sehr exklusives Etablissement, in dem nur die besten Kreise verkehrten. Es gab keine Zimmer, sondern nur Suiten.
Als die Kutsche vor dem eleganten Gebäude in der Brook Street anhielt und er Clarice ins Innere geleitete, wurde sofort anhand des zurückhaltenden, aber dienstbeflissenen Willkommensgrußes klar, dass man sie kannte und sie ein gern gesehener Gast war.
»Wir haben Ihre gewohnten Räume für Sie hergerichtet, Mylady.« Der adrette Empfangschef überließ seinen Schreibtisch einem Untergebenen und kam, um Clarice höchstpersönlich nach oben zu bringen. »Natürlich sind meine Leute und ich überglücklich, wenn wir Ihnen während Ihres Aufenthaltes mit irgendetwas behilflich sein können.«
Sie gingen die Treppe, so breit und prunkvoll wie in einem herzoglichen Stadtpalais, nach oben und zu einer Tür, die von dem prächtigen Korridor abging. Der Empfangschef steckte einen Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür weit. Er verneigte sich und ließ Clarice eintreten.
Jack, der dicht hinter ihr gewesen war, blieb stehen und schaute sich um, bemerkte eine schmale Treppe am Ende des Flures. Sein Blick kehrte zu dem Hotelangestellten zurück, dessen Gesicht ausdruckslos war; die Leute vom Benedict’s wussten, wer ihren Lohn zahlte. Mit einem leichten Lächeln neigte Jack den Kopf und ging an dem Empfangschef vorbei ins Zimmer.
Es war eine luxuriöse Suite, das erste Zimmer ein großzügig geschnittener und elegant eingerichteter Salon; unter einem Bogen hindurch gelangte man zum Schlafzimmer. Ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen hing an der Wand über dem marmornen Kaminsims, vergoldete Kerzenhalter in der Gestalt von Cupidos waren an den Wänden angebracht. Trotz des edlen Bezugs wirkten die Polsterstühle und die Chaiselongue überaus bequem und einladend; alle Holzflächen schimmerten wie frisch poliert. Zwei bodenlange Fenster gingen auf die Brook Street hinaus. Jack durchquerte den Salon, um hinauszuschauen, während Clarice ins Schlafzimmer ging und die Lakaien anwies, wo sie ihre Truhe abladen sollten.
Wie jeder gut ausgebildete Butler scheuchte der Empfangschef die Lakaien nach draußen, verneigte sich und ging. Jack drehte sich um, als Clarice sich neben ihn stellte. Sie sah ihm ins Gesicht und dann auf die Straße.
»Und, wie geht es weiter?«
Er folgte ihrem Blick; es war mitten am Nachmittag, und in der Brook Street herrschte lebhafter Verkehr, vor allem Kutschen waren zu sehen, die ihre eleganten Gäste von einem Nachmittagstee zum nächsten transportierten.
»Heute können wir nicht mehr viel ausrichten. Es sei denn, du möchtest deine Familie aufsuchen?«
»Später Nachmittag ist schwerlich ein günstiger Zeitpunkt, nicht mitten in der Saison. Alle werden damit beschäftigt sein, sich für die Gesellschaftsveranstaltungen am Abend fertig zu machen.«
Er nickte.
»Ich hoffe auf baldige Nachricht von meinem ehemaligen Kommandanten. Ich habe ihm gesagt, ich sei ab heute im Club zu finden. Ich sollte dort sein, falls er mich zu erreichen versucht.« Er würde auch Deverell sehen und ihm sagen, dass seine Dienste unter Umständen gebraucht werden würden.
Clarice blickte ihn wieder an.
»Vielleicht wäre es am besten, früh zu Bett zu gehen, damit wir morgen früh ausgeruht und erfrischt mit unserer Kampagne beginnen können.«
Er studierte ihre dunklen Augen, fragte sich, ob sie wie er über Möglichkeiten und Wege nachdachte, wie … aber er musste sich erst mit dem Terrain vertraut machen, Erkundigungen einziehen und sich vergewissern, dass er ungesehen in ihre Suite gelangen und später ebenso unbemerkt wieder verschwinden konnte – er wollte keinesfalls einen Skandal riskieren. Auch wenn es so aussah, als sei der Empfangschef des Hotels überaus entgegenkommend. »Das wird vermutlich das Beste sein.«
»Gut.« Sie zögerte, dann legte sie ihm eine Hand auf die Brust und reckte sich. Sie hatte ihn eigentlich auf die Wange küssen wollen, aber er wandte den Kopf, sodass ihre Lippen sich trafen.
Seine Arme glitten um sie; er zog sie an sich und ließ den Kuss in die heiße Sinnlichkeit abgleiten, die sie beide ersehnten. Als er den Kopf schließlich wieder hob, atmeten sie beide schneller. Ihre Augen waren dunkler, aus ihnen leuchtete Leidenschaft, als sie sich zurücklehnte und sich aus seinen Armen befreite.
»Ich werde …« Zu seinem Entzücken musste sie mehrmals blinzeln und sich sichtlich zusammenreißen, um einen klaren Gedanken fassen zu können. »Ich werde morgen früh meinen Bruder aufsuchen. Am besten, ich erwische ihn, bevor er ausgeht.«
»Ich werde mittags hier vorsprechen. Dann können wir gemeinsam durchgehen, was wir erreicht und erfahren haben, und das weitere Vorgehen beim Lunch planen.«
Sie nickte und lächelte leise.
»Bis morgen dann.«
Er machte einen Schritt zurück, verbeugte sich mit einer eleganten Bewegung und ging, solange er noch imstande war.
Er folgte der Galerie und nahm die Seitentreppe nach unten, fand bestätigt, dass sie in ein schmales Foyer führte, von dem aus man auf eine schmale Seitenstraße gelangte. Er überprüfte das Schloss. Es stellte kein ernsthaftes Hindernis für ihn dar. Die Hände in die Taschen seines Überrockes gesteckt, ging er durch den Korridor im Erdgeschoss und prägte sich den Grundriss des Gebäudes ein. Dann verließ er das Hotel durch den Vordereingang, nickte dem Empfangschef zu, als er an seinem Schreibtisch vorbeikam.
Das Benedict’s war in der Tat ein ausgezeichnetes Hotel.
Auf dem Gehsteig angekommen blieb Jack stehen und überlegte. Er hatte keine Zweifel daran, dass Dalziel die Ereignisse bis zum jetzigen Zeitpunkt so deuten würde wie er. Sein ehemaliger Vorgesetzter würde sich mit ihm in Verbindung setzen, sobald es machbar war. Er musste nicht versuchen, ihn zu finden. Allerdings wäre es angeraten, dem Bischof von London seine Aufwartung zu machen, das würde jedoch notwendigerweise warten müssen, bis Dalziel und Jack die Angelegenheit durchgesprochen hatten. Es gab wenig, was er bis dahin tun konnte.
Er runzelte die Stirn und fühlte das Pochen, das sich in seinem Kopf immer deutlicher bemerkbar machte. Entschlossen hatte er es die vergangene Stunde ignoriert. Die Erfahrung sagte ihm, es würde nicht von allein verschwinden, höchstens schlimmer werden. Was ihn am meisten störte, war, dass das Pochen seit Wochen nicht mehr so heftig gewesen war.
Pringles Praxis lag in der Wigmore Street, nur zwei Straßen weiter. Jack lenkte seine Schritte in diese Richtung. Um diese Uhrzeit wäre der Arzt sicher dort anzutreffen. Er konnte ein wenig Beruhigung gut gebrauchen.
»Sie haben ausgezeichnete Fortschritte gemacht!« Pringle wandte sich von Jack ab, der auf der Ecke des Behandlungstisches saß und als Folge des Magnesiumblitzes, den der Arzt verwendet hatte, um seine Pupillen zu überprüfen, immer noch wie ein Uhu blinzelte.
»Ich bin ehrlich beeindruckt.« Pringle begann die verschiedenen Werkzeuge wegzuräumen, mit denen er Jacks Reflexe überprüft hatte. »Was auch immer Sie getan haben, es war genau das Richtige. Ich hätte nie gedacht, dass es Ihnen so schnell so viel besser gehen könnte. Wie lange ist es her? Etwas mehr als zwei Wochen?«
Jack nickte und rieb sich die Schläfen.
»Aber es ist zurück. Warum?«
»Sie sind gerade erst in der Stadt angekommen. Sind Sie geritten?«
Jack schüttelte den Kopf.
»In der Kutsche gefahren. Ich bin zwei Tage unterwegs gewesen.«
»Nun, da haben Sie es.« Pringle fing an, andere Geräte zu polieren. Er hatte Jack sofort untersucht, nachdem sein letzter Patient gegangen war. »Das Gerüttel und Geschaukel in einer Kutsche auf einer so langen Strecke würde jedem Kopfschmerzen bereiten – und in Ihrem Fall unerträgliche. Warten Sie, bis Sie sich restlos erholt haben. Um den Schmerz zu lindern, schlage ich Ihnen vor, dass Sie genau das tun, was Sie in der letzten Zeit getan haben. Es ist klar, dass es Ihnen hilft.«
Jack runzelte die Stirn stärker.
»Ich habe nichts getan – wenigstens nichts Medizinisches. Jedenfalls weiß ich von nichts.«
»Ah, ja.« Pringle betrachtete das Skalpell aus schmalen Augen, dann polierte er es heftiger. »Glauben Sie mir, Sie haben eindeutig etwas ›Medizinisches‹ getan, aber ich pflichte Ihnen bei, dass Sie vielleicht nicht bemerkt haben, wie heilsam bestimmte Betätigungen sein können. Da wären beispielsweise türkische Bäder oder bestimmte Kräuterabreibungen oder sogar bestimmte Duftstoffe oder Parfüms, obwohl Sie letztere vermutlich nicht verwendet haben.« Mit einem Grinsen fuhr Pringle fort, verschiedene Gewohnheiten aufzuzählen, von denen man wusste, dass sie Kopfschmerzen lindern konnten.
Jack hörte ihm zu, schloss eine ganze Reihe davon aus; die meisten klangen in seinem Fall so wahrscheinlich wie Parfüm.
Bis Pringle seine Auflistung unbekümmert mit der Äußerung schloss: »Und dann gibt es auch noch die bewährte Therapie, sexuelle Betätigung.«
Jack blinzelte. »Das funktioniert?«
»Eine uralte Arznei; es funktioniert nicht bei allen Arten von Kopfschmerzen, und am besten wendet man sie an, bevor die Schmerzen beginnen. Ich glaube, es wirkt als eine Art Mechanismus, Anspannung abzubauen.«
Jack dachte rasch zurück, ging seine Zusammenkünfte mit Boudicca durch und verglich sie mit dem in letzter Zeit auffälligen Ausbleiben seiner Schmerzen.
»Faszinierend.« Er erkannte, dass Pringle ihn beobachtete, ein belustigtes Funkeln in den Augen. Jack grinste. Er richtete sich auf und verließ den Behandlungstisch, verzog das Gesicht, als sein Kopf die Bewegung mit einem heftigeren Pochen quittierte. »Danke.« Er reichte dem Arzt die Hand. »Für den ausgezeichneten Rat.«
Pringle erwiderte das Grinsen und schüttelte Jack die Hand. »Ein paar Wochen mehr Ruhe und mehr von Ihrer großartigen Arznei, und ich sage voraus, dass Ihre Kopfschmerzen der Vergangenheit angehören werden.«
Jack verließ die Praxis und schlug den Weg zum Montrose Place ein. Da ihm heute Abend die bewährte Medizin nicht zur Verfügung stand, würde er sich mit frischer Luft behelfen müssen. Er wunderte sich, was Clarice wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass ihre nächtlichen Treffen als medizinische Anwendung zählten.
Der Gedanke an ihre Reaktion brachte ein Lächeln auf sein Gesicht und ließ ihn für die kurze Zeitspanne, die er benötigte, um den Club zu erreichen, seinen schmerzenden Kopf vergessen.
Am frühen Abend kehrten die Kopfschmerzen mit Macht zurück. Er wehrte sich nicht gegen die heftigen Schmerzen und die Übelkeit, die jede Bewegung mit sich brachte, und die Qualen, die er litt, wann immer er zu denken versuchte, sondern zog sich auf sein Zimmer zurück. Jack ging zu Bett, noch bevor Deverell zurückkehrte.
Es war wichtiger, dass er morgen früh wach und einsatzfähig war; sich mit Deverell zu beraten konnte warten. Als Jack unter die kühlen Laken kroch und seinen Kopf auf das Kissen legte, betete er, dass Dalziel ihn nicht ausgerechnet heute Abend sehen wollte.
Das wollte er nicht. Aber er erschien am nächsten Morgen, bevor Jack Gelegenheit hatte, etwas zu frühstücken. Trotz des bequemen Bettes und bester Absichten hatte er nicht gut geschlafen, aber wenigstens waren seine Kopfschmerzen auf ein Maß reduziert, dass er zuhören und sprechen konnte. Leise vor sich hin schimpfend, weil es nicht einmal neun Uhr war, folgte Jack Gasthorpe nach unten. Gasthorpe hatte den anstrengenden Gast in die Bibliothek geführt. Jack blieb stehen und betrachtete die Tür.
»Bringen Sie Kaffee. So rasch wie möglich, bitte.«
Gasthorpe verneigte sich.
»Sofort, Mylord.«
Jack öffnete die Tür und ging hinein. Er ließ sich einen Moment Zeit, um die hochgewachsene Gestalt vor den bodenlangen Fenstern, die auf den Garten hinter dem Haus hinausgingen, zu mustern. Dalziel – seinen wirklichen Namen mussten sie erst noch herausfinden – hatte viele Eigenschaften mit den Männern gemein, die er befehligt hatte. Er war etwa so groß wie Jack und ähnlich gebaut, allerdings schlanker. Sein Knochenbau war feiner, seine Züge waren edler und auch strenger – aber mehr unterschied ihn rein körperlich nicht von seinen Männern. Was die Gefährlichkeit jedoch anging, da übertraf Dalziel sie alle. In seiner Gegenwart war jeder, der auch nur das geringste Gespür für Gefahr hatte, unweigerlich aufs Höchste alarmiert.
Jack ließ die Türklinke los und das Schloss einschnappen, sah, wie Dalziel sich umdrehte und ihn anschaute. Als hätte er bis dahin keine Ahnung von Jacks Anwesenheit gehabt.
Innerlich musste Jack grinsen. Dalziel war der gefährlichste Mann, den er je getroffen hatte. Sein ehemaliger Kommandant war das ultimative Beispiel für einen der räuberischen Kriegerfürsten, die die Normannen überall in England verstreut zurückgelassen hatten.
»Guten Morgen. Ich frage nicht, was Sie hergebracht hat.« Jack winkte Dalziel zu einem Lehnstuhl und ließ sich in das Gegenstück sinken, darum bemüht, jeden Hinweis auf seine Kopfschmerzen zu überspielen.
»Allerdings.« Dalziels Tonfall verriet, dass er nicht im Geringsten glücklich über die ganze Angelegenheit war. Seine dunklen Augen ruhten prüfend auf Jacks Gesicht. »Ich fürchte, dass Ihr Freund James Altwood völlig unschuldig in einen Plan verwickelt wurde, um mich in Misskredit zu bringen.«
»Sie?« Jack runzelte die Stirn. Typisch Dalziel, es wäre Zeitverschwendung, diese Behauptung zu hinterfragen. »Was für ein Plan? Und wie kommt es, dass James darin verwickelt ist?«
Dalziel legte die gespreizten Finger aneinander; sein Blick war auf irgendetwas oberhalb von Jacks Schulter gerichtet. »Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nur spekulieren, aber ich kann mir vorstellen, dass es einen Zusammenhang geben könnte, dass ich, wie Sie und die anderen Mitglieder wissen, nach dem letzten unentdeckten Verräter suche. Er zeigt keine Reue und verkehrt unbehelligt in den höheren Kreisen der Macht.«
Ein Klopfen kündigte Gasthorpe an, der ein Tablett trug.
Dalziel wartete, bis der Kaffee eingeschenkt und Gasthorpe wieder gegangen war, dann sah er Jack an. »Über was für Beziehungen dieser Mann genau verfügt und welche Art von Macht er ausübt, Geld, Status oder Regierungsgewalt, weiß ich nicht. Allerdings bin ich in den vergangenen Jahren über zu viele Unstimmigkeiten gestolpert, um daran zu zweifeln, dass es ihn gibt. Leider ist das bis heute alles, was ich habe: einen Verdacht.«
Jack kniff die Augen zusammen und trank von seinem Kaffee. »Also glauben Sie, dieser Plan ist entstanden, weil er, wer auch immer es ist, es nicht schätzt, dass Sie einen derartigen Verdacht hegen?«
Dalziel nickte.
»Eine passende Umschreibung.«
»Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dieser Plan von Ihrer Seite aus nur eine Vermutung?«
Dalziels Lippen verzogen sich zu einem selbstironischen Lächeln.
»Genau. Meiner Ansicht nach wusste der Verräter, dass ich immer noch nach ihm suche, und er hat versucht, mir einen Sündenbock zu liefern, den ich beseitige, und somit wäre meine Arbeit getan.«
»Und dann würden Sie sich aus dem aktiven Dienst zurückziehen?«
Dalziel nickte.
»Für uns alle ist der Krieg vorüber, und es wird Zeit, dass wir in das zivile Leben, zu unseren Pflichten, zurückkehren. Dieser Verräter denkt, er könne mich beschwichtigen, indem er mir an seiner Stelle ein anderes Opfer vorsetzt.«
»Also hat er sich nach einem passenden Sündenbock umgesehen… und ist auf James gestoßen.« Jack erkannte sogleich, warum er James ausgesucht hatte.
»Ja. James Altwood war eine überaus gerissene Wahl. Er hatte Zugriff auf Informationen, sammelte und studierte sie, die auch für das Militär interessant waren, und für die Napoleon und seine Generäle einen hohen Preis gezahlt hätten. Ich habe bislang noch nicht die Beweise für die Vorwürfe gesehen, da, wie wir beide wissen«, Dalziel lächelte Jack an, ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte, »James Altwood kein Verräter ist.«
Dalziel schwieg für einen Moment und fuhr fort: »Ich habe nie gefragt, ob Sie entgegen meiner Anordnung Altwood in Ihre Aufgabe eingeweiht haben, aber als Ihr Vater starb und Altwood geradewegs zu mir kam, um Ihnen die Nachricht zu übermitteln, war klar, dass er so viel wusste, um, wenn er ein Spion wäre, für Ihr Verschwinden zu sorgen.« Er zuckte die Achseln. »Da Sie hier sitzen, gesund und munter, ist Altwood kein Verräter, besonders unter Berücksichtigung Ihrer Überwachung von Elba. Von all meinen Agenten waren Sie derjenige, den Napoleon als Ersten hätte ausschalten müssen, als er seine Rückkehr plante. Sie sind aber noch am Leben, weil sie nie gewusst haben, dass es Sie überhaupt gab, und James Altwood kein Verräter ist. Kein Verräter, egal, wie sehr er Sie schätzte, hätte es unter diesen Umständen unterlassen, auf Sie aufmerksam zu machen. Vermögen sind schon mit weniger errungen worden.«
Dalziel stellte seine Tasse ab. »Das allerdings waren wichtige Fakten, die der wahre Schuldige nicht kannte. Er hat Altwood gefunden und sein Potenzial ausgemacht. Eine Anklage wegen Hochverrats gegen ihn würde viel Aufsehen erregen. Und es gäbe noch mehr Aufsehen, wenn die Anklage sich als haltlos erwiese. Man kann sich mühelos ausmalen, in was für einem Licht das denjenigen dastehen lassen würde, der so unklug war, diese Anklage gegen Altwood voranzutreiben.«
»Sie.« Mit immer noch schmalen Augen verfolgte Jack diese Argumentation im Geiste weiter. »Der echte Verräter hat geglaubt, Sie würden sich auf James stürzen, ihn an der Kehle packen und vor Gericht schleifen und …«
»Sobald der Fall gescheitert ist – und der wahre Verräter wird sicherstellen, dass dies passiert und so viel Staub wie möglich aufgewirbelt wird –, dann würden alle zukünftigen Anklagen, die ich gegen jemanden erhebe, nicht nur nutzlos, sondern geradewegs lachhaft erscheinen.«
»Im Grunde genommen wird er Sie sehr wirkungsvoll ausschalten, wenigstens im Hinblick darauf, Verräter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.«
»Genau.« Dalziel runzelte die Stirn. »Bevor wir zu weit vorausgreifen, für nichts von dem, was ich Ihnen gerade erzählt habe, gibt es Beweise. Was James Altwoods angebliche Weitergabe von Geheimnissen an die Franzosen angeht, kann ich bestätigen, dass es keinen Anhaltspunkt für solch einen Verdacht gibt, nur der Umstand, dass Altwood Zugriff auf heikle Informationen hatte und die Fähigkeit, sie zu verstehen.«
Dalziel sah Jack in die Augen. »Das ist freilich vielen bekannt. Oberflächlich betrachtet, scheint diese Anklage gegen Altwood aus kleinlicher Eifersucht entstanden zu sein oder dem Wunsch, Unruhe zu stiften. Das alles ist vielleicht gar nicht gegen Altwood gerichtet, sondern gegen seine Vorgesetzten oder Kirchengelehrte ganz allgemein. Es gibt an und für sich keinen Grund für die Annahme, dass die ganze Sache der Plan eines Verräters ist, aber meine Instinkte sagen mir, dass es einfach zu gut passt, wenn ausgerechnet Altwood davon betroffen ist. Er ist nicht nur ein angesehener Gelehrter, seit Langem ein Fellow des Balliol College, sondern auch ein der Kirche angehörender Wissenschaftler, der das Ansehen des Bischofs und der Kirchenoberen genießt. Schlimm genug, wenn ich mit hineingezogen werde, aber zusätzlich ist er ein Altwood, wenn auch so etwas wie ein schwarzes Schaf. Das ist aber unerheblich. Für die gute Gesellschaft und die Regierung ist er dennoch ein Altwood. Wenn die Familie ihm hilft, womit ich fest rechne, dann wird jeder, der gegen ihn ermitteln will, einen sehr hässlichen Kampf auszufechten haben.«
Dem konnte Jack nur zustimmen. Die kaltblütige Absicht, die hinter diesem Plan steckte, wenn er denn wirklich von dem letzten noch unentdeckten Verräter stammte, war außergewöhnlich. Tony Blake und Charles Austell hatten die anderen Mitglieder des Bastion Club darüber unterrichtet, dass Dalziel weiter nach einem Verräter suchte, der sich geschickt verbarg. Man konnte so eine übertriebene Hartnäckigkeit auch als Besessenheit auslegen; aber Jack und die anderen Clubmitglieder taten das nicht. Sie kannten Dalziel, seine Instinkte, seine Gabe, Informationen auszuwerten. Wenn Dalziel glaubte, ein Verräter liefe noch frei herum, dann stützten sie seine Einschätzung.
»Also können die Vorwürfe gegen James der Plan eines Verräters sein, Ihre Glaubwürdigkeit zu untergraben, oder aber die Rache eines eifersüchtigen Rivalen, was weniger gefährlich wäre.«
Dalziel nickte und schaute Jack an.
»Gibt es einen Rivalen?«
Jack schnitt eine Grimasse.
»Es sieht wenigstens so aus. Er ist derjenige, der dem Bischof von den Vorwürfen berichtet hat. Und er ist James mehrmals unterlegen gewesen, was den wissenschaftlichen Erfolg und akademische Würden angeht.«
»Das würde ihn zu einem ausgezeichneten Bauernopfer für den wahren Verräter machen«, stellte Daziel fest.
Jack nickte. »Er steht ganz oben auf meiner Liste mit Leuten, die ich befragen möchte.« Er schaute Dalziel an und hob fragend eine Braue.
Dalziel seufzte.
»Ja, ich sehe, dass Ihre Anwesenheit hier ein Segen ist – ohne Ihre Verbindung zu Altwood könnte ich nicht direkt ermitteln. Daher tun Sie bitte, was Sie nicht lassen können, und stochern Sie ein wenig in der Sache herum. Stellen Sie Fragen und holen Sie Erkundigungen ein und was immer nötig ist, um die Anklage gegen Altwood zu entkräften. Halten Sie mich auf dem Laufenden über alles, was Sie herausfinden.«
»Und im Gegenzug?« Jack brauchte Dalziel, um ihm Türen zu öffnen, allerdings hatte er keine Ahnung, zu welchen Türen sein ehemaliger Vorgesetzter den Schlüssel besaß.
»Im Gegenzug werde ich Sie über alles unterrichten, was in dieser Angelegenheit über meinen Schreibtisch wandert. Und zusätzlich werde ich dem Bischof von London schreiben und ihn über zwei Sachen in Kenntnis setzen. Erstens, dass ich, nachdem ich von den Vorwürfen gehört habe und es zu einer Verhandlung kommen soll, mich näher damit befasst habe und keine Beweise dafür entdecken konnte, dass James Altwood Geheimnisse an den Feind verkauft hat. Natürlich wird Seine Lordschaft sich selbst eine Meinung bilden, basierend auf den Fakten, die ihm vorgelegt werden.« Dalziel erwiderte Jacks Blick. »Ich kann keine Erklärung abgeben, die den Verdacht erweckt, ich wollte der Kirche vorgreifen.«
Jack nickte.
»Und zweitens werde ich dem Bischof mitteilen, dass Sie ein Agent der Regierung sind, der über Erfahrung in solchen Dingen verfügt. Und dass Sie trotz Ihrer Verbindung zu Altwood ebenso vertrauenswürdig sind wie ich.«
Jack ließ sich seine Überraschung anmerken. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Dalziel die Türen des Lambeth-Palastes für ihn öffnen würde. Dass er das konnte, bestätigte nur die schon lange gehegte Vermutung, dass er ein Mitglied einer alteingesessenen Familie war, deren Beziehungen sich wie ein Netz durch die regierende Elite des Landes zogen.
Jack schaute Dalziel wieder an und sah die Belustigung in seinen dunklen Augen. Augen, das einem anderen Paar ähnelten, das er mittlerweile sehr gut kannte.
Dalziel erhob sich.
»Ich nehme an, das wird ausreichen?«
»Allerdings. Für den Moment wenigstens.« Jack stand auf und hielt ihm die Hand hin.
Dalziel ergriff sie. Dann ließ er sie los und drehte sich zur Tür um.
»Wenn Sie herausfinden können, wer sich hinter den Vorwürfen gegen James Altwood verbirgt, stehen das Land und ich erneut in Ihrer Schuld.« An der Tür blieb er stehen und sah Jack noch einmal an. »Und die Altwoods natürlich auch.«
Die leuchtende Intelligenz in Dalziels Augen verriet Jack, dass Daziel genau wusste, was er von den Altwoods als Ausgleich ihrer Schuld verlangen würde. Dalziel wusste nämlich über seine Beziehung zu Clarice Bescheid. Nur, wie viel und woher, würde wie immer ein Rätsel bleiben.
Resigniert lächelte Jack und griff nach dem Türknauf. Aber die Tür öffnete sich, bevor er ihn zu fassen bekam.
Gasthorpe stand draußen. Als er sie beide sah, machte er einen Schritt zurück. Er blickte Jack an:
»Ein… Eine Person wünscht Sie zu sprechen, Mylord. Sie wartet im Salon.«
Jack wusste sofort, wer gekommen war. Dalziel hingegen nicht, der nicht ahnen konnte, dass der Salon, der kleine Raum neben dem Eingang, dafür reserviert war, Damen zu empfangen.
Lächelnd nickte Jack.
»Ich bringe Mr. Dalziel hinaus, dann sehe ich nach meinem Besuch.«
Mit einem Winken gab er Dalziel zu verstehen, über die Treppe vorauszugehen. Er folgte ihm ohne Eile und sah daher zu spät, dass die Tür zum Salon offen stand. Gasthorpe hatte sie sicher nicht aufgelassen, aber wenn man wusste, wer dort in dem Zimmer wartete, war es nicht schwer, sich vorzustellen, warum sie nicht geschlossen war.
Ohne etwas zu bemerken, durchquerte Dalziel vor ihm die Eingangshalle, und diejenige im Zimmer erhaschte einen Blick auf sein Gesicht.
Das, überlegte Jack, versprach interessant zu werden.